Von Helga  Rougui

 

Er wußte, jetzt war es wieder Zeit, die Richtung zu ändern und nach oben zu graben. Seine spitze Nase lockerte die Erde, die er mit stetigen Schwimmbewegungen seiner rosa Pfotenschaufeln nach vorne beförderte. Es ging aufwärts, er merkte das an der Krume, die mehr als sonst sauerstoffgetränkt war und ihn in einen leichten Rauschzustand versetzte.

 

Der Durchbruch erfolgte plötzlich und unvermutet.

Gerade dachte er noch, daß er eine Pause einlegen könnte, um die eben freigekratzten Engerlinge zu verzehren, als die Decke einstürzte und er mit der Nase ins Leere fuhr. Das milde Licht der Abendsonne umgab ihn, das er mit seinen blinden Augen nur als diffusen Widerschein wahrnahm. Die Luft, eine milde herrliche Frühlingsluft, genoß er jedoch in vollen Zügen – kein Vergleich zu den dumpf und abgestanden unbelüfteten Gängen seiner verzweigten Behausung.

Das war es wahrhaftig wert – aus der alltäglichen Routine auszubrechen und sich neue Horizonte zu erobern.

 

Plötzlich fühlte er sich von scharfen Krallen gepackt, mit einem Plopp verließ er das schützende Erdreich, ein Windstoß fuhr ihm zärtlich durchs Fell und pustete die letzten Krümel weg. Er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, was ihm da widerfuhr, weil er vor Angst in Ohnmacht fiel.

 

***

 

guter fang dieser säuger guter fang – große freude für die kleinen – muß ihn lebend bringen – kleine brut soll töten üben – guter fang guter fang

 

Solcherart spulten sich die Gedankensplitter im Hirn des Mäusebussards ab, in dessen Fängen der Maulwurf seinen ersten und letzten Flug antrat. Sein Leben lang hatte er, anders als seine Brüder, gehofft, andere Dimensionen des Daseins kennenzulernen, und nun war er mittendrin und doch nicht dabei.

Er hatte immer geahnt, daß er zu Großem berufen war – sollte nun der Höhenflug seines bald beendeten Lebens so ganz unspektakulär in den Wolken – bzw in den Mägen der Jungbussarde – verdampfen?

 

Der Bussard hatte sich in seinem winzigkleinen Vogelhirn inzwischen auf drei wesentliche Punkte konzentriert – die Beute nicht loslassen, unbeschadet den Stadtrand überqueren und seinen Horst vor Einbruch der Dunkelheit erreichen.

Er packte den erbeuteten Fellball fester und riskierte einen Blick nach unten.

In einem der Gärten löste sich gerade ein eigenartiger länglicher Gegenstand aus einer Halterung, schoß pfeilschnell in die Luft und explodierte in tausend regenbogenfarbigen Lichttröpfchen genau vor den Augen des Vogels – der vor Schreck den eisernen Griff seiner Klauen lockerte. Ebenso pfeilschnell wie die Rakete hochgeschossen war, schoß der Maulwurf, gnädigerweise immer noch bewußtlos, ohne irgendwo anzuhalten nach unten, dem Haus, in dem die Gartenparty stattfand, entgegen.

 

***

 

Reginald „Raggy“ Robbitson – mit bürgerlichem Namen Hans-Otto Schwalenmeyyer mit zwei Ypsilon – hatte seiner Gartenparty mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Aber nun war sie in vollem Gange, die Gäste waren erschienen, was angesichts seiner gegenwärtigen Situation durchaus nicht sicher gewesen war, der Champagner floß in Strömen – wenn die Lieferanten erst raushatten, daß er sie nicht mehr bezahlen konnte, dürfte es wohl der letzte für lange Zeit gewesen sein.

Weder die Gäste noch die Lieferanten und auch sonst keiner seiner Freunde und Feinde ahnten, wie verzweifelt seine Lage war.

Seit Monaten keine Idee, nicht der Widerschein einer solchen. Schon seine jüngste Installation hatte er mit Mühe buchstäblich zusammengekratzt, und nur sein tadelloser Ruf als beinahe international führender Künstler hatte verschleiert, daß seine Ära zu Ende ging. Leergesogen von seinen Musen, zu viel Alkohol, zu viele dumme Schmeichler, die ihm seine oft nicht ernst gemeinten skurrilen Objekte kritiklos bewundernd aus dem Fingern gerissen hatten. Und jetzt mußte dringend etwas Neues her, sonst wäre er binnen kurzem für die Öffentlichkeit mausetot.

Also hatte er vollmundig angekündigt, daß heute im Lauf der Party ein ganz besonderer spektakulärer Akt – die ultimative Kunstaktion des Jahres – stattfinden würde, und der Haufen neugieriger Sensationsschmarotzer, der da draußen seinen Schampus soff, war auch prompt erschienen, bereit, ihn in der Luft zu zerreißen, sollte er es wagen, sie zu enttäuschen.

Schlimm war allerdings, daß eine sehr wichtige Persönlichkeit noch nicht erschienen war –  der Kunstsammler und sein bester Kunde, der alle Fäden hinter den Kulissen zog und ohne den nichts ging in der Metropole, an deren Rand er sein Anwesen gebaut hatte.

Würde er noch kommen?

Wenn nicht, würden die anderen feststellen, daß er nicht gekommen war, und nach und nach verschwinden?

Er schaute sich noch einmal um in seinem Atelier. Eine riesige weiße Leinwand lag in der Mitte des Raumes auf dem Boden. Irgendwie hatte er vorgehabt, einmal wieder zu konventionelleren Materialien wie Farben und Stoffetzen zurückzukehren – diese ewigen Müllinstallationen stanken ihm inzwischen gewaltig.

Aber die Leinwand war leer und unbefleckt, und der Mond schaute durch das Glasdach des Ateliers müde auf die Anordnung und war auch keine große Hilfe.

Nun, er mußte zur Party und zu seinen Gästen zurück und konnte nur hoffen, daß Herr von Schimmelpfennig noch eintraf, und bis dahin brauchte es eine Ablenkung.

 

Er gab dem Butler Bescheid, das Feuerwerk in Gang zu bringen.

 

Die Gäste waren im Garten versammelt, und unter vielen Ahs und Ohs schossen nacheinander verschiedene japanische Raketen und Feuerwerke in den bläulichen Abendhimmel.

Alle schauten und bestaunten die überwältigenden Farbenkaskaden und Glitzerfontänen.

 

Gänzlich unbemerkt von den Zuschauern machte sich ein Fellknäuel hoch in den Lüften selbständig, während ein Raubvogel panisch davonschoß. Der Maulwurf sauste dem Erdboden entgegen, nahm Fahrt auf und durchschlug mit voller Wucht das Glasdach des Ateliers. Er zerplatzte in der Mitte der strahlendweißen Leinwand zu einem mächtigen blutroten Spritzer, von Scherben umrieselt.

Alle hörten das Splittern des Glases. Alle erstarrten und sahen den Hausherrn an.

Geistesgegenwärtig und völlig ahnungslos, was passiert war, verkündete dieser:

„Meine Freunde, die Aktion ist gelungen, minutiöse Planung und planloses Genie haben zu dieser meiner neuesten Kreation geführt, die Sie umgehend besichtigen können. Folgen Sie mir ins Atelier.“

 

„Was für ein Timing“, flüsterten die einen, während sie die Leinwand mit der grellroten glasgespickten Masse bewunderten, „er zerstört sogar sein eigenes Haus für seine Kunst.“

Und andere: „Dieser Maulwurf – es war doch mal ein Maulwurf? – ist ein großer Wurf. Der Durchbruch durchs Glasdach ist ein echter Durchbruch – für die Kunst. Faszinierende Anordnung …“

Eine Dame merkte an: „… das Tier auf der Leinwand sieht täuschend echt aus – es scheint, die Anorganische Phase des Künstlers ist beendet und nun kommen die Tage der Organischen Phase …“

Schnell sicherte sie die Bemerkung in ihrem Sprachmemo auf dem Smartphone. Daraus würde sich eine prima Schlagzeile basteln lassen.

 

 

***

 

Reginald ließ an entlegener Stelle auf seinem Besitztum einen Turm errichten, bestellte unter falschem Namen eine Menge diverser Kleintiere und machte sich an die Arbeit, nur daß er nicht mehr darauf wartete, daß der Zufall ihm zu Hilfe käme.

Er übernahm selbst die Rolle des Raubvogels. Nach jeweils unter strengster Geheimhaltung durchgeführten Phasen künstlerischen Schlachtens, pardon, Schaffens tauchte er mit einem neuen Zyklus dick mit Plastikmasse überzogener Bilder wieder auf, allesamt das erste Motiv variierend – eine Klage über die Zerstörung der Fauna dieser Welt durch die rücksichtslose Grausamkeit des Menschen der gebeutelten Tierwelt gegenüber.

Die engagierten Kunstliebhaber waren begeistert von den lebensecht wirkenden Motiven, sie verstanden und goutierten deren sozialkritische Botschaft – die Objekte von „Raggy“ verkauften sich wie warme Semmeln.

 

Leider konnte der Künstler den neuerworbenen Reichtum und die immense Berühmtheit in Künstler- und Schickimickikreisen nicht sehr lange genießen, da eine Kolonie wütender Holzwürmer die oberste Plattform seines Turms gründlich zerfraß und er, als er wieder einmal für künstlerischen Nachschub sorgen wollte, durch die morsche Decke brach, die sein Gewicht nicht mehr tragen konnte. Er landete, zerschmettert wie sein erster Maulwurf, auf der am Fuß des Turmes bereitgelegten Leinwand, Kunstwerk seiner selbst und Mahnung noch im Tod.

 

Ohne die Neugier des Insektenfressers, der unbedingt zum Licht hinaufgewollt hatte, wäre Reginald  (Hans-Otto) allerdings zwei Jahre später, verarmt und vergessen, an einem Blinddarmdurchbruch gestorben.

 

Das, dachte sich der Alte Strippenzieher, hätte ihm sicher noch weniger gefallen.