Von Florian Ehrhardt

Es ist Nacht. Mal wieder. Draußen ist es schon lange dunkel, aber an Schlaf ist nicht einmal ansatzweise zu denken. Kalter Regen prasselt gegen die Fensterscheiben. Der Ton ist dumpf und kaum hörbar, denn die Rollläden sind heruntergelassen. Doch trotzdem hallt jeder einzelne Tropfen kraftvoll in meinem Kopf wieder. In der Stille der Nacht sind die Regentropfen wie Paukenschläge, laut und unüberhörbar. Kein einziger Mensch könnte bei diesem Geräusch schlafen. Zumindest sage ich mir das, doch eigentlich weiß ich es ja doch besser. Ich weiß, dass viele Menschen bei Regen problemlos einschlafen können, für manche ist das stetige Prasseln in der Dunkelheit sogar beruhigend, vielleicht weil es sie an eine Zeit erinnert, in der sie gemütlich, ohne Pflichten und Sorgen im dunklen, warmen Bauch der Mutter saßen und von außen ebenfalls ein leises Rauschen und Prasseln zu hören war. Vielleicht aber auch, weil ihnen ihre Urinstinkte sagen, dass bei einem solchen Wetter keine wilden Monster oder Säbelzahntiger auf die Jagd gehen können, dass der Regen sie vor den Gefahren da draußen schützt. Doch ich bin keiner dieser Menschen. Jeder Tropfen bohrt sich in meinen Kopf und zerstört meine Bemühungen einzuschlafen aufs Neue. Früher konnte ich bei Regen auch gut einschlafen. Nun ist das Wetter da draußen eine wahre Qual für mich.

Doch eigentlich weiß ich, dass der Regen mit meinen Einschlafbemühungen nicht das Geringste zu tun hat. Ich drehe mich auf die Seite. Auf der Seite schläft man besser, sagt der Wissenschaftsteil meiner Fernsehzeitschrift. Vor einem Jahr hat er noch das Gegenteil behauptet. Für mich ist klar, dass ich nun sicher nicht mehr schlafen werde, denn in meinem Blickfeld findet sich nun der kleine, eckige Nachttisch aus Eichenholz. Auf dem Nachttisch liegt das Smartphone. Die ultimative Verbindung zu Außenwelt. Sagen alle. Doch wenn ich mich mit diesem Gerät verbinde, tauche ich doch eigentlich in eine Welt ein, die noch viel weniger mit der wirklichen Welt außerhalb dieses dunklen, stickigen Schlafzimmers zu tun hat. Und doch bleibt mein Blick an dem kleinen, schwarzen Rechteck hängen. Es scheint mich zu rufen. Der prasselnde Regen ist völlig vergessen. Die Tropfen sind keine Paukenschläge mehr, sondern nur noch kleine Geräusche in weiter Ferne. Waren sie das nicht immer? Der stille Ruf, der von meinem Smartphone auszugehen scheint, ist auf jeden Fall lauter als alle Geräusche von draußen. Ich widersetze mich dem Ruf und drehe mich wieder auf die andere Seite. Nun ist der Regen wieder unüberhörbar. Kalt und störend. Der Regen zwingt mich, mich noch einmal herumzudrehen. Und da liegt wieder das Smartphone. Kalt und abweisend, aber trotzdem fühle ich mich dazu gedrängt, das kleine Gerät einzuschalten. Neugier treibt mich an. Habe ich neue Nachrichten? Mitten in der Nacht eher unwahrscheinlich, doch wer weiß das schon.

Ich kann der Neugier nicht lange widerstehen. Mein Gesicht wird in grelles, weißes Licht getaucht. Ich kneife die Augen zusammen, doch es ist bereits zu spät. Das Licht scheint mein komplettes Sichtfeld zu verbrennen. Dann gewöhnt sich mein Sehorgan an die neue Umgebung. Und schon steht die nächste Enttäuschung bereit. Keine neuen Nachrichten. „Selbstverständlich nicht!“, sagt die tadelnde Stimme in meinem Kopf. Ich ignoriere sie. Auch den Wunsch, die erstbeste Pornowebsite aufzurufen, kann ich gerade noch so unterdrücken. Stattdessen starre ich nur das Hintergrundbild auf meinem Bildschirm an. Ich sehe mich selbst, wie ich vor den Niagarafällen stehe. Sonne und die Wassermassen lassen einen Regenbogen hinter meinem Rücken tanzen. Ein Schnappschuss, eine verblassende Erinnerung an bessere Zeiten. Ich starre immer noch auf das Bild. Die Sekunden verstreichen und scheinen zu Minuten und Stunden zu werden. Eine halbe Ewigkeit scheint es zu dauern, bis ich meine Augen endlich abwenden kann.

Ich lasse meinen Finger über dem Bildschirm kreisen und tippe dann auf das WhatsApp-Logo. Ich scrolle die Chatliste bis ganz unten durch. Dort ist der Chat, den ich eigentlich schon lange gelöscht haben sollte. Saskia Hebert. Neben ihrem Namen ist ein kleines Bild von ihrem wunderschönen Gesicht zu sehen. Wieder überlege ich lange, bis ich den Bildschirm antippe. Ich entscheide mich gegen das Löschen-Icon. Die Stimme der Vernunft brüllt mich nun an, dass ich einen riesigen Fehler begehe. Doch die Stimme der Vernunft ist mir mittlerweile – um ehrlich zu sein – komplett egal. Ich öffne den Chat mit Saskia. Mein Herz setzt kurz aus, als ich sehe, dass sie wohl auch nicht schlafen kann. Unter ihrem Namen lese ich zuletzt online vor 5 Minuten. Ich überfliege die letzten Nachrichten. Wie jede Nacht. Die letzte ist drei Jahre her. Sie hatte mich nach den Hausaufgaben gefragt. Doch die Schulzeit ist längst vorbei, eine Erinnerung, die – genau wie mein Besuch der Niagarafälle – einmal verblassen wird. Wieder wird mir klar, dass wir seit dem Abi auch nicht mehr miteinander gesprochen haben. Ich frage mich – mal wieder – auch, ob sie mich überhaupt noch kennt. Doch das alles ist mir jetzt alles endgültig egal. Ich habe schon viel zu lange gewartet. Sicherlich ist es schon zu spät. Aber besser spät als nie, wage ich zu hoffen. Die Stimme der Vernunft ist wieder da: „Ein dummes Sprichwort wird deine Chancen auch nicht erhöhen!“ Die Kritik bringt das Fass, welches ich seit Jahren mit Hoffnungen fülle, nun endgültig zum Überlaufen. Meine Finger sind nun schneller als die tadelnde Stimme in meinem Kopf reagieren kann, fast als ob sie ihr zeigen wollen, dass sie die Unwahrheit sagt. Die Nachricht schreibt sich wie von alleine. Ich brauche keine zwei Minuten um alles aufzuschreiben, was ich ihr sagen will. Ich schreibe fast einen ganzen Roman darüber, dass man große Chancen nicht verpassen darf, dass das Leben oft Umwege erfordert um zum Glück zu kommen, und schlussendlich, wie ich für sie empfinde. Ich traue mich nicht einmal mehr, die Nachricht auf Schreibfehler zu untersuchen, weil ich Angst habe, dadurch den Mut wieder zu verlieren und tippe direkt auf „Senden“.

Sofort beginne ich ein Brennen zu spüren, das von jeder Zelle in meinem Körper auszugehen scheint. In der Dunkelheit fehlt mir der Beweis, doch ich bin mir sicher, dass ich rot werde. Dann setzt mein Herz mindestens drei Schläge aus. Unter Saskias Namen steht nun online. Sie hat meine Nachricht gelesen. Ich werde schier verrückt. Dann verändert sich das, was unter dort steht noch einmal. Schreibt… steht nun da, wo gerade eben noch online stand. Doch meine Angst ist wie weggeblasen. Es interessiert mich nicht, was sie antworten wird. Viel wichtiger ist, dass ich ihr endlich meine Gefühle gebeichtet habe. Der Rest ist egal. Wichtig ist nur, dass sie es endlich weiß. Und das ich es los bin. Mit diesem Gedanken scheint sich eine große Müdigkeit über mich zu legen. Das Prasseln des Regens ist nun tatsächlich leise und beruhigend. Zum allerersten Mal seit langer Zeit höre ich die Tropfen nicht als donnernde Schüsse, sie scheinen meinen Kopf zu streicheln und lassen meine Augenlider schwer werden. Noch bevor Saskias Antwort bei mir ankommt bin ich eingeschlafen, ein glückseliges Lächeln umspielt meinen Mund.