Von Sarina Sützer
Werde Parkuhr, hatten sie gesagt, da bist du an der frischen Luft und triffst die tollsten Leute, hatten sie gesagt. Von wegen. Wenn die Sonne schien, brannte sie ihr aufs Haupt, wenn es regnete, stand sie tropfnass herum. Und was die tollen Leute betraf … Die meisten fluchten bei ihrem Anblick herzhaft. Jaqueline hatte ihren Job gründlich satt. Schluss damit, jetzt wollte sie ihren Traum verwirklichen. Und dieses Mal würde sie sich nicht aufhalten lassen. Von niemandem.
„Guten Tag“, sagte Jaqueline, „ich wollte meine Sachen abholen. Ich habe hier vor einiger Zeit eine Tasche vergessen. Sie ist doch noch da?“
Maître Jacques, der örtliche Friseur, nickte. Damals war Jaqueline zu ihm gekommen, weil sie zum Ballett wollte und dafür eine neue Frisur brauchte, und er hatte ihr erklärt, warum weder die Frisur, die ihr vorschwebte, noch der Plan, Ballett zu tanzen, das Richtige für sie waren. Tief enttäuscht hatte sie den Laden verlassen und ihre Tasche mit den Ballettsachen bei ihm zurückgelassen.
Er ging in den hinteren Raum und kam mit der Tasche zurück. „Wollen Sie die Sachen jetzt bei Ebay verkaufen?“
Jaqueline schüttelte den Kopf. „Ich brauche sie für meinen Ballettauftritt.“
„Aber …“ Das musste ein Déjà-vu sein. „Sie hatten doch … Sie wollten doch …“
„Danke fürs Aufbewahren“, sagte Jaqueline, nachdem sie einen kurzen Blick in die Tasche geworfen hatte.
„Was hat Thomas Wächter Ihnen jetzt wieder erzählt?“, fragte Maître Jacques konsterniert. Er würde mal ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Und das nicht nur deswegen, weil er Jaqueline ständig Flausen in den Kopf setzte, sondern auch, weil er ganztägig den Parkplatz vor dem Friseurladen blockierte. Mit den Knöllchen putzte er sich vermutlich den Hintern.
„Das hat gar nichts mit Herrn Wächter zu tun“, entgegnete Jaqueline. „Ich habe Gespräche geführt, und anscheinend bin ich nicht so ungeeignet, wie Sie mich glauben machen wollten. Jedenfalls habe ich einen Auftritt, auf den ich mich vorbereiten muss. Natürlich nicht als Primaballerina, ich bin ja älter als die meisten dort“, fügte sie hinzu, als sie die Miene von Maître Jacques sah. „Aber auch als normales Ensemblemitglied muss ich gut vorbereitet sein. Und nun entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie drehte sich um und rauschte mit ihrer Tasche aus dem Laden, bevor er etwas erwidern konnte.
Nachdenklich sah Maître Jacques ihr nach. Schon oft hatte er sich gewünscht, sie würde etwas anderes machen oder zumindest woanders stehen als direkt vor seinem Geschäft. Aber so sehr verabscheute er sie nicht, dass er sie sehenden Auges in ihr Unglück rennen lassen konnte. Eine Parkuhr war nun mal keine Ballerina, da biss die Maus keinen Faden ab. Die Ärmste würde sich komplett lächerlich machen, und sensibel, wie sie war, würde sie sich davon, wenn überhaupt, lange Zeit nicht erholen. Er musste etwas tun.
Der Applaus übertraf alle Erwartungen. Maître Jacques, der sich einen Platz im Parkett geleistet hatte und wie alle anderen stehend Bravo-Rufe von sich gab, beobachtete, wie Jaqueline vor Aufregung mehrmals die rote Lasche hochplingte. Er sah auch, wie sie steif nach vorn kippte, wenn sich die anderen neben ihr grazil verbeugten, und dass ihr dies bewusst und peinlich war. Maître Jacques seufzte. Wo sollte das hinführen?
Die Tür zum Friseurladen wurde so heftig aufgestoßen, dass sie gegen die Wand donnerte und die eine oder andere Perücke im Schaufenster verrutschte. Maître Jacques zuckte zusammen und sah von seinen Papieren auf. Vor ihm stand Jaqueline, tränenüberströmt.
„Ich hasse Sie!“, schluchzte sie. „Sie sind der niederträchtigste Mensch, der mir je begegnet ist! Ich hoffe, Sie gehen pleite!“
Maître Jacques stand auf und ging um den Empfangstresen herum. „Jaqueline, beruhigen Sie sich bitte! Was ist denn los?“
„Tun Sie nicht so! Als ob Sie das nicht wüssten!“ Jaqueline stampfte auf, was zur Folge hatte, dass die Geldstücke in ihrem Inneren klimperten.
Maître Jacques rieb sich das Gesicht und atmete tief durch. „Was weiß ich?“
„Sie haben das Publikum bezahlt! Sie haben die Leute dafür bezahlt, dass sie mir applaudieren“, heulte sie. „Wie in dieser schlechten Fernsehwerbung!“
Maître Jacques seufzte. „Das hat Ihnen wieder Thomas Wächter erzählt, stimmt’s?“
Jaqueline nickte unter Tränen.
„Kommen Sie, wir gehen nach hinten.“ Es waren zwar im Moment keine Kunden im Laden, aber falls welche kamen, brauchten sie das hier nicht mitzubekommen.
Jaqueline wehrte sich nicht, als der Maître sie in den hinteren Raum zwischen die Kartons führte und die Tür schloss.
„Jaqueline. Sie kennen mich. Glauben Sie wirklich Thomas Wächter mehr als mir?“
„Sie haben behauptet, ich bin nicht gut genug fürs Ballett!“, fauchte Jaqueline. „Er hat gesagt, ich kann das! Warum sollte ich Ihnen noch irgendetwas glauben?“
„Aber Sie haben doch gemerkt, dass Ihnen manche Bewegungen …“ Maître Jacques überlegte sehr genau, welches Wort er verwenden wollte, „… schwerfielen? Schwerer als den anderen?“
„Es war nie geplant, dass ich das für die nächsten Jahrzehnte mache“, schrie Jaqueline. „Aber wenigstens diesen einen Triumph hätten Sie mir gönnen können! Das sollte mein Durchbruch werden, und Sie haben alles verdorben! Sie haben meinen Traum zerstört! Sie … Sie missgünstiges Stück Sch–“
Maître Jacques hob die Hände. „Jaqueline, bitte mäßigen Sie sich! Diese Wortwahl passt nicht zu Ihnen. Das alles ist nicht Ihr Stil. Merken Sie nicht, wie Thomas Wächter Sie verdirbt?“
Jaqueline verstummte.
„Und nun redet er Ihnen auch noch ein, dass ich nicht auf Ihrer Seite bin.“ Maître Jacques legte die Hand an die Stirn. „Nun gut. Wenn Sie Thomas Wächter mehr glauben wollen als mir, dann ist das wohl so.“ Ergeben senkte er den Kopf. „Beschimpfen Sie mich.“
Jaqueline schniefte. „Sie … Sie haben wirklich nicht …?“
„Jaqueline. Wir kennen uns nun schon so lange, und Sie wissen, dass ich Sie sehr schätze“, sagte Maître Jacques. „Ich bin Ihr Freund und möchte, dass es Ihnen gut geht.“
„Wirklich?“, fragte Jaqueline verzagt.
„Wirklich.“ Maître Jacques legte seinen Arm um ihre Stange. „Ich glaube, es ist besser, Sie ruhen sich erst mal aus. Das alles war doch sehr viel Aufregung für Sie. Erst der Auftritt und nun …“
Jaqueline sagte nichts, als er sie zum Ausgang geleitete. Bevor er die Tür hinter ihr schloss, drehte sie sich noch einmal zu ihm um.
„Entschuldigung“, murmelte sie und ging sichtbar geknickt, aber nichtsdestotrotz aufrecht wie eh und je zu ihrem angestammten Platz.
Maître Jacques setzte sich wieder hinter den Empfangstresen. Er nahm die Papiere auf, mit denen er sich vor der Unterbrechung beschäftigt hatte, Kontoauszüge. Seine Miene wurde sorgenvoll, als er die Höhe der Ausgaben mit den Einnahmen verglich. In diesem Monat war die Diskrepanz besonders groß.
Müde ließ er die Auszüge sinken und starrte aus dem Fenster, auf das SUV, das vor seinem Geschäft parkte, obwohl die Parkuhr schon seit Stunden abgelaufen war. Lange Zeit saß er bewegungslos, dann ging ein Ruck durch seinen Körper. Er stand auf und schloss die Ladentür ab.
Das kann nichts werden, hatte seine Mutter gesagt, als er ihr von den Plänen für seinen eigenen Friseurladen erzählt hatte. Du bist kein Geschäftsmann, Jan. Du bist ein Tagträumer, den Kopf voller merkwürdiger Einfälle. Aber mit einem Fantasienamen und Aus-dem-Fenster-starren kann man kein Geschäft führen.
Nun war es so weit. Er würde eingestehen müssen, es nicht geschafft zu haben. Seinen Traum für gescheitert erklären.
Lange ruhte sein Blick auf der Parkuhr vor dem Schaufenster. Dann ließ er die Rollläden herunter.