Von Ralf Rodrigues da Silva

Der Wecker zeigte ebenso klingellaut wie unerbittlich auf 7.00 Uhr. Sein Bett war noch warm und die Daunendecke umschloss erinnerungsreif und mit seidigem Ton den ermüdeten Körper. Die Textur der Bettwäsche, noch ein rübergerettetes Überbleibsel aus besseren alten Tagen. Sie umschmeichelte besänftigend seine angejahrte Figur. Und er wehrte sich nicht dagegen – noch nicht: Schon wieder war es gestern Nacht spät geworden. Zu spät. Und es wunderte ihn nicht, dass er wachkomagleich vom einstigen Energiebündel langsam aber sicher zu einem senilen Bettflüchtling mutiert war. Zu einem, der nach unzähligen Konzeptumschreibungen und Zahlenkolonnen kaum mehr den gewöhnlichen Alltag bewältigen konnte.

 

Den Kampf gegen herumliegende Blisterpackungen hatte er bereits vor Tagen aufgegeben. Die pappverdächtigen Essensreste eines Lieferservices waren wiederholt längst weniger entwickelten Einzellern überantwortet. Und die bodenliebhabenden Kleiderreste hatte er mit letzten Kräften zu einer Art Schwebebalken umfunktioniert: Einzelteile reihten sich dazu seerosenblättergleich in vielen kleinen, zu Pflastersteinen hochstilisierten Textilinseln aneinander; sie wiesen ihm so den Weg aus dem selbstinszenierten Chaos bis in erhabenere Wohnungswinkel. Bis ins Bett. Er hatte sich eingeredet, dass sie auch sinnbildlich dafür standen, dass man Milestones durchaus erreichen und Hindernisse auf dem Weg ins „gelobte Land“ gefahrlos überwinden konnte. Jedenfalls, wenn man sich motiviert und mit Zuversicht, zielstrebig und ohne Ablenkungsmanöver an den Seitenlinien von eingefahrenen Prinzipien löste; einfach mal unbekannte Brückenschläge wagte. Um ein Dahinter anders zu entdecken. Er wollte für seine Geschäftsidee unkonventionelle Strategieansätze finden, die nicht dem Mainstream entsprachen. Aber darüber war er ein immer einsamerer Wolf geworden, der den Schafspelz gar nicht so recht ausspielen konnte.

 

Über diese Gedankensprünge war es jetzt schon 7.45 Uhr geworden. Zeit, aufzustehen. Zeit, der Wahrheit die Stirn zu bieten. Er war auf der Suche nach einem Financier und von einer letzten Frist im Würgegriff gefangen, in den zurückliegenden drei Tagen zugegebenermassen immer schläfriger eingesackt. Und doch war er bis heute nicht müde geworden, auch den noch so verstecktesten feinsten Partikel seiner Geschäftsunterlagen zu optimieren. Tag und Nacht hatten ihn lange im Griff, seine Ideen unnachgiebig befeuert.

 

Und so stand heute um 11.00 Uhr endlich der ersehnte rettende Strohhalm namens Bank auf dem Plan. Er fand, er hatte trotz Kopfschmerzen, Fragezeichen und grauen Ringen unter den Augen bisher eine gute Figur gemacht. Und er war ein Überzeugungstäter geblieben mit einer, wie ihm schien, gewieften Hauptrolle.

 

(In Wahrheit war er zwischenzeitlich zur Nebenfigur verkommen, zum Erfüllungsgehilfen seines Geldinstituts, dem er in nie enden wollenden Papierkaskaden immer wieder das neue und einzigartige seiner Geschäftsidee, aber vor allem dessen Wirtschaftlichkeit darlegen musste.) Einen ausgefeilten Businessplan hatten sie gefordert. In mittlerweile nur noch zwei Stunden sollte es also passieren! Unumkehrbar. Das wusste er. Nachher, das sollte diese eine Chance werden. Seine! Sein persönliches Ticket in die Selbständigkeit. Und er wollte sie nutzen.

 

„Sein“ Tag sollte eine Zeitenwende einleiten. Unsicherheiten und Unbekanntes, Abenteuer und Risiken, aber auch Chancen und Herausforderndes sollten um seine Gunst buhlen. Sie sollten sich ein für alle mal ungeniert nackt und ungeschönt vor ihm ausbreiten. Er schloss geniesserisch für einen Moment seine Augen und er wollte beim Anlegen seiner Businesskleidung das siegreiche Rufen hören. „Jetzt oder nie!“ und „Hier und Heute“, „ Du und kein anderer“, so hämmerte es hoffnungsvoll und erwartungsfroh in seinem Kopf.

 

Die Zeiger des überdimensionierten Zeitmessers auf 10.00 Uhr wiesen ihn an, sich zu sputen. Also eilte er nach einem gehetzten Schluck Espresso davon, im Gepäck schier ungeahnte Perspektiven. Und sie prophezeiten ihm, er würde es schaffen. Er könnte das alte Lotterkleid, in dem patinabetupfte Träume und entgangene Möglichkeiten eingewebt waren, endlich abschütteln. Die Weichenstellung lag unbegreiflich greifbar in der Luft. Es roch heute einfach nach Erfolg. Er musste nur noch die Witterung aufnehmen und daran glauben, dass er den richtigen Riecher gehabt haben würde. Für ihn unbestritten! Jetzt aber markierten nun mal die Banker das Ende des bisherigen Hindernisparcours. Sie besiegelten sein Schicksal.

 

„Was, wenn nicht?!“, spukte es beim Passieren der Drehtür des Geldtempels pünktlich um 10 Minuten vor 11.00 Uhr für eine Millisekunde in seinem Kopf. Aber zwischen Glasfassade, Marmorsockeln und gebürstetem Edelstahl verflüchtigte sich dieser Gedanke am Empfang beim Anmelden ebenso schnell wieder, wie er sich aufgedrängt hatte. Und ehe er seine Kurzzweifel noch richtig einordnen konnte, entstieg aus dem von oben angelandeten Glasquader gegenüber seiner Wartezone das breitlächelnde, in Körper gegossene Kreditversprechen in tiefblauem gezwirnten Nadelstreifen: „Guten Tag Herr Schweighofer?!“, begrüsste ihn die verbindlich ausgestreckte Hand eines überraschend juvenilen Hoffnungsträgers, „Hunter mein Name; willkommen bei Moneytrust-Rich“ Und mit einem „Sie werden erwartet, ich darf Sie zum Konferenzraum begleiten…?!“, navigierte ihn die personifizierte Charmeoffensive eher selbstbefragend mit vorauseilendem Elan. „Ja, angenehm, schön, dass Sie es einrichten konnten…, äh, gern, ich folge ihnen …“, entfuhr es ihm mit nicht so fester Stimme, wie er es sich vor dem Rasierspiegel vor kurzem noch vorgenommen hatte. Drei Minuten und gefühlte 3000 Meter später hatten die forschen Schritte seines „Vorläufers“ und seine eher forschenden Schritte den Gral der Geldhüter erreicht. Und ein beherzter Fingertipp durch Hunter auf das elektronische Display neben dem Konferenzraum gewährte geheimnisvoll Einlass ins „Sesam-öffne-Dich“, – in das eroberungswürdige dahinter liegende Sperrgebiet.

 

Jetzt also war es soweit!!! Schweighofer klammerte sich an seine Unterlagen, spürte die Anspannung, die Ungewissheit, den Schmerz. „Durchbruch oder Durchfall, das war hier die Frage“, blitzte das auf unfreiwillig mehrdeutige Art modifizierte Anzitat in ihm auf; und er musste dabei angesichts der konnotierten, durchaus durchlittenen Nebeneffekte doch leicht schmunzeln.

 

„Ja, bitte, kommen Sie doch herein, darf ich Sie bitten, sich zu setzen, Herr Schweighofer! Ihre Idee mit „Textillogilog“ hat uns am Ende doch sehr überzeugt. Gratuliere! Wir sind sehr gespannt, ob unsere vorläufig ausgearbeiteten Konditionen Ihre Zustimmung finden“, schlug es ihm beim Hervortreten durch den Grauhaarigsten der fünfköpfigen Gegenseite unvermittelt entgegen. „Lassen Sie uns ohne Umschweife ins Detail einsteigen, die prognostizierte Geschäftsentwicklung für die nächsten 5 Jahre hat sich ja anhand Ihres Datenmaterials doch recht gut darstellen lassen… , Herrn Hunter kennen Sie ja bereits, die übrigen Kollegen werden sich am besten während der Präsentation einschalten, wenn Sie einverstanden sind.!? Meine Herren…“

 

Schweighofer hörte nur noch nebelschwadenartig dem wortreichen Einstieg in die Geschäftsverhandlung zu; er realisierte vorerst verstummt, überglücklich und erleichtert, dass er seine Träume ab heute würde realisieren können. Nur einen Wimpernschlag davon entfernt, wie es schien. Kurzzeitig noch getrennt durch auf einmal weniger bedrohlich und übermächtig erscheinende Raumzeichen. Geschafft!!! Endlich würde er in Masse produzieren können. Gewinnmargen vervielfachen. Reinvestieren und wachsen: Vom Überzeugungs- zum Serientäter. Vom Schmuddelkind zum Millionär.

 

Wendezeiten: Alles andere seiner Geschichte war Geschichte geworden.