Von Annika Tomski

Der Mond spiegelt sich im dunklen und bodenlos wirkenden Wasser des Pools wieder. Es ist wieder Vollmond. Sechsmal hatte er seit jenem Tag zu- und wieder abgenommen. Auch, wenn das helle Licht gerade eine fast magische Atmosphäre erzeugt, ist aus meinem Leben jede Magie verschwunden. Dabei sollte doch gerade jetzt alles perfekt sein.

 

Mein Mann Max, unsere beiden Kinder Paul und Marie, unser kleiner Hund Viki und ich zogen im Juni nach Mallorca. Es war unser Lebenstraum gewesen. Max und ich hatten unsere Jobs in Deutschland gekündigt und all unsere Ersparnisse in diese zugegebenermaßen renovierungsbedürftige, aber charmante Finca im Süden Mallorcas gesteckt. Mehr Zeit füreinander war unsere Maxime. Marie ging begeistert in den Kindergarten und Paul hatte in der neuen Schule sogleich Freunde gefunden. Beide blühten auf und zusammen verbrachten wir unzählige Stunden am Meer oder am hauseigenen Pool. Marie und Paul liebten das Wasser und verließen es erst, wenn ihre kleinen Händchen und Füßchen völlig verschrumpelt waren… Das verdammte Wasser. Wären wir nur in unserer Stadtwohnung in Deutschland geblieben. Hätten unsere Kinder nur nie ihre Liebe zum fechtfröhlichen Nass kennengelernt. Hätte Max nur besser aufgepasst. Ich werde ihm niemals verzeihen können.

 

Ich kann mich an jede einzelne schreckliche Sekunde erinnern, als wäre es gestern gewesen. Max war mit den Kindern im Garten. Unser Hund Viki sprang bellend und Schwanz wedelnd um die drei herum. Die Kinder wollten vor dem Mittagessen noch eine Runde schwimmen.

Ich warf einen Blick durchs Küchenfenster, blickte selig auf meine Lieben und bereitete das Essen vor. „Ist das Essen bald fertig, Liebling?“ unterbrach Max meine Gedanken. „Ja“, antwortete ich erschrocken und schnitt mir um ein Haar in den Finger, „Du kannst schon mal das Tablett und das Geschirr mitnehmen, um den Tisch zu decken.“ Er nahm mir das Tablet aus der Hand und streichelte mir dabei liebevoll über den Arm. Ich wand mich wieder den Essen zu. Wie glücklich wir doch in unserem neuen Zuhause sind, dachte ich gerade, als das Telefon klingelte. Max eilte davon. Dass unsere Auswanderung so gut klappen würde, hatten wir beide nicht erwartet. Ich versank in Gedanken an die letzten Monate bis zu unserem Umzug. Sie waren unfassbar nervenaufreibend gewesen. Und doch, dachte ich, war es jede schlaflose Nacht wert gewesen. Endlich lebten wir auf dieser traumhaften Insel mit ihrem herrlichen Klima und ihren sagenhaft netten Bewohnern. Ich genoss die Zeit zusammen mit meiner Familie sehr… Vor mich hinträumend, blickte ich aus dem Fenster und nahm erst jetzt die immer noch ins Telefon murmelnde Stimme meines Mannes im Nebenzimmer wahr. Viki sprang aufgeregt fiepend um den Pool herum. Etwas stimmte nicht. „Oh mein Gott“, keuchte ich, als mich die Erkenntnis wie ein Faustschlag traf. Die Kinder waren alleine draußen am Wasser! Paul saß am Rand des Pools und stocherte wie wild mit den Armen vor sich im Wasser herum. Von Marie war nichts zu sehen. Ich stürzte hinaus. Am Schwimmbecken angekommen, blickte mir mein Sohn verheult entgegen und fischte verzweifelt mit bloßen Händen nach etwas Quietschgelbem im Wasser. „Mama, Mama,… Marie..“, heulte er. Ich warf mich ohne nachzudenken hinein und zog meine leblose Marie aus dem Wasser. Max kam in diesem Moment aus dem Haus gerannt und versuchte sofort Marie zu reanimieren.

 

Die Momente danach verschwimmen in meiner Erinnerung zu einem Nebel, welcher nur nach und nach einzelne Bilder frei gibt. Es war als würde mein Unterbewusstsein versuchen mich zu beschützen und mir nur Häppchenweise einen Blick auf die furchtbaren Geschehnisse am Pool und im Krankenhaus zu gewähren.

 

Marie hatte – Gott sei Dank – überlebt und konnte nach einem zweiwöchigen Krankenhausaufenthalt wieder zu uns nach Hause. Max hatte sofort einen stabilen Zaun um das Becken gebaut, damit sich so ein Unglück nicht wiederholen konnte und er kümmerte sich rührend um alles. Er war für Paul da, welcher sich immer noch schwere Vorwürfe machte, dass er Marie nicht hatte halten können, als sie gestolpert war. Max kümmerte sich liebevoll um Marie und las ihr seither jeden Wunsch von den Lippen ab. Max versuchte auch sich um mich zu kümmern und unsere Familie wieder zur Normalität zurückzuführen. Doch ich konnte das nicht.

 

Tagsüber saß ich an Maries Bett und abends starrte ich auf das verhängnisvoll dunkle Wasser des Pools. Das Licht des Vollmonds wurde von der Tiefe des Wassers verschluckt. Sechs Monate sind vergangen, doch wie sollte ich ihm jemals verzeihen, dass er meine geliebten Kinder aus den Augen gelassen hatte? Er wusste, dass Marie nicht schwimmen kann. Wie konnte er das nur zu lassen? Ausgerechnet jetzt, wo wir alle bereit waren unseren Traum zu leben. Wie verzeiht man, wenn man nicht vergessen kann? Ich weiß, ich muss vergessen. Schon der Kinder zu liebe. Wir sind eine Familie. Weit weg von allem Bekannten in einem fremden Land. Die Kinder haben nur uns und doch kann ich meinem Mann nicht einmal in die Augen sehen.

 

Ich fühle mich gefangen in einem tiefen, schwarzen Loch. Die Freude und Dankbarkeit darüber, dass mein kleines Mädchen noch lebte sollte überwiegen und bei Gott, ich bin unendlich dankbar, dass ich sie immer noch im Arm halten kann. Gleichzeitig zerfressen mich Wut und Machtlosigkeit innerlich.

 

Unser Hund Viki tollt nicht mehr durch das Haus wie früher, sondern verbringt die meiste Zeit in ihrer Kuschelhöhle und beobachtet uns aus dem Schatten heraus. Mein Sohn Paul ist still geworden. Es tönen keine fröhlichen Lieder von seinen Kinderkassetten mehr durchs Haus. Max versucht mit seiner unerträglichen Fröhlichkeit Marie zum Lachen zu bringen, doch auch sie ist seit dem Vorfall vorsichtig und zurückhaltend geworden. Es ist alles seine Schuld.

 

Meine Welt stand auf den starken Säulen bedingungslosem Vertrauen zu meinem Mann. Seit dem Vorfall ist sie ins Wanken geraten. Kann ich ein Leben ohne diese gewohnte Sicherheit weiterführen? Und wie verhält es sich mit dem Widerspruch in mir, dass ich diesen Mann nach wie vor über alles liebe? Darf ich ihn überhaupt noch lieben? Wiegt meine Verpflichtung als Mutter meine Kinder zu schützen schwerer als mein Eheversprechen meinen Mann bis an unser Lebensende zu lieben? Albert Schweizer sagte einst: „Verzeihen ist die schwerste Form der Liebe.“ Doch er hatte keine Ahnung, wie schwer es tatsächlich ist.

 

„Mama?“, reißt mich Maire aus meinen Gedanken, als sie plötzlich neben mir an meinem allabendlichen Platz am Pool auftaucht. „Mama, bitte sei nicht mehr böse auf Papa. Wenn du auf jemanden böse sein solltest, dann auf mich, weil ich alleine ans Wasser bin.“ „Oh Schätzchen, ich könnte dir niemals böse sein!“, versichere ich ihr und drücke sie an mich. „Doch, ich habe eine Strafe verdient, weil ich ungehorsam war“, fordert sie und sieht mich mit ihrem kleinen runden Gesicht ernst an.

 

Strafe… Dieses kleine Geschöpf denkt, es verdiene eine Strafe, dabei, wird mir schlagartig klar, bestrafe ich uns bereits die ganze Zeit. Der Schmerz, den ich erlitten habe, saß die ganze Zeit so tief, dass ich mich mit meiner Ablehnung unbewusst bei meinem Mann für alles revanchiert habe. Ich habe die ganze Zeit verhindert, dass meine Familie heilen konnte. Habe die Wut- und Hassgefühle in meinem Inneren am Leben erhalten und damit verhindert, dass das Unglück verarbeitet werden kann. Ich habe uns alle in einer emotionalen Endlosschleife gefangen gehalten, während mein Mann und meine Kinder bereit waren wieder zu leben.

Es war nicht mein Mann mit seiner bloßen Anwesenheit, der das Messer in die Wunde steckte, sondern ich selbst drehte es wieder und wieder in der Wunde herum. Ich verurteilte die gesamte Familie zum Nicht-vergessen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag:

ICH verursache das Leid in meiner Familie.

 

Wieder überflutet mich eine Welle von Schuldgefühlen, doch dieses Mal würde ich nicht den gleichen Fehler erneut machen. Das war ich den kleinen blauen Äuglein, die mich immer noch erwartungsvoll anblicken, schuldig.

„Nein, mein Schatz“, sage ich ruhig, „genug bestraft. Lass uns zu Papa gehen und ihm sagen, dass alle gut wird.“

 

Verzeihen ist nicht leicht, doch es ist eine Kunst, die uns zum Menschen macht.