Von Herbert Glaser

Helmut sah dem Bus nach und bemerkte, dass er an der falschen Station ausgestiegen war. Dies bescherte ihm einen ungeplanten Spaziergang von drei Kilometern. Aber das machte nichts, er war schließlich topfit.

Eigentlich wollte er heute das Hawaii-Hemd anziehen, das er sich während des kurzen Techtelmechtels mit einem Fitnessstudio zugelegt hatte. Aus unerfindlichen Gründen passte es nicht mehr, es musste wohl beim Waschen eingegangen sein.

Na ja, das letzte Mal, als er Sport gemacht hatte, lag schon einige Zeit zurück, aber immerhin ging er von Zeit zu Zeit über das Treppenhaus zu seinem Apartment im zweiten Stock – zumindest wenn der Lift mal streikte.

Helmut fasste in seine Jackentasche, hielt inne und zog die Hand wieder heraus. Nein, heute würde er keine Zigarette rauchen, nicht heute. Schließlich würde er in ein paar Minuten Nichtraucher ankreuzen, wenn er dabei war, den Fragebogen auszufüllen. Und das war dann nicht mal gelogen, denn genau genommen hatte er seit gestern Abend keine einzige Zigarette mehr geraucht.

 

Das Ganze war sowieso lediglich eine Formalität. Für eine Lebensversicherung benötigte er eine aktuelle Gesundheitsprüfung.

Sein Kneipenfreund Heinz hatte ihm dazu den entscheidenden Tipp gegeben:

„Der Doktor Hausmann in Freising, der macht keine Probleme und nimmt es nicht so genau, wenn ein einzelner Wert `mal `ne Spur zu hoch ist, da kannst`e Dich d`rauf verlassen.“

Helmut hatte etwa die Hälfte des Weges zur Praxis zurückgelegt, als er sich eine kleine Verschnaufpause gönnte. Die drei Tassen schwarzen Kaffees, die er jeden Morgen auf nüchternen Magen trank, fehlten ihm. Aber kein noch so leckeres Getränk durfte sein makelloses Blutbild verfälschen.

 

Endlich hatte er die Praxis erreicht. Julia, die Sprechstundenhilfe, tadelte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick für die beträchtliche Verspätung. Egal, in spätestens 30 Minuten würde Helmut hier mit einem perfekten Gesundheitszeugnis herausmarschieren und sich an der nächsten Pommes-Bude erst einmal ein Frühstück gönnen, das hatte er sich verdient. Völlig außer Atem und mit schweißnasser Stirn nahm er ein Formular entgegen und ließ sich auf einen Stuhl im Wartezimmer plumpsen, der unter seinem Gewicht ächzte.

 

„Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“ Julia führte Helmut in eines der Behandlungszimmer und nahm ihm Blut ab. Zumindest versuchte sie es, während sie abfällige Bemerkungen über seine dicken Arme machte. Das muss eine Anfängerin sein, dachte Helmut, und unverschämt dazu. Er schluckte seinen Protest hinunter.

„Ausziehen – bis auf die Unterwäsche!“, befahl Julia, als die Spritze dann doch endlich mit seinem Blut gefüllt war.

„Aber wo ist denn Doktor Hausmann?“, erkundigte sich Helmut.

„Doktor Hausmann? Der ist schon seit über drei Jahren im Ruhestand. Frau Doktor Radowsky hat seine Praxis übernommen.“

Frau Doktor, wieso Frau Doktor, ich hatte doch mit Herrn Doktor Hausmann einen Termin …“ Helmut schnappte nach Luft.

„Die Telefonnummer hat sich nicht geändert, Sie haben wahrscheinlich nur um einen Termin gebeten und … wollen Sie sich jetzt bitte ausziehen, wir müssen einige Messungen machen, bevor die Frau Doktor zu Ihnen kommt.“

Auf einem Bein balancierend stieg Helmut aus seiner Hose, wäre beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch abfangen.

Julia deutete auf eine Digitalwaage.

Helmut wuchtete seine viel zu großen Füße auf das Gerät und erstarrte. Mit aufgerissenen Augen glotzte er auf die Anzeige.

„Da haben wir aber ein klein wenig geschummelt.“ Julia strich die von Helmut geschriebenen `98 kg´ durch und notierte `120 kg´ darüber.

„Das muss ein Messfehler sein, wann haben Sie denn die Batterien zum letzten Mal gewechselt?“

Julia ignorierte den Einwand. „So und nun hierher.“

Mit dem Rücken zur Wand streckte sich Helmut, so gut es ging – vergeblich. Ein weiterer Wert wurde korrigiert. `177cm´ stand nun über den durchgestrichenen `180cm´ Körpergröße.

„Das kann nicht sein“, schrie Helmut fast, „seit meinem zwanzigsten Geburtstag bin ich einsachzig groß … “

„Ich denke, Ihren Blutdruck messen wir lieber später“, blieb Julia betont ruhig, während sie zur Tür ging, „das kann die Frau Doktor dann gleich selbst übernehmen.“

 

Diese Frau Doktor ließ nicht lange auf sich warten und kam sofort auf den Punkt, nachdem sie das Blutdruckmessgerät weggelegt hatte: „Also, das Blutbild bekommen wir zwar erst in zwei Tagen, aber ich kann Ihnen schon heute Folgendes sagen: Offensichtlich sind Sie sehr gut darin, sich selbst etwas vorzumachen.“

Helmut fühlte sich, als würde ein ICE ungebremst auf ihn zu rasen.

„Sie bewegen sich zu wenig, essen zu viel und zu ungesund. Sie wollen ein Gesundheitszeugnis für ihre Versicherung? Dann sollten Sie besser das Formular neu ausfüllen. Sie wissen schon, dass Falschangaben zu einem Erlöschen der Versicherungsleistung führen können?“

„Aber Frau Doktor Ra… Ra…“

„Radowsky!“ Der Name stand wie ein Ausrufezeichen vor Helmut. Er nahm seinen restlichen Mut zusammen. „Frau Doktor Radowsky, ich weiß das sehr wohl … bitte behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind!“

„Von klein kann bei Ihnen wohl nicht die Rede sein.“

Helmuts Gesicht lief rot an.

„Und apropos Kind – wissen Sie, was ich machen würde, wenn Ihr Körper ein Kind und ich das Jugendamt wäre?“

Helmut wusste es nicht.

„Ich würde Ihnen das Sorgerecht entziehen und ihren Leib in ein Heim einweisen – und zwar sofort!“

In Gedanken malte Helmut sich schreckliche Details aus. Die Frage, ob er seinen Körper wenigstens ab und zu mal im Heim besuchen dürfte, ersparte er sich.

„Überlegen Sie sich besser, was Sie sagen. In diesem Land herrscht immer noch freie Arztwahl. Ich kann jederzeit meine Krankenkassenkarte nehmen und in eine andere Praxis gehen.“

„Da haben Sie ausnahmsweise recht. Viel Erfolg, kann ich da nur sagen. Ich kümmere mich jetzt erstmal um meinen nächsten Patienten und komme danach wieder zu Ihnen. Sollten Sie zur Vernunft gekommen sein, dann gebe ich Ihnen gerne einen Ernährungsplan mit, als ersten Schritt sozusagen. Dann sehen wir weiter.“

Mit heruntergeklapptem Kiefer blieb Helmut zurück und dachte nach.

Als er heute Morgen die Praxis betreten hatte, war er ein Mann in den besten Jahren. Nicht unbedingt schlank, vielleicht etwas untersetzt, aber auf keinen Fall fett, auf gar keinen Fall. 22 Kilo mehr, wo sollten die denn so plötzlich herkommen.

Und dann die drei Zentimeter! Glauben die im Ernst, die können ihm einfach drei Zentimeter stehlen – so eine Frechheit! Wenn die schon bei so offensichtlichen Dingen manipulieren, was machen die dann bloß mit den Blutwerten, da muss man ja mit allem rechnen. Das kann ich auf keinen Fall riskieren, dachte Helmut und fasste einen Entschluss.

Er war als Mann in den besten Jahren mit einer Körpergröße von 180 Zentimetern in die Praxis gekommen und er würde diesen Ort als stattlicher Einsachziger verlassen. Die drei Zentimeter gönnte er ihnen nicht, die 22 Kilo dagegen konnten sie gerne behalten.

Laut keuchend, so als errichtete er ein Zirkuszelt, kämpfte er sich in seine Sachen, öffnete vorsichtig die Türe und schlich unbemerkt am Empfang vorbei hinaus.

 

Zufrieden lächelnd lehnte Helmut an einer Werbetafel, bestellte sich per Handy ein Taxi und zündete sich eine Zigarette an.

Das Leben ist so schön, dachte er sich, man muss es nur richtig genießen.

 

ENDE

 

 

Version 2