Von Ursula Riedinger

«Schau dir das mal an, 300’000 Franken für eine weisse Fläche mit ein paar Blutstropfen. Wahrscheinlich sind sie nicht mal echt. Und dann ein geheimnisvoller Titel wie «Der Tod ist überall». So schnell reich werden möchte ich auch mal.»

Markus schiebt Linda die Hochglanz-Preisliste der Galerie M Art über den Tisch, die er irgendwo mitgenommen hat.

«Wir können es ja auch versuchen. Soll ich mir gleich in den Finger schneiden?»

«Na, ein wenig origineller müsste es schon sein.»

«Aber das ist gar keine dumme Idee. Wir machen auch Kunst. Und wenn es funktioniert können wir unsere Scheissjobs hinschmeissen, werfen einmal im Jahr ein Kunstwerk auf den Markt und werden reich …»

«Warum nicht? Ein Versuch ist es wert. Zuerst brauchen wir einen Künstlernamen. Was meinst du zu Künstlerduo Marlin?»

«Klingt gut, auch wenn du wie immer an erster Stelle stehst. Klingt ein wenig wie Merlin, der Zauberer. Einverstanden.»

«Und jetzt die Idee, mein Gott? Keine Ahnung, ich gehe ja nie in ein Kunstmuseum.»

«Es muss etwas down-to-earth sein, die Leute besinnen sich wieder auf Produkte vom Bauernhof, wenn sie es sich leisten können. Und unsere Kunst werden sie sich leisten, wenn sie sie wirklich haben wollen. Etwas Archaisches, mit Hühnereiern? Ja, Eier und ein Huhn …»

«Linda, du bist genial. Brat uns mal ein Spiegelei, ich hab eine Idee.»

Nach zwei Stunden kehrt Markus mit hängendem Kopf zurück aus der Werkstatt in Keller.

«Es funktioniert nicht, das blöde Ei ist kaputt gegangen, obwohl ich es lackiert habe.»

«Dann machen wir halt Spiegeleier aus Knetmasse. Die könnte ich nächste Woche auch mit den Kindern basteln.»

Die Woche vergeht wie im Flug. Linda bastelt, Markus bereitet schon Leinwände vor. Die Spiegeleier, die die Kinder im Kindergarten mit viel Liebe hergestellt haben, sind teilweise ziemlich unförmig. Aber könnten sie nicht auch ein Symbol sein, dass das Leben nicht perfekt ist? Markus lackiert sie, dann sehen sie schon viele besser aus.

«Bevor wir uns eine Galerie suchen, brauchen wir noch eine Künstlerbiografie. Das wird vielleicht das Schwierigste am Ganzen. Recherchierst du mal etwas, ich schreib sie dann schon. Blöd, dass man alles im Internet überprüfen kann.»

«Und dann brauchen wir nur noch ein Huhn, das über die Leinwand läuft.»

«Was? Ein Huhn? Manfred das ist es! Das Huhn soll mit Farbe an den Füssen über die Leinwand rennen … Welche Farbe?»

«Grün, du willst ja was Natürliches.»

«Onkel Gustav hat doch Hühner, ich rufe ihn gleich an!»

In ihrer Künstlerbiografie steht, dass das Künstlerduo Marlin hauptsächlich in den 80er Jahren aktiv war und sich dann für einige Jahre in die Südsee zurückgezogen hat, nun aber wieder zurückgekehrt ist und mit neuen archaischen Inspirationen, die sie sich in der Südsee geholt haben, die Kunstwelt in Europa bereichern möchte. Es gibt ein paar unscharfe Fotos von früheren Werken und Kopien von alten Zeitungsartikeln.

Das Bild ist fertig. Das Huhn war etwas unter Druck und wollte zuerst überhaupt nicht laufen, danach ist es aber wild über die Leinwand geflattert, seine grünen Fussabdrücke haben nur flüchtige Spuren hinterlassen. Aber man erkennt sie. Danach hat es seine Spuren auch in der ganzen Wohnung hinterlassen, bis Linda es wieder einfangen und abspülen konnte. Manfred schiesst verschiedene Fotos.

«Sieht toll aus! Jetzt brauchen wir nur noch einen Titel, wenn möglich auf Englisch.»

«Back to the Egg, was meinst du?

Linda stellt das beste Bild und eine längere Geschichte über die Entstehung des Kunstwerks der Biografie voran. Die Künstler seien inspiriert gewesen vom einfachen Leben in der Südsee, wo Hühner überall ein- und ausgehen. Der Kreislauf des Lebens … Vom Ei zum Huhn zum Ei … Die Suche nach den Wurzeln …

Die Dokumentation geht per Post an die Galerie M Art, die besonders avantgardistisch erscheint.

Dann passiert lange nichts.

«Scheisse, es funktioniert nicht.»

«Mal sehen, hab doch noch ein wenig Geduld.»

Linda ist alleine zu Hause, als das Telefon klingelt.

«Linda Zimmermann.»

«Hier Michelle Moosberger von der Galerie M Art. Aber da bin ich wohl falsch verbunden. Ich suche das Künstlerduo P. + Z. Marlin.»

«Äh, doch, doch, da sind Sie richtig, ich bin ihre Agentin. Sie können mit mir sprechen.»

«Entschuldigen Sie, dass ich mich nicht früher gemeldet habe, ich war länger in New York. Wenn das Kunstwerk nicht schon anderweitig vergeben ist, würden wir es ab 1. November in unserer Galerie ausstellen.»

«Das Kunstwerk befindet sich im Atelier von Marlins. Natürlich können wir es Ihnen bringen.»

«Bringen Sie es bis vier Wochen vor der Vernissage vorbei. Was ich natürlich noch wissen muss ist, welche Preisvorstellung sie haben und ob das Kunstwerk verkäuflich ist.»

«Selbstverständlich Frau Moosberger, ich kläre das gerne bald ab.»

Als Markus nach Hause kommt, rast Linda ihm entgegen.

«Rate mal, wer angerufen hat! Die Galerie M Art. Frau Moosberger stellt unser Bild ab dem 1. November in ihrer Galerie aus! Ich kann es nicht glauben. Sie möchte nur noch wissen, was unsere, äh Marlins Preisvorstellungen sind.»

«Und, was hast du gesagt?»

«Noch nichts, man muss es spannend machen.»

«Was sollen wir verlangen? Nicht zu viel und auch nicht zu wenig. »

«Keine Ahnung, 100’000 Franken, nein sagen wir 50’000 Franken?

«Beginnen wir doch mit 50’000 Franken. Was aber wenn sie alles durchschaut?»

«Was durchschaut, es ist Kunstwerk wie jedes andere auch.»

«Ok, ruf sie an, und gib ihr den Preis durch.»

Vier Wochen vor der Vernissage liefert eine Freundin von Linda das Bild in der Galerie ab. Die Künstler seien leider unabkömmlich und die Agentur sehr beschäftigt.

Danach hören sie nichts mehr.

«Jetzt werde ich langsam nervös. Wie sollen wir an der Vernissage bloss auftreten? Was ziehe ich überhaupt dafür an?»

«Mach dir keine Sorgen, du hast ja ein paar alternative lange Röcke …»

Eine Woche vor der Vernissage ruft die Galerie M-Art wieder an.

«Hallo, Markus Pfister.»

«Guten Tag Herr Pfister, könnte ich bitte mit der Agentin des Künstlerduos Marlin sprechen.»

«Moment, ja, selbstverständlich.»

Markus gibt Linda, die in der Küche am Bügeln ist, ein aufgeregtes Zeichen.

«Agentur Zimmermann.»

«Guten Tag Frau Zimmermann, hier Michelle Moosberger. Es tut mir leid, dass wir den Künstlern eine Absage erteilen müssen.»

«Eine Absage? Warum denn das? Das kann ich gar nicht glauben, so kurz vor der Vernissage. Marlins werden sehr enttäuscht sein …»

«Tja, leider passt das angebotene Kunstwerk doch nicht ganz in unsere aktuelle Ausstellung. Aber ich habe doch noch eine erfreuliche Nachricht für Sie. Ein langjähriger Kunde ist schon länger auf der Suche nach einem Kunstwerk mit dem Thema Huhn und Ei. Er würde das Bild gerne kaufen.»

«Er würde das Bild kaufen? Für 50’000 Franken?»

«Nein, der Preis ist ihm etwas zu hoch, aber er bietet Ihnen 20’000 Franken.»

«Sie verstehen, dass ich da Rücksprache mit Marlins nehmen muss. Wer ist denn dieser Sammler?»

«Es ist der Stiftungsrat von Aviforum in Zollikofen, Isidor Baumann, der etwas Passendes für seinen Seminarraum sucht.»

«Wir sind enttäuscht, Frau Moosberger, dass sie uns so kurz vor der Vernissage einfach hängen lassen. Aber ich melde mich, falls das Künstlerduo bereit ist, sein Bild unter seinem Wert zu verkaufen.»

Markus und Linda nicken sich zu und fallen sich in die Arme.

Mit 20’000 Franken können sie ihren Job nicht hinschmeissen, aber es lassen sich damit herrliche Ferien machen, vielleicht sogar in der Südsee.

«Und ihr habt wirklich im Kindergarten bei Frau Zimmermann solche Spiegeleier gebastelt, Valérie?»

«Ja, Grossmaman, Frau Zimmermann wollte, dass wir ganz schöne Spiegeleier machen.»

«So, so. Schön habt ihr das gemacht, mein Schatz.»

Michelle Moosberger nimmt ihre Enkelin auf den Schoss und streicht ihr übers Haar.

 

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