Von Kornelia Wulf

05.08.1978

Die Augusthitze klebt auf meiner Schläfe. Ich höre ein Surren und spüre das Kitzeln der Fliegenbeinchen, die über meine Nase krabbeln. Meine Hand schlägt nach dem schwarzen Vieh. Es fliegt taumelnd gegen das Ablagebrett neben der Spüle, auf dem der Teller mit meinem Mittagessen steht. Hackfleischklößchen in Pilzrahmsauce mit Nudeln. Mein absolutes Lieblingsgericht. Meinen besten Freund würde ich ans Messer liefern, wenn man mir ein Abo darauf verspricht. Die Fliege gesellt sich zu ihren Kumpanen, die sich in den Falten der schon leicht vertrockneten Haut suhlen, die auf dem Saucensud gewachsen ist, spuckt auf die Bällchen, um mir die besten Brocken weg zu schnappen. Die Standuhr auf dem Flur schlägt dreimal, und mein Magen knurrt wie ein Wolf in der Fastenzeit. Doch an erster Stelle steht die Pflicht, sagt meine Mutter, das Vergnügen muss man sich verdienen.

Ein scharfer Luftzug streift mein Ohr, als ihre Hand hinabsaust und knapp an meiner Schulter vorbei schrammt. „Bleib in der Reihe und schmier nicht über die Linie!“ ruft sie, während ihr Oberkörper sich über mich beugt und meine Brust an der Küchentischkante platt quetscht. Mit dem Radiergummi in der Faust schabt sie über die aufgeschlagene Seite meines Schulheftes, bis das Papier zu zerfetzen droht. Noch einmal packe ich fest zu, versuche den Stift zu führen, der schlingernd durch meine feuchte Handfläche rutscht. Die Fingerglieder verkrampfen, fühlen sich schon fast taub an, während die Mine quietschend über die Heftseite stolpert und – schon wieder! Ich linse vorsichtig durch die Wohnzimmertür, bevor ich nach dem Radiergummi greife. Vergebens. Der Schweiß auf meinen Schläfen löst sich, fließt in Strömen über meinen Körper, als ich die Holzpantinen die Kellertreppe hinauf klappern höre. Sie stampfen auf mich zu wie eine Donnerwalze, und der glatt polierte Absatz knallt auf meinen Hinterkopf. Ihre an Schwerstarbeit gewöhnte Hand scheint zur Baggerschaufel zu mutieren, während sie sich in meinen Nacken festkrallt, drückt, stemmt, meinen Kopf auf und ab führt, in Kurven, in Kreisen, bis ich ein feines Knacken wahrnehme und die Buchstaben vor meinen Augen im funkelnden Sternenschwarm kreisen. „Na bitte“, sie betrachtet mein Werk zufrieden, „A-u-t-o“, in roten Lettern geschrieben, „das ist doch kein Kunststück.“

 

05.11.2018

Ich schrecke hoch aus dem Schlaf und rücke ein Stück zur Seite. Eben noch ruhte mein Kopf auf seiner Schulter, das von klebrigem Schweiß überzogene Kinn tief in seine Halsgrube gebohrt. Was soll er nur von mir denken? Alte Fregatte kapert jungen Kahn? Oder noch schlimmer, er unterdrückt ein Lachen, das beim Bierchen mit Freunden in Spott zerfließt. Und die Peinlichkeit beißt, rauscht wie Essig durch meine Adern.

Doch Boris verzieht keine Miene. Keinen Millimeter. Seine Finger zappeln über die Laptop-Tasten wie zehn wilde Zwerge auf Ritalinentzug. Boris. Meine rechte Hand. Ein Assistent wie er im Buche steht. Zuverlässig. Belastbar. Und zu hundert Prozent loyal. Ich höre ein leises Klacken und spüre den Luftzug, der wie ein kühles Tuch über den Schweißfluss zwischen meinen Brüsten wischt. Harry muss die Klimaanlage verstellt haben. Harry, der zweite Mann an meiner Seite. Schon länger als ein Jahr chauffiert er mich zu den Geschäftsterminen, steht stets fünf Minuten vor dem vereinbarten Termin vor der Tür, egal ob es Tag oder Nacht ist. Aber vor allem schätze ich an ihm, dass er meinen Humor erträgt. „Harry, hol schon mal den Wagen!“ rufe ich, wenn ich seine Schuhe im Schotter neben der Einfahrt knirschen höre. „Jawoll, Chefin!“ hallt es zurück, und er hüllt seine Worte ein in ein heiseres Lachen.

Der Herbstwind wirbelt bunte Blätter auf die Scheiben, doch ich tupfe ein Feuchttuch über meine Stirn. Warum brennt nur diese Hitze in mir, sie lodert und glüht wie ein Ofen aus Gusseisen. Mit jedem Kilometer, den wir uns vom Flughafen entfernen und unserem Ziel nähern, wächst die klebrige Salzfläche auf meiner Haut, dehnt sich schon aus bis zum Bauchnabel. Heute Morgen hätte ich schwitzen sollen. Als ich vor der Lehmhütte für unseren Pressetermin posierte, umringt von einer quirligen Horde. Zwanzig Kinderdaumen drückten auf die Klingelhebel, hüpften, schrien, bis die kreischenden Töne wie Stecknadeln in mein Trommelfell stachen. Die indische Sonne, die schon früh ihre Kraft entfaltet hatte, spiegelte sich in den Felgen der Fahrräder, mit denen sie künftig zur Schule fahren werden. Teil eines Spendenprojektes von Terres des hommes, um den Kindern ein Lernen und Lachen zu ermöglichen.

Und um das Bild für die Kamera abzurunden umarmte ich Neha, die Mutter der neun Jahre alten Tanisha. Als ich sie an mich drückte, spürte ich jeden Knochen unter der safranfarbenen Baumwolle, das Spiel ihrer Sehnen, die sich weiteten, dehnten, während ihre knotigen Arme meine Taille umschlangen, und ich wusste, dass sie das Naan nun in noch feinere Fetzen zupfen muss, wenn sie ihrer Tochter erlaubt zu lernen und sie vom Frondienst an der Nähmaschine befreit.

Ein Schnaufen zerreißt die Erinnerungsbilder. Boris ballt die Hand vor seinem Mund, als wolle er gegen tiefe Gähnseufzer kämpfen. „So“, sagt er und klappt den Laptop zusammen, „Geschafft! Den Termin mit der Kindernothilfe habe ich auf nächste Woche verlegt. Frau Schmitt kam diese Verschiebung übrigens auch sehr entgegen, und, halten Sie sich fest Frau Stürmer, Herr Mantey mit dem Immunsystem aus Stahl liegt mit einer Grippe flach. Tja, das bedeutet, keine Termine für morgen!“ „Perfekt Boris, gut gemacht“, ich schenke ihm ein Lächeln und während meine Hand über seine Schulter streift, bläht sich mein Wunsch-Ich auf, versucht, die Oberhand zu gewinnen, um ihm das Hemd vom Brustkasten reißen.

Ich lehne mich zurück, versinke fast in den Sitzpolstern. Einen ganzen Tag frei! Ich werde ausschlafen und erst um sieben Uhr an meinem Schreibtisch sitzen, ach was um acht. Und heute Abend werde ich mir etwas kochen. Etwas ganz besonderes. Vor meinem inneren Auge öffne ich die drei Gefrierschränke, die ich in die neue Küche habe einbauen lassen. In meinem Elternhaus, in dem ich noch immer lebe. Komplett renoviert und kernsaniert nach dem Umzug meiner Mutter ins Pflegeheim im letzten Jahr. Und mein Blick wandert über die peinlich genau nach dem Alphabet sortierten Tupperschalen. Über Aal süß-sauer, Erbseneintopf mit Bockwurst, bis er beim H hängenbleibt. Hackfleischklößchen in Pilzrahmsauce. Genau. Und während sich Speichel in fiebriger Erwartung in meiner Mundhöhle sammelt und ich schon jetzt nach einem Glas Riesling lechze, summt mein Diensthandy. Ich starre auf Boris’ Lippen, folge dem Amorbogen, der sich hebt und wölbt, als wolle er meine Hautporen kosen. Bis seine Mundwinkel hinab sinken und er mir das Handy in die Hände legt. Mit ernstem Blick. „Für Sie, Frau Stürmer. Privat.“

Schwester Anita, Antoniuskrankenhaus“, höre ich. Innerhalb von Sekunden baut sich ihre Gestalt vor mir auf mit den prallen Hüften, den mausgrauen Locken. „Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass sich der Zustand Ihrer Mutter verschlechtert hat. Gestern noch glaubten wir, die Lungenentzündung im Griff zu haben. Doch… in ihrem Alter birgt halt jede Infektion ein Risiko. Also, um es kurz zu machen, ich würde Ihnen dringend empfehlen, heute zu kommen, falls Sie ihre Mutter noch einmal sehen wollen. Morgen könnte es schon zu spät sein.“ Die Worte trommeln in meinem Ohr. Ich sacke zusammen, als ein schwarzes Tuch auf mein Hackfleisch fällt. Gewirkt aus zuckenden Fliegenleibern. Und während ich erschöpft die Lider senke, rufe ich, „Harry, bleib schon mal im Wagen!“

Es riecht seltsam leer in dem Krankenhauszimmer, nur ein Hauch Sagrotan huscht durch den Raum. Ich suche nach ihrer Gestalt in dem Bett, nach ihren Ecken, Kanten, nach ihren schwieligen Händen und finde einen Wurm, der sich krümmt, tief verborgen in den Kissen. Filzig graue Haarsträhnen umrahmen ihre bleiche Haut, die sich kaum von den Laken abhebt. Und ich beuge mich über dieses Wurmwesen, das mir so fremd erscheint, vernehme sein rasselndes Atmen. Ein Geräusch, das mich an das Schaben von Kieselsteinen erinnert, die auf einer Reibe zu Parmesan geraspelt werden sollen. Der verrunzelte Brustkorb versucht, die Bettdecke anzuheben, nur einen Zentimeter, und wir atmen gemeinsam, Minuten, Stunden, ich weiß es nicht mehr so genau. Als sie die Lider öffnet, entdecke ich ihre Augen, die in einen Trichter gefallen zu sein scheinen, die zunächst rollen, sich dann vorwölben, um mich anzustarren. Und dann taucht er wieder auf. Dieser Blick, der sich tief in meine Seele meißelte, der taxiert, der eine klebrige Spur auf meinem Körper hinterlässt. Ein Meer von Schweißperlen rinnt über meine Stirn, sie tropfen auf meinen Handrücken und für einen Moment glaube ich, mich in ihren Augen zu spiegeln wie in blindem Glas, das mein Abbild mit schwarzen Flecken beschmutzt und die Konturen grotesk verzerrt. Plötzlich rafft sie den Rest an Energie aus einer fernen Nische ihres Wurmkörpers zusammen, hebt den Arm und versucht ihn zu strecken. Um nach dem Schnabelbecher zu greifen, der auf der Betttischplatte ihres Nachttisches steht. Meine Fingerspitzen schnipsen an den Plastikbecher, rücken ihn ein Stückchen vor und ziehen ihn ein Stück zurück.

Und ich strecke mich, wachse, vermutlich knapp einen Meter.

Los Mutter“, flüstere ich, „streng dich an. Das ist doch kein Kunststück!“