Von Florian Ehrhardt

Jonas nimmt einen tiefen Zug. „Hast du dich schon mal gefragt, was für einen Einfluss die Kunst auf unser Leben hat?“

„Jonas, du bist high!“

„Und du bist besoffen! Aber überleg doch mal! Kunst ist doch überall!“

„Was meinst du damit? Ich sehe keine Kunst in meinem Alltag!“

„Falsch!“ Jonas grinst triumphal. „Kunst ist alles, was den Menschen gefällt! Kunst ist das, was uns Menschen ausmacht!“

„Erstens: Du solltest Kunstlehrer werden. Und zweitens: Sind Frauen dann Kunst? Weil mir gefallen die.“

„Naja, die meisten die Kunst studieren, werden Kunstlehrer oder arbeitslos. Ich weiß doch was ich bin. Und ja, wenn dir Frauen gefallen, dann sind sie für dich Kunst! Hast eigentlich grade eine am Start?“

„Es gibt da eine, die ich gern hätte. Aber die bekomme ich nie.“

„Ach was, nichts ist unmöglich!“

„Machst du jetzt Werbung für Toyota?“

„Lenk nicht ab!“

„Ist doch egal jetzt! Die ist sowieso komisch!“

„Komisch? Warum?“

„Sie will n Wikinger sein.“

„Ein was?“

Ich leere langsam mein fünftes Bier und wiederhole leicht lallend meine Aussage. „N verdammter Wikinger will sie sein!“

„Hat sie einen Bart? Plündert sie?“

„Nicht, dass ich wüsste. Aber ist, denk ich mal, einfach ziemlich crazy drauf. Das ist so ne Cosplay-Sache.“

„N Fetisch oder was?“

„Nee, Cosplay. Verkleiden für Erwachsene. Naja, bei manchen wird’s sicher ein Fetisch sein, aber bei ihr ist das ganz anders. Also zumindest sieht man auf ihren Insta-Posts tatsächlich Wikingerfelle und irgendwelche Fantasiewaffen, anstatt nur die Titten.“

„Stalkst du die, oder was?!“

„Das nennt man in 2018 „intensiv investigativ über Social Media recherchieren“. Stalking ist mir sowieso zu viel, da müsste man ja rausgehen.“

Jonas zieht an seinem Joint und fasst meine Situation lachend zusammen: „Du redest nicht mit ihr, stalkst dich durch ihre Internetprofile und hältst sie sowieso für verrückt, willst sie aber gleichzeitig daten?“

„Joa…Gut…So will’sch das jetzt nicht sagn.“, murmele ich mit fast aufeinander gepressten Zähnen.

„Is aber doch die Wahrheit. Und so kriegst du sie sicher nicht. Und außerdem: Musst du jetzt die Stimmung so runterziehen mit Gesprächen über eine Frau, die du niemals bekommen wirst?“

„Ich…“

„Und überhaupt. Lass uns wieder reingehen. Mit dem hier…“ – er wirft den erbärmlichen Rest seiner 30€-Dröhnung demonstrativ ins Gebüsch – „…bin ich jetzt auch fertig. S’is kalt hier draußen und du brauchst doch auch wieder n neues Bier.“

„Warte noch kurz.“

„Mann, du machst mich echt wieder fertig heut‘. Was is’n jetzt noch?“

„Naja, es ist einfach immer so, dass ich jedes Mal, wenn ich beim Bäcker steh, alles und jeden auf dieser gottverdammten Welt hasse! Da steht sie da, streicht sich die wunderschönen blonden Haare glatt und setzt ihr Fake-Lächeln auf, und das Fake-Lächeln sieht aber so echt und verliebt aus und…Ach. Man will gleichzeitig küssen und reinschlagen. Scheiße ist das. Komplett Scheiße.“

Jonas ist ein guter Freund. Er hört mir noch aufmerksam zu, aber mittlerweile scheint ihm echt kalt zu sein. „Lass uns das doch drinnen weiterreden.“ Er drückt die Klinke der Terrassentür runter.

„DIE HAT DOCH KEINE AHNUNG, WIE ICH MICH DABEI FÜHLE! SO EINE BLÖDE KUH!“

„Jetzt komm. Reg dich ab. Und vor allem: Es ist nachts um zwei, wenn du so rumbrüllst beschweren sich die Nachbarn und die Bullen kommen vorbei. Wir gehen jetzt rein, ich geb‘ dir ein Bier aus und dann is alles wieder gut.“ Er schwankt leicht, als er das Haus betritt.

 

Nach einem kurzen Intermezzo auf dem Klo erspähe ich Jonas auf dem grünen Sofa unter dem Fenster. Er winkt mich zu sich. „Fabi, komm her, ich muss dir was erzählen!“

Ich habe keinen Bock mehr auf diesen Abend. Ich bin betrunken und will nach Hause. Und mein bester Kumpel hat sowieso keinen Bock mehr auf meine idiotischen Liebesgeschichten. Er hängt sowieso nur noch an seinem Handy. Schlechte Party eben. Trotzdem setze ich mich zu ihm. Zumindest fürs erste. „Es ist spät. Ich geh heim.“

„Denk nicht dran!“

„Warum? Die Musik ist scheiße, ich bin betrunken und ich muss morgen echt für die Uni lernen.“

„Lüg dich doch nicht selber an! Du fängst immer erst am Abend vor der Prüfung mit Lernen an!  Wir wissen beide, dass du keine Party auslässt!“

„Ich lasse keine gute Party aus. Aber die hier ist echt zum Kotzen.“

„Jetzt komm, ich habe dir extra noch ein Bier besorgt. Du könntest wenigstens das eine noch trinken. Oder lässt du jetzt sogar schon ein Gratisbier aus?“

„Das eine! Aber dann bin ich hier weg!“

 

Mein Bier schmeckt nicht. Mein 18-jähriges Ich würde mich für diese Aussage hassen. Aber mein 18-jähriges Ich ist nicht hier. Hier ist nur der 25-jährige Fabi, der es geschafft hat, sich die Partystimmung selbst zu versauen. Trotzdem zwinge ich den Inhalt der Flasche Stück für Stück runter. Plötzlich klingelt es. Alle blicken verwundert zur Tür. Die meisten mit der altbekannten Alki-Reaktionszeit-Verzögerung. Jonas steht auf und rennt in Richtung der Tür. Was ist bloß in ihn gefahren? Ich schließe meine Augen. Ich will heim.

„Du kannst die Augen wieder aufmachen! Ich hab eine Überraschung für dich!“

„Was.“

„Ich geb mir hier echt Mühe. Mach einfach die Augen auf, dann siehst du schon, was los ist!“

„Ich hab kein Bock! Ich will heim!“

„Wenn ich jetzt extra hergekommen bin, könntest du die Augen schon aufmachen!“

Wem gehört diese Stimme? Mir bleibt nichts anderes übrig, langsam kämpfen sich meine schweren Augenlider nach oben. „Wikingermädchen?!“ Mehr kann ich nicht hervorstoßen. Sie ist es. Ich halluziniere bestimmt. Ich habe mir diesen Moment mindestens tausend Mal vorgestellt. Die Welt um sie herum verschwimmt.

„Du kennst meinen Namen doch auch. Ich bin nicht ganz blöd. Du bist zumindest der Einzige, der rot wird, wenn er eine Brezel kauft.“

„Ich lass euch zwei Süßen dann mal allein!“ Mit diesen Worten verschwindet Jonas.

Das kann sowieso alles nur noch ein sehr komischer Traum sein. Ich blicke zu ihr auf. Sie ist genau so schön wie immer. Aber warum ist sie kostümiert? Ist das ein Schaffell auf ihren Schultern? Ich glaube, mir wird schlecht. „Ich…ähhh…du…“

„Soll ich mich zu dir setzen? Vielleicht fällt dir dann ja mein Name wieder ein.“

„Tu-Tut mir leid…äh…Julia?“

„Richtig.“ Ein süffisantes Lächeln umspielt ihre wunderschönen Lippen. Sie lässt sich neben mich plumpsen.

„Bist du betrunken? Keine Frau, die nüchtern ist, spricht mit mir. Oder hat Jonas dich bezahlt?“

„Warum sollte ich betrunken sein? Ich komme vom Nacht-Fotoshooting für meinen Kanal! Deshalb bin ich ja auch noch in voller Montur! Dein Kumpel hat mich über Insta angeschrieben und ich dachte mir, ich kann ja gleich vorbeikommen, weil schlafen kann ich eh nicht mehr.“

„Nacht-Fotoshooting? Du nimmst diese Kacke ja echt ernst, oder?“

„Heute Nacht war Vollmond, da kann man richtig tolle Bilder machen! Und Außerdem: Kacke ist das ja wohl ganz sicher nicht! Das ist Kunst!“

„Kunst? Selbst in meinem Zustand erkenne ich, dass das, was du da postest, keine Kunst ist!“

„Und deshalb gefällt dir jeder einzelne meiner Beiträge, keine zwei Minuten nachdem ich diese „Kacke“ “ – sie macht Anführungszeichen in der Luft – „hochgeladen habe?“

Mein zerknirschter Blick zu Boden ist ihr schon genug Antwort.

„So lange es den Leuten gefällt, ist es Kunst!“

Du gefällst mir.“

„Und meine Kunst?“

„Ist schon ganz okay.“

„Würdest du dein „ganz okay“ vielleicht auch noch in ein „echt toll“ ändern, wenn ich dich jetzt küsse?“

Jetzt schrillen alle Alarmglocken in meinem Kopf. Aber das Einzige, was ich noch herausbekomme, ist ein langgezogenes „Iiiiiihhccccch…“

„Das nehme ich dann als ja.“ Sie blickt mir fest in die Augen.

Das kann nur ein Traum sein. Ich schließe die Augen. Bloß nicht aufwachen. Ich habe diesen Traum schon mehr als einmal gehabt. Gleich wache ich in meinem Bett auf. Allein. Plötzlich ist auch mein Alkoholpegel wie weggeblasen. Ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass ich wirklich träume. In diesem Moment liefert mir mein Mund ein heftiges Argument dafür, dass ich nicht träume. Ihre Lippen berühren meine und mein Herz setzt mindestens einmal aus. Der Moment scheint ewig anzudauern.

„Das wollte ich schon immer machen.“

„Ich auch. Aber ich wusste nicht…“

Sie legt mir den Finger auf die Lippen. „Du bist so süß, wenn du verunsichert bist. Fast wie beim Brezeln kaufen.“ Sie küsst mich erneut.

 

„Gehen wir am Samstag auf den Mittelaltermarkt?“

Wir sind jetzt seit zwei Monaten zusammen. Aber das bekommen wir immer noch nicht auf die Reihe. „Nein, Samstag ist Fußball! Wir spielen auf St. Pauli!“

„Als ob du so weit für 22 Männer und einen Ball fährst! Du willst dir doch nur die Nutten anschauen! Oder ist dir der Freistoß-Bubi wichtiger als unsere Beziehung?!“

„Ja, vielleicht ist er das, aber dir ist dein Wikinger-Outfit auch wichtiger als unsere Beziehung!“

„Ich setze mich für mein Wikinger-Outfit aber nicht 10 Stunden in einen Bus mit saufenden Fußballfans!“

„Ich bin ein saufender Fußballfan! Und wag es nicht, unseren Capitano „Freistoß-Bubi zu nennen!“

„Warum denn? Was soll er denn sonst sein?!“

„Ein Künstler! Wer die Dinger so reinhaut, kann nur ein Künstler sein!“

„Wo ist der Freistoß-Bubi ein Künstler?“

„So lange es den Leuten gefällt, ist es Kunst!“

Sie muss schmunzeln. „Okay, die Runde geht an dich! Schau dir deinen Freistoß-Künstler an. Aber nächstes Wochenende unternehmen wir gemeinsam was!“

Mein gemurmeltes „Nächstes Wochenende ist aber Heimspiel.“, überhört sie wohl.

Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange. „Ich muss los, der Bastelbedarfsladen macht in einer halben Stunde zu und mein Kostüm ist noch nicht fertig!“

Sie rennt aus der Tür und ihr blonder Pferdeschwanz wippt auf ihrem Kopf auf und ab. Für mich ist das Kunst.