Talita Schönberg

Von nebeliger Dunkelheit umhüllt, bahnte sich Lena ihren Weg durch die Stadt. Kaum ein Mensch war auf den Straßen zu sichten. Nur vereinzelt ein paar Hundebesitzer, die ihren Jagd-triebgesteuerten Zottelwesen, auch bei diesem Schmuddelwetter den nötigen Auslauf gönnten. Wer zu dieser Uhrzeit noch so mit Jagdlust auf diesen dunklen Straßen unterwegs war, wollte sie gar nicht wissen. Schaudernd zog sie die Kapuze tiefer ins Gesicht, die mit einem Ruck bis vor ihre Augen rutschte. Ein heftiger Schlag auf ihrer Brust brachte sie zum Taumeln. Dunkelheit. Stille. Kälte. Blackout.

Wie vom Blitz getroffen, war Lena mitten in der großen Pfütze stehengeblieben. Wieder einmal konnte sie sich nicht entsinnen, wie lange sie schon hier stand, was sie bei diesem Unwetter auf der Straße zu suchen hatte und warum ihre Brust schmerzte und brannte, als hätte man ihr soeben einige Rippen gebrochen. Sie hasste diese Blackouts, die in letzter Zeit zugenommen hatten und sie manchmal in echte Gefahr brachten. Wenigstens konnte sie sich mittlerweile daran erinnern welche zu haben. „Versager!“, lästerte die innere Stimme in ihr. Unbeirrt von dieser Beleidigung kramte Lena ihr Smartphone aus der Tasche und las die Notiz, die sie sich zur Sicherheit auf den Home Bildschirm gepinnt hatte. „Dreikönigskirche, Hauptstraße 23“, las sie vor. Der Geruch von Desinfektionsmittel stieg ihr in die Nase und es war ihr kurz so, als flackerte ihre Umgebung wie ein Hologramm. Oder lag es an der Straßenlaterne? Unsicher schaute sie sich nach dem Namen der Straße um, auf der sie sich befand und setzte sich langsam wieder in Bewegung. Dass der eigene Verstand ihr solche Streiche spielte, nervte langsam. „Das hast du dir selbst eingebrockt!“, hörte sie ihre innere Stimme zetern. Stimmt, hatte sie irgendwie. Sie, und all die anderen, die sie dazu getrieben hatten sich selbst zu verlieren und sich vollkommen den dunklen Mächten zu ergeben. „Die ich rief die Geister, werd ich nun nicht wieder los!“, zitierte ihre innere Stimme aus dem Zauberlehrling. Sie hasste diesen inneren Quälgeist, aber noch mehr hasste sie es, dass diese Stimme immer recht hatte. Irgendwie jedenfalls.

Durch ein Rascheln aufgeschreckt beschleunigte sie ihre Schritte. Aufatmend erkannte sie in kurzer Entfernung die Kirchturmspitze ihres Zielortes. Zögerlich öffnete sie die schwere Holztür des alten Kirchengemäuers. Der gewohnte Duft von Wachs und Weihrauch schlug ihr entgegen und wie jedes Mal, wenn sie zitternd diese Schwelle betrat, fürchtete sie in Flammen aufzugehen. So wie das mit Sündern halt geschah, wenn sie heiligen Boden betraten. Damals hatte sie es jedenfalls so im Religionsunterricht gelernt. Und gerade sie hatte viel Schande auf sich geladen. Wie gewohnt passierte auch heute wieder nichts und so betrat sie den lichterfüllten Gemeinderaum. Laut krachend viel die schwere Tür hinter Lena ins Schloss, brachte ihr Herz kurz zum Stolpern und löste ein heftiges, tinitusartiges Piepen aus. Dunkelheit. Stille. Kälte. Blackout.

Schweigend sah Lena auf die violette Medaille in ihren Händen. Fast mechanisch drehte sie die runde Metallscheibe zwischen den Fingern hin und her, bis sie auf der Rückseite stoppte und die Gravur betrachtete. Mit kleinen Druckbuchstaben war dort das Gelassenheit-gebet zu lesen.

„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Flüsternd und fast lautlos las sie die Zeilen vor. Warum gerade dieses Gebet auf den Medaillen verewigt war, hatte sie nie verstanden. Peinlich berührt wurde ihr die Stille im Raum bewusst. „Mist!“, fluchte sie tonlos. Diesmal hatte der Aussetzer sie eine ganze Zeitspanne vergessen lassen. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, in der Hoffnung ein Hinweis zu erhalten. Der Gemeinderaum, ein Sitzkreis, verschiedenste Personen und Gestalten mit erwartungsvollem Blick in ihre Richtung und schon wieder dieser eigenartige Geruch von Desinfektionsmittel. Immer mehr Puzzleteile setzten sich in ihrem Kopf zusammen. Das Treffen, die Verleihung, die Rede …

 

Schweißtropfen liefen ihre Stirn hinab, als es ihr wieder in den Sinn kam. Alle Blicke waren auf sie gerichtet, denn man erwartete eine dankbare, total motivierende und inspirierende Rede von ihr. Schon oft hatte sie diesen Reden gelauscht. Menschen die sich dank des Zwölf-Schritte-Programms der Anonymen Alkoholiker, durch die schwere Anfangszeit gekämpft hatten, um nun nach 9 Monaten völliger Abstinenz vor allen stehen zu dürfen. Natürlich innerlich gereinigt und vor Kraft strotzend, stolz nun diese Gewinnprämie in den Händen zu halten. Alles weichgespülte Heuchler, wie sie fand. Nicht ehrlich genug hier im Kreis dieser “Familie“ die Maske abzunehmen und die elende und verstörende Wahrheit zu präsentieren. Wollte sie sich in den Kreis dieser Heuchler einreihen, davon schwärmen wie sie aufgefangen von der AA-Selbsthilfegruppe die 9 Monate mit links gemeistert hatte? Oder war genau das ihre Chance gehört und beachtet zu werden, mit der nackten, unverhohlenen Wahrheit herauszurücken die eigentlich keiner hören wollte?

Zögernd atmete sie ein. „Na los, trau dich, oder musst du dir erst noch Mut antrinken?“, verhöhnte ihre innere Stimme sie. „9 Monate Abstinenz darf ich heut feiern. In Anderen wächst in dieser Zeit ein komplexes, neues Leben heran. Ich wiederum habe es in dieser Zeit geschafft, die Reste einer Hülle, meines ehemaligen Lebens zusammenzuhalten. Glückwunsch an mich selbst. Ja hoch das Sektglas und lasst uns anstoßen, … ach ja richtig, geht ja nicht! Sobald mir auch nur der Duft von Alkohol in die Nase steigt, falle ich wie ein Käfer ins Bierglas. Trocken zu sein fühlt sich jeden Tag aufs Neue an wie ein Kampf im Märchenland: Es könnte alles so schön sein, doch man vergeudet seine Zeit damit gegen die böse Hexe zu kämpfen. Jeden Tag versuche ich einen Sündenbock zu finden, der die Schuld an meiner Trunksucht trägt. War es Daddy, der uns sitzen ließ für eine vollbusige Millionärswitwe? War es Mummy die es zuließ, dass mir ihre Liebhaber wehtaten? Waren es falsche Freunde, eine schlechte Umgebung oder auch einfach nur ich, die zu stolz war sich Hilfe zu holen und stattdessen panisch am Flaschenhals festhielt? Eine Träne rollte Lena über das sonst starre Gesicht. „Um ehrlich zu sein, fehlt mir auch heute noch täglich, dieses betäubend warme Gefühl meiner Trunkenheit, dass keine Empfindungen durchsickern und mich alles vergessen lässt. Ja es fehlt mir und das, obwohl mir nach fast jeder Mahlzeit der entzündete Magen brennt, sich meine Gliedmaßen taub anfühlen und diese ständigen Blackouts. Der Alkohol spukt wie ein Geist durch meinen Kopf und wenn ich auch nur Geist ausspreche, habe ich verlangen nach einem fruchtigen Destillat. Jede Bierwerbung an den Haltestellen triggert mich, jede Einladung zu sozialen Interaktionen birgt Gefahren, lässt mich panisch absagen und vereinsamen.“ Mittlerweile schrie Lena, als müsste sie sich gegen einen Sturm durchsetzen und schon wieder dieses schrille tintusartige Piepen, dass ihr Herz anzutreiben schien. Warum hörte ihr keiner zu? Alle schienen einen fixen Punkt hinter ihr zu betrachten, als wäre sie nicht da. War sie etwa transparent wie ein Spukwesen? Als Kind hatte sie sich häufig gewünscht unsichtbar wie ein Geist zu sein, wenn Mummy´s „Gäste“ sie lüstern betrachteten. Aber jetzt war sie bereit gesehen zu werden. Jeder sollte ihre Nachricht hören! Und während sich alles in ihrer Umgebung langsam in zu drehen begann, beendete sie voll Inbrunst schreiend, ihre Rede. „Ob ich stolz bin 9 Monate nüchtern zu sein? Nein, das bin ich nicht! Millionen anderer Menschen schaffen das Tag täglich und ohne dafür ständig Lob und Medaillen zu erhalten. Nein, ich bin stolz darauf selbst die Stärke aufgebracht zu haben, mir Gehör zu verschaffen und Hilfe zu suchen, stolz darauf nun endlich bereit für den Kampf im Märchenland zu sein. Und das habe ICH allein geschafft. Ich allein …“ Dunkelheit. Stille. Kälte. Blackout.

„Oh Gott, ich könnt jedes Mal heulen, wenn ich die Frau hier betrachte. Das Schicksal hat es echt nicht wohl mit ihr gemeint. Erst fällt sie ins Koma und dann heute auch noch die Reanimation“ Eine weitere Stimme konterte: „Na ja, ist aber auch ein bisschen selbstverschuldet, durch die ganze Sauferei!“ „Sag doch nicht sowas vor der Patientin. Du kennst nur einen Bruchteil ihres Lebens und außerdem kann sie uns doch trotzdem noch hören!“, flüsterte die erste Stimme. „Körperliche Anwesenheit ist keine Garantie für Geistesgegenwart … Ja du hast recht! Entschuldige bitte! Ich hoffe, sie hört uns wirklich, dann wäre sie zumindest auf dem Weg der Genesung!“ „Immerhin zeigt sie schon wieder vermehrt Pupillenbewegung, fast wie beim Träumen. Beim Träumen ist sie endlich frei, denn den Freiheitsdrang des Geistes hält niemand auf, nicht mal dieser kranke Körper.“ „Wie poetisch! Haben sie das gehört meine Liebe? Sie haben die Freiheit zu Träumen, also wovon wollen sie träumen, Lena?“

Version 3