Von Daniela Seitz

Ich bin gestorben. Aber wieso bin ich noch? Wo bin ich? Ich sehe vor mir Licht. Was ist das? Ehe ich mich  versehe, bewege ich mich darauf zu. Genauer gesagt scheine ich zu schweben. Durch die Dunkelheit. 

Eine dichte Waldlandschaft umgibt mich. Ich kann nicht sagen, wann der Wald begann und wann die Dunkelheit aufhörte. Inmitten des Waldes ist eine kleine Lichtung, an deren Ende ein Tor steht. In der Mitte thront ein Brunnen. Dazwischen ein Pavillon, in dem ich Bewegung sehe. Ganz automatisch steuere ich den Pavillon an. Irgendwie gruselig diese Art mich zu bewegen. Sie ist völlig geräuschlos.

„Willkommen, gute Seele“, tönt es mir entgegen.

„Wer ist da?“, frage ich zurück und bleibe an Ort und Stelle.

Ich sehe die Bewegung in dem Pavillon und ich höre, dass der Willkommensgruß klar von dort kommt. Doch etwas stimmt nicht mit meinen Augen. Denn sie verweigern mir ein klares Bild von was auch immer dieser Pavillon beherbergt.

„Du hast die Wahl zwischen zwei Dingen. Wenn du nichts Unerledigtes zurückgelassen hast, kannst du loslassen und einem neuen Leben entgegen sehen. Dann ist das Tor deine Bestimmung“, ignoriert dieses Wesen meine Frage.

Ich erinnere mich nicht was war. Ich fühle nur, dass ich gestorben bin. Doch ich spüre einen inneren Druck, der sich gegen das Tor wehrt.

„Und wenn ich nicht hindurch gehen möchte?“, frage ich.

„Dann hast du offensichtlich noch etwas zu erledigen und kehrst durch den Brunnen als Gespenst zu deinen Liebesten zurück! Doch sei gewarnt: Als Geist kannst du nur Zeuge sein, von dem was diese Menschen tun. Es hängt daher nicht von dir ab, ob deine Zweifel verschwinden, sondern von den Menschen, die dir wichtig sind. Schaffen sie das, was du nicht erledigen konntest, kehrst du durch den Brunnen zurück, um das Tor zu durchschreiten. Wenn nicht…“

„…werde ich etwa Casper, der freundliche Geist?“ unterbreche ich den Vortrag.

„Wenn du Glück hast. Doch auch eine Bloody Mary könnte dein Schicksal sein. Das liegt dann ganz bei dir. Doch so oder so, würdest du in der Geistform, die du nun hast, auf der Erde stecken bleiben.“

„Moment mal! Bloody Mary greift in das Geschehen ein, genau wie Casper!“, weise ich diese undefinierbare Erscheinung auf ihren Denkfehler hin.

„Geschichten verändern sich. Sie werden ausgeschmückt und beschönigt, weil Geschichten ein Happy End haben sollen. Du wirst lernen mit der Geistform umzugehen, genau wie Mary und Caspar. Doch bis das geschieht, sind deine Liebsten längst Vergangenheit. Und du dazu verdammt, sie sterben zu sehen und ohne sie auf der Erde zu bleiben.“

„Nein!“, brülle ich „ du lügst mich an, damit ich aus lauter Angst, dieses Tor durchschreite! Was befindet sich überhaupt dahinter?“

„Dein Schicksal! Entscheide jetzt!“

Die Stimme ist nicht bedrohlich, eher geduldig. Aber autoritär und endgültig. Ich merke, dass ich nicht bereit bin, Endgültigkeiten einfach so stehen zu lassen. Insbesondere, wenn sie so vage formuliert werden.

„Und wenn ich einfach hier bleibe, um mir Zeit für meine Entscheidung zu nehmen?“, fordere ich dieses Wesen heraus.

„Dann triffst du eine unfreiwillige aber konkludente Wahl für den Brunnen!“, höre ich die Stimme nur noch von Ferne.

Ein gewaltiger Sog erfasst mich und zieht mich mit sich. Ein Strudel aus Farben, Erinnerungen, Geräuschen, Gerüchen, Geschmäckern und vor allem Gefühlen überwältigt mich. Der Druck den ich  vorhin spürte, wird nun zu einer allesumfassenden Sorge um meinen Ehemann.

Ich lande direkt bei ihm in unserem Wohnzimmer. Er ist allein. Ich will ihn umarmen, doch ich tauche durch ihn und unser Wohnzimmer hindurch zur Nachbarin in die untere Wohnung. Sie muss jemand Neues haben, denn ich sehe mehr, als ich sehen wollte. Schnell kehre ich um. Meine Nachbarin sollte ihre Aktivitäten besser ins Schlafzimmer verlegen.

Mein Mann verlässt gerade das Wohnzimmer und ich höre ein Baby schreien. Ich folge dem Geschrei und sehe wie sich mein Mann um ein Neugeborenes kümmert. Das macht er gut, denn das Weinen hört auf. Neugierig schwebe ich, diesmal vorsichtiger als eben, an die beiden heran.

Über die Schulter meines Mannes blicke ich in zwei wunderschöne blaue Augen. Die mich fixieren. Die eine schmerzhafte Erinnerung, wie einen Vorschlaghammer, hereinbrechen lassen. Ich war schwanger… und starb bei der Geburt. Entschied mich für Elaine. Die mich offenbar sehen kann? Ich bewege mich hin und her, doch ihre Augen folgen mir nicht. Einbildung? Sie ist wunderschön. Wie hätte ich mich nicht für sie entscheiden können?

Doch was ist nun meine unerledigte Sache? Ich muss doch jetzt nicht etwa 18 Jahre lang darauf warten, dass die Erziehung meines Mannes nicht fehlschlägt? Obwohl, es gibt schlechtere Lose, als Elaine aufwachsen zu sehen. Ich könnte bei all ihren großen und auch kleinen Momenten dabei sein. Und vielleicht wird ein Baby mich schneller wahrnehmen, als ein erwachsener Mensch.

Eifrig beginne ich um die Aufmerksamkeit der Kleinen zu buhlen. Probiere dies und das aus, um sie zu berühren und lande anfangs mehr als einmal im Schlafzimmer der Nachbarin, während die Zeit vergeht. Wenigstens ist es immer der gleiche Mann. Wieso ist sie eigentlich so aktiv, dass ich fast jedes zweite Mal…, na egal!

Es ist spät abends. Ich jage mich selbst, im Kreis, über Elaines Bettchen. Immer schneller und schneller. Und Elaine beginnt zu lachen. Ich höre auf und sie schaut mich an. Fixiert mich wieder. Ich will sie lachen sehen. Also beginne ich mich wieder selbst zu jagen. Und werde belohnt. Ihr Lachen klingt so glockenrein. Ein erster Schritt. Bald werde ich sie anfassen können. Sie in meinen Armen halten.

Es klingelt.

„Hallo Joline“, höre ich meinen Mann.

Neugierig höre ich auf, mich zu Elaines Gefallen zu jagen und schwebe in den Flur.

„Jonas, kannst du mir bitte helfen. Der Wasserhahn in der Küche hört einfach nicht mehr auf zu tropfen und macht mich wahnsinnig“, säuselt Joline.

Geht’s noch? Mein Mann ist frisch trauernder Witwer. Joline ist viel zu leicht bekleidet und außerdem hat sie ja wohl jemanden, der ihr ein Rohr verlegen kann. Was soll das? Ich spüre die Eifersucht heiß in mir brennen. Um mich herum beginnt die Luft zu bruzeln.

„Mmmh, Elaine schläft… Ich hole nur mein Werkzeug! Dauert ja nicht lang“, sagt mein Mann.

WAAAAS? Hat er das Babyphone ausgemacht? Elaine schläft nicht und ja okay, das ist meine Schuld. Aber er kann sie doch nicht alleine lassen. Hallo? Ich trommle mit meinen Händen auf ihn ein. Er muss bleiben. Ich traue Joline nicht. Mochte sie noch nie. 

Ich bin mittlerweile so geübt, dass ich nicht mehr ganz durch ihn hindurch tauche. Aber noch zu ungeübt, als das meine Aktion irgendeine Wirkung hätte. Zorn überkommt mich. Die Luft lädt sich elektrisch auf.

„Au“, fährt mein Mann auf und reibt sich die Schulter auf die ich eingetrommelt habe.

„Was ist los?“, fragt Joline.

„Ich hab gerade einen elektrischen Schlag abbekommen. Komisch. Muss an den Hausschuhen liegen“, sagt er und holt sein Werkzeug.

Verlässt die Wohnung. Mit ihr! So unzuverlässig ist er sonst nicht. Elaine alleine lassen! Ich werde mir das nicht anschauen. Ich bleibe bei Elaine. Die schiebt es wenigstens nicht auf ihre Hausschuhe, wenn sie mich wahrnimmt.

Als ich in ihr Zimmer schwebe, beugt sich ein Mann über Elaines Bettchen und will sie eindeutig mitnehmen. Wo zum Teufel kommt der her? Durch die Haustüre jedenfalls nicht. Er kommt mir bekannt vor. Elaine beginnt zu weinen. Das ist doch der Typ, der sich mit Joline in den Laken geräkelt hat.

Keiner nimmt mir mein Kind weg! Eifersucht und Zorn bündeln sich. Werden zu einer alles verzehrenden Welle des Hasses. Die Luft um mich her bruzelt und blitzt. Er merkt es nicht und kommt auf mich zu. 

Hört auf mich zu ignorieren!

Der Schrei kommt tief auf meinem Inneren. Es fühlt sich an, als stünde ich in Flammen. Ich stürze mich auf den Kidnapper meiner Tochter. Alles oder nichts.

Ich höre seine Todeskampfschreie. Sehe Elaine wie in Zeitlupe fallen. Fange sie auf. Ich stehe tatsächlich in Flammen. Genau wie das Arschloch, das es nicht anders verdient. Brenne!

Ich kann mein Feuer kontrollieren. Und mit seiner Hilfe meine Tochter wieder ins Bettchen legen ohne das sie verbrennt. Sehr merkwürdig.

Ein Sog erfasst mich. Reißt mich nach oben. Ich verliere die Geistform. Lande im Pavillion. Rechts von mir der Brunnen und links das Tor. Doch die Landschaft ähnelt nun dem was ich mir unter der Hölle vorstelle. Inklusive dem Höllenfeuer.

„Willkommen Feuerhüter“, sagt ein alter Mann, der vor dem Pavillion steht.

„Wer bist du?“

„Ein Hüter der Seelen, genau wie du. Doch die zyklische Zeit des Holzes ist vorbei und geht nun über zum Feuer. Meine Aufgabe ist dank dir erfüllt und ich kann nun durch das Tor schreiten.“

Ich versuche den Pavillion zu verlassen.

„Das wird nicht gehen, solange der nächste Hüter nicht auftaucht. Unsere Macht ist zu groß“

„Und wann taucht der nächste auf? Ich muss zu Elaine!“

„Holz nährt das Feuer, die Asche des Feuers wird zur Erde, in der Erde entsteht Metall, Metall kann durch Schmelze flüssig werden und Wasser lässt Holz wachsen. Ein Hüter für jeden Zyklus. Sobald jemand wie du, die Kraft der Erde nutzen kann, um in das Leben seiner Lieben einzugreifen, geht deine Zeit des Feuers zu Ende. So wie meine Zeit des Holzes nun endet, weil du mit Feuer deine Tochter gerettet hast.“

„War vorher deshalb ein Wald hier? Wegen deinem Holz?“

„Ja, du kannst die Landschaft mit deinem Element so gestalten, wie es dir gefällt. Andere Feuerhüter vor dir haben so unsere Vorstellung von der Hölle geprägt“, erwidert der Alte lachend.

Er wendet sich ab und ist schon fast durch das Tor geschritten.

„Was liegt nun hinter dem Tor?“, rufe ich ihm hinterher.

„Die Widergeburt. Ein weiteres Leben“, antwortet er und ist fort.

Ich stelle fest, dass ich immerhin das Treiben auf der Erde beobachten kann und sehe zu, wie mein Mann die Polizei alarmiert, unsere Kleine fest an sich gedrückt.

„Bist du der Teufel?“, fragt die erste Seele.

Es ist das Arschloch, das gerade durch mich den Feuertod starb.

„Ja!“

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