Von Andrea Lopatta

Christine begab sich wütend nach oben. Mit ihrer Mutter war einfach nicht zu reden, wenn sie in ihrem verklärten Weltrettungsmodus war. Was hielt sie nur in diesem alten Gemäuer? Sicher, früher war es einmal richtig schön gewesen, hell und mit Tausenden von Blumen, die das ganze Jahr über blühten. Jetzt wurden die Zimmer nach und nach in ein Museum verwandelt, um eine Einnahmequelle zu schaffen.

Und was wurde mit dem Geld gemacht? Das lecke Glasdach repariert – es schien immer ein Leck zu haben –, die abbröckelnde Fassade erneuert, das Parkett geschliffen…

Das Schloss verschlang Unsummen, und so viele Touristen verirrten sich auch nicht hierher, um alle Ausgaben abdecken zu können. Das alles kümmerte Christine nicht. Wenn es nach ihr ginge, wäre sie schon längst weggegangen, aber da war noch diese eine Sache, die sie zuvor erledigen musste. Doch darüber wollte sie im Moment nicht nachdenken.

Sie hatten in den letzten Jahrzehnten so manche Klippe umschifft, wenn von Verkauf oder gar Abriss die Rede gewesen war. Diesmal schienen die Gegner entschlossener denn je zu sein. Christine hatte die merkwürdigen Leute beobachtet, die seit einiger Zeit immer wieder unvermutet auftauchten, sich verstohlen umsahen und leise miteinander tuschelten.

„Das sind Abgesandte der Stadtverwaltung“, hatte ihre Mutter gemeint. „Sie suchen nach Baumängeln oder anderem, damit sie das Betreten als gefährlich einstufen können. Dann hätten sie etwas in der Hand, um uns zu enteignen und zu vertreiben.“

Enteignen, als ob das möglich wäre! Himmel, wieso war sie nur so rückständig?

Christine kochte vor Zorn. Neben ihr fiel eine Vase zu Boden, die sie wohl in ihrer Wut vom Sockel gefegt hatte. Das passierte ihr häufiger. Die erschrockenen Schreie eines japanischen Touristenpärchens erinnerten sie daran, dass sie nicht allein war – und es hier auch nie mehr sein würde. Diese Touris waren überall. Sogar in ihre Privatgemächer drangen sie unangemeldet ein, entweder weil sie sich verlaufen hatten, oder aus unverfrorener Neugierde. Christine ertrug das nicht länger. Sie musste weg von hier.

Gerade heute konnte sie die Gefahr spüren, die unheimliche Bedrohung, von der ihre Mutter berichtete. Eine junge Frau schlich bereits seit über einer Stunde mit ihrem Begleiter durch die Räume. Sie sahen in jeden Winkel und versuchten sich nach oben zu schleichen. Ein Glück, dass das Personal für solche Dinge geschult war und jeden Anwesenden im Auge behielt. Christine bekam von ihren geflüsterten Gesprächen nur Bruchstücke mit, etwas wie „müssen sie finden“, „nicht locker lassen“ und „notfalls die ganze Nacht“.

 

Mit einem hatte die Gräfin somit zweifellos recht: Die seltsamen Besucher brachten nichts Gutes. Doch Christine war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, dass es um mehr ging als nur um die Übernahme des Besitzes. Sie planten etwas Bösartigeres und Christine traute ihnen durchaus einen Giftmord zu. Es wäre nicht das erste Mal. In diesem Haus waren schon schlimmere Dinge vorgefallen.

Auch deswegen wollte sie fort. Die Erinnerungen setzten ihr zu, tagtäglich aufs Neue. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann sah sie Richards Gesicht vor sich. Der Graf hatte so gut ausgesehen und einen so lieben und fürsorglichen Eindruck gemacht. Wer hätte ahnen können, dass er sie kurz vor der Hochzeit derart schmerzhaft betrog?

Ralf, der Kassierer, sprang unten gerade noch zur Seite, als Christine voller Zorn einen Blumentopf aus dem Fenster warf. Zum Teufel mit den Erinnerungen! Es ist lange vorbei und Richard hatte den Preis dafür längst bezahlt, oder nicht? Warum tat es immer noch so weh? Warum ließ es sie nicht los?

Sie brauchte Luft. Auf ihrem Balkon beobachtete sie, wie die letzten Besucher das Gebäude verließen. Auch das neugierige Pärchen schlenderte die Treppe nach unten in den Park. Mit einem geringschätzigen Blick wandte sich Christine wieder nach drinnen und bekam so nicht mit, dass die beiden hinter einem Busch in Deckung gingen. Offensichtlich war ihre Mission noch nicht beendet.

Die Nacht brach herein. Heute war Vollmond. Die perfekte Nacht, um auf dem Dach die Sterne zu betrachten und zur Ruhe zu kommen. Christine nahm die Dienstbotentreppe und schlüpfte durch die kleine Feuertür nach draußen. Ihre Mutter hatte es nicht gerne, wenn sie dort oben war. Es sei zu gefährlich und die Leute könnten reden, wenn sie sie da oben sahen. Sollten sie doch! Wen kümmerte schon das Geschwätz der Dienstboten?

Ihr langes Kleid schimmerte im Mondlicht und sofort fühlte sich Christine besser. Sie war frei an diesem Ort und ungestört. Außer ihr kam nachts nie jemand her.

 

Im Park kam hinter dem Gebüsch Leben in die steifgefrorenen Wartenden.

„Siehst du dasselbe wie ich?“ hauchte Ronja, während sie plötzlich am ganzen Körper zitterte, nicht nur wegen der Kälte. Sie kam mit Falco schon seit vielen Monaten hierher. Bei Tage durchforsteten sie das Schlösschen, nachts beobachteten sie das Dach von ihrem angestammten Platz aus. Bisher hatten sie nie etwas entdecken können.

„Oh Shit“, kam es ebenso fassungslos von Falco. „Das kann unmöglich echt sein!“

„Sie ist es, das ist Christine!“ Ronja war hin- und hergerissen von ihren Gefühlen.

Falco hatte sich gleich wieder im Griff und zückte seine drei verschiedenen Kameras. Schnell schoss er unzählige Fotos. „Wenn auch nur eines davon etwas wird, haben wir den Coup des Jahrhunderts gelandet!“ jubelte er.

Ronja konnte ihre Augen nicht von der Frau im weißen Kleid abwenden.

„Was meinst du“, fragte sie, „warum ist sie immer noch hier?“

Falco zuckte die Achseln. „Wenn die Legende stimmt, kann sie erst gehen, wenn sie Richard verziehen hat.“

Mit dem Blick auf das Dach gerichtet hakte Ronja mit bebenden Lippen nach:

„Wer war Richard nochmal? Das war doch dieser Graf, der sie heiraten wollte und dann eine Affäre mit ihrer besten Freundin angefangen hatte, oder?“

„Richtig“, bestätigte Falco, „peinlicherweise direkt vor der Hochzeit. Angeblich haben die beiden Christine vergiftet. Das war 1866. 150 Jahre sind für einen solchen Verrat wohl noch nicht genug.“

„Ob sie ihm jemals vergeben kann?“ Ronja bedauerte die weiße Lady, die so graziös im Schein des Vollmondes stand. „Ich könnte das nicht, nicht in tausend Jahren.“

Unentwegt tippte Falcos Finger auf den Auslöser des Fotoapparats. „Angeblich spukt ja auch ihre Mutter noch im Haus. Und vergiß nicht den schwarzen Pudel mit den rotglühenden Augen, der hier im Garten rumlaufen soll.“ Er lachte, als Ronja sich spontan umblickte. Ihre Gänsehaut ließ sich inzwischen nicht mehr verbergen.

„Und wenn das alles nur ein schlechter Scherz ist und jemand uns das vorspielt?“

„Nein.“ Falco war sich seiner Sache sicher. „Das ist ein richtig echter Geist, und wir haben ihn gesehen. Blöd nur, dass das Museum nachts zu hat, sonst würde ich jetzt auf das Dach laufen. Vielleicht könnten wir sogar mit ihr sprechen.“

Ronja schauderte bei dem Gedanken. Sie wollte lieber so schnell wie möglich nach Hause und unter die Bettdecke kriechen. Diese ganze Geistersucherei war von vorneherein nicht ihr Ding gewesen, allerdings hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie auch noch Erfolg hatten. Sollte die ganze Grafenfamilie ruhig in ihrem Schloss spuken, Ronja würde so schnell bestimmt nicht wieder herkommen. Ein leises Rascheln ließ sie herumfahren, doch sie konnte nichts entdecken.

„Komm schon“, drängelte sie, „mir reicht’s, lass uns verschwinden! Ich glaube, da kommt jemand!“

Widerwillig ließ Falco sich mitziehen. Immer wieder blickte er zurück zum Schloss, auf dem nach wie vor Christine stand und das Mondlicht in sich aufsog.

 

Den schwarzen Hund, der das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachtete, bemerkte keiner von ihnen. Auch er konnte seinen Blick nicht von der strahlenden Gestalt auf dem Dach abwenden. Wie hatte er nur jemals derart verblendet sein können, um das Leben dieses zarten Wesens zu opfern? Das Schicksal hatte es ihm übel heimgezahlt. Als Hund war Richard nun dazu verdammt, tagein, tagaus um das Schloss zu streifen, bis Christine sich überwinden konnte, ihm aus ganzem Herzen zu verzeihen. Traurig sah er auf die letzten Reste des zerborstenen Blumentopfes. So bald schien das nicht der Fall zu sein. Ob ihr wohl klar war, dass auch ihre eigene Erlösung von ihrer Vergebung abhing?