Von Hubertus Heidloff

Der Nebel wurde immer dichter. Harry saß in seinem alten Ford und versuchte mit den eingeschalteten Nebelscheinwerfern die dichte Masse der hin- und herwabbelnden Nebelschwaden zu durchdringen. Schon seit geraumer Zeit war er mit dem Tempo fast auf Schrittgeschwindigkeit herunter gegangen. Nur langsam, stellenweise nur im ersten Gang, kam er auf der ohnehin engen Straße vorwärts. Ab und zu schien ein Baum vom Straßenrand mit einem herabhängende Zweig ihm zu zu winken. Mühsam versuchte Harry, sich auf die Straße zu konzentrieren, die ohne Mittelstreifen nur schwer zu befahren war, doch immer wieder wurde er abgelenkt von Figuren, zumindest meinte er das. Er nahm in seiner Fantasie Elfen und Hexen wahr, die mit ihm zu spielen schienen. Seine Fahrtstrecke verlief durch eines der vielen norddeutschen Moore. Jedes Mal, wenn sich für Augenblicke der Nebel lichtete und den Blick auf die enge Straße freigab, vermeinte er die Abzweigung zu seinem Zielort zu erkennen. Dort wollte er um 19 Uhr sein, um einen Vortrag zu halten. Thematisch ging es um das Bewusstsein, welches jedem Menschen eigen ist. Der Zusammenhang von Gedanken und Gefühlen mit dem Bewusstsein sollte aufgezeigt werden.. Ziel war es,  die Zuhörer für ihr eigenes Leben zu sensibilisieren. 

Harry kannte den Streckenverlauf aus früheren Fahrten in die Stadt, doch die jetzige Situation schien alles zu verzerren. Im gleichen Moment hatte ihn die weiße Masse wieder ganz dicht eingefangen und er schlich weiter auf der Straße entlang. Er drehte die Scheibe herunter, so, als ob er damit besser hören oder sehen könnte. Sogleich nahm er von Ferne das Bellen eines Hundes wahr, dem der Nebel ebenso ungeheuerlich vorkam. Ihm kam  unweigerlich der Hund von Baskerville in den Sinn. Harry vernahm ganz nahe vor ihm einen klagenden Schrei, als ob jemand gequält würde. Er vermeinte Stimmen zu hören, die sich am Straßenrand laut unterhielten. Er war verunsichert, er verspürte Angst. Nach seiner Zeitberechnung müsste er schon seit einer Weile sein Ziel erreicht haben. Hatte er sich verfahren? Alles kam ihm fremd vor. „Hier bin ich noch nie gewesen“, hörte er sich murmeln. Unheimlich.  Harry war nun fast eine Stunde unterwegs. Immer wieder sah er Gestalten im weißen Chaos um sich auftauchen, mal groß, mal klein. Die Angst kroch immer höher an ihm hinauf und erreichte seinen Nacken. Eine dieser Gestalten mit großen, hohlen Augen in einem konturenlosen Gesicht, ohne Arme und Beine, in einem weiten Umhang, so schien es ihm, bewegte sich auf ihn zu. Jetzt ärgerte er sich, dass er das Fenster geöffnet hatte. Er vermeinte etwas zu hören wie: „Du wirst noch viel erleben, heute“. Täuschten ihn in seiner Anspannung seine Sinnesorgane? Konnte er Augen und Ohren noch trauen? Was war Fantasie, was Wirklichkeit? Abwechselnd wurde ihm kalt und heiß. Er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle.

Zu verworren, zu unwirklich erschien ihm die Zeit im Fahrzeug. Er wollte fliehen, aber was wäre dann geschehen?

Bei jedem Geräusch zuckte er zusammen. Ein Zweig knackte, der Hund bellte erneut, lauter als zuerst. Wieder ertönte ein Schrei über ihm. War das ein Kauz oder glaubte er den Schrei nur zu hören. Zweifel an sich selbst mehrten sich. Am Nachmittag hatte er zu allem Überfluss von einem ausgebrochenen jugendlichen Gefangenen in der Zeitung gelesen. Hier, bei Emden solle er sich versteckt halten. Andere Geschichten mit dem Moor kamen ihm in den Sinn: Der Knabe im Moor, der Erlkönig zogen blitzschnell vorüber. Sein Vortrag sollte sich um Bewusstsein handeln. „Also bleib ganz ruhig.“ Das konnte er nicht. Zu aufgewühlt ging es in seinem Inneren zu. 

Wieder einmal lichtete sich die Suppe, wie er es nannte, für Sekunden ein klein wenig und er sah vor sich eine Gestalt, ganz in Weiß, gekrümmt gehend, so als laste alles Leid der Welt auf ihren Schultern. Oder war das wieder nur ein Nebelblock?

Dumpf hörte er eine Stimme nach ihm rufen. Was wollte die Stimme? Er vermeinte zu hören, dass sie mehrmals sagte: „Ich kriege Dich, ich kriege Dich!“ Warum?  Wahrscheinlich hörte er nur das eintönige Motorengeräusch. Ihm lief es eiskalt den Rücken runter, die Härchen auf den Armen schienen zu gefrieren.

Nur weg von dieser Stelle, von dieser Straße. Er betätigte das Gaspedal, gleichzeitig hörte er einen dumpfen Knall und konnte für einen Moment nichts mehr sehen. Er hatte die weiß gekleidete Person erwischt. Sie war über die Scheibe geschleudert worden. Seine Gedanken setzten aus. Panik stieg in ihm hoch. War das Traum oder Wirklichkeit? Was geschah mit ihm?  Was war zu tun? 

Er wollte anhalten, sich um die Person kümmern, doch eine innere Stumme befahl ihm weiter zu fahren. Er konnte nicht mehr denken, er wollte nicht mehr denken, er durfte nicht mehr denken. Er wollte die Situation ausklammern, rückgängig machen. Seine Gefühle bestimmten den Moment. Überall bewegten sich Gestalten, die nun drohend auf ihn zukamen. Nur weg von hier. 

Nach nur wenigen Minuten, sah er endlich die Lichter der kleinen Stadt.  An seinen Vortrag dachte er nur im Unterbewusstsein. Aber das war ja genau sein Thema.