Von Ursula Riedinger

Als Michail nach einem anstrengenden, langen Fussmarsch endlich in der Ferne sein altes Haus erblickte, war seine Erleichterung gross. Endlich wieder zu Hause. Wie hatte er sich danach gesehnt in all den Jahren. Aber was würde er antreffen? Wie stand es um Haus und Hof? Waren seine Frau und seine Kinder wohlbehalten?

Als er näher kam, die letzten Schritte zum Haus stolperte, sah er, dass das Haus verlottert aussah. Er hob die Hand, um anzuklopfen, da kam ihm ein kläffender Hund entgegen. Natürlich, der gute alte Grisha lebte sicher schon lange nicht mehr. Zum Glück war der aggressive Köter an einer langen Kette und konnte ihn nicht erreichen.

Dann wurde die Türe heftig aufgerissen und ein fremder Mann stand in der Türe.

«Wer bist du? Was willst du hier?» Der ungepflegte Kerl herrschte ihn an und stellte sich drohend vor ihm auf.

«Guten Abend, mein Herr, dies war früher mein Haus, aber wie ich sehe, hat sich hier vieles verändert.»

«Sieh an, der treue Michail ist zurück, der seine arme Frau sitzen gelassen und seine Kinder einem unbekannten Schicksal ausgeliefert hat! Aber Ljudmila gehört jetzt mir, du bist hier unerwünscht.»

Michail sackte in sich zusammen.

«Bitte, bitte, ich muss Ljudmila sehen!»

«Verschwinde, sonst hetze ich dir den Hund an den Hals.»

Erschöpft schleppte sich Michail ins Dorf. In der kleinen, ärmlichen Kneipe traf er ein paar alte Männer, die ihn schliesslich erkannten.

«Das ist doch der Michail, wie siehst du denn aus? Man erkennt dich ja kaum wieder. Wo warst du in all den Jahren.»

«Das ist eine lange Geschichte. Aber bitte, sagt mir, was ist mit Ljudmila und meinen Kindern passiert? Was ist das für ein Kerl, der in meinem Haus wohnt?»

«Ah, du hast den wilden Dimitri schon angetroffen … Mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Er hat deiner Ljudmila jahrelang den Hof gemacht, bis sie endlich nachgab und ihn geheiratet hat. Sie musste ja annehmen, dass du tot bist. Sie konnte nicht anders, ohne ihn hätte sie die Kinder nicht mehr ernähren können.»

«Wie geht es meinen Kindern? Wo sind sie?»

Die Alten wussten nichts Genaues, aber sie hatten böse Gerüchte gehört.

Michail fand ein einfaches Zimmer bei der alten Marija, für ein paar Kopeken am Tag.

Täglich hielt Michail Ausschau, dann, eines Tages sah er Ljudmila auf dem Markt, ohne dass der Grobian dabei war. Ljudmila starrte ihn an. Tränen traten in ihre Augen.

«Michail! Wo warst du denn so lange? Ich habe so viele Jahre auf dich gewartet. Ich dachte, du seist tot. Es ging dann einfach nicht mehr … Jetzt ist es zu spät.»

«Ich war im Krieg und es hat mich hierhin und dorthin verschlagen, ich konnte nicht früher zurückkehren! Wie geht es dir und den Kindern?»

«Sprich nicht davon, Michail, uns geht es nicht gut. Unser Ältester arbeitet beim Bauern nebenan, unsere beiden Mädchen mussten auch schon bei fremden Leuten auf dem Feld arbeiten, damit das Geld einigermassen reicht. Dimitri will sie bald verheiraten. Und der Kleine …»

Ljudmila schluchzte los.

«Was ist, meine Ljudmila?»

«Ich bin nicht mehr deine Ljudmila. Aber etwas musst du wissen. Seit Dimitri im Haus ist, ist Grossväterchen verschwunden. Darum ist all das Unglück über uns hereingestürzt. Grossväterchen wacht nicht mehr über unserem Haus.»

Und damit riss sie sich los und rannte davon.

Eines Tages traf er auf seinen Ältesten auf dem Feld des Grossbauern. Oleg erkannte ihn nicht gleich, er war noch ein Kind gewesen, als sein Vater verschwand. Aber als er mit ihm sprach und er seine Stimme hörte, glaubte ihm der Junge doch, dass sein Vater vor ihm stand.

«Oleg, was ist mit Grossväterchen? Weisst du etwas?»

«Grossväterchen ist weg, Dimitri sagt, es sei weggezogen, aber ich glaube, dass es irgendwo eingesperrt ist. Manchmal höre ich nachts Geräusche.»

«Grossväterchen eingesperrt? Das ist doch nicht möglich, Grossväterchen hat doch Zauberkräfte. Wie konnte es überlistet werden?»

«Ich weiss nicht, wie er es angestellt hat. Wir haben überall gesucht, aber es muss irgendwo auf dem Hof sein. Aber nun muss ich mich beeilen, der Bauer schimpft sonst mit mir. Gott behüte dich, Vater.»

«Dich auch, Sohn.»

Michail beobachtete Dimitri heimlich, wann er konnte. Und er dachte lange nach.

Eines Tages war die Gelegenheit gekommen. Michail klopfte bei Ljudmila, die ihm ängstlich die Türe öffnete.

«Wenn er dich hier findet …»

Gemeinsam durchsuchten sie das Haus und danach den Stall. Michail versuchte sich zu erinnern, wie es hier früher ausgesehen hatte. Dann entdeckte er es. Eine Ecke war mit einem Brett zugenagelt. Darauf waren magische Zeichen mit Kreide aufgemalt. Michail und Ljudmila schauten sich entsetzt an.

Zuerst wischten sie die unheimlichen Zeichen mit sauberem Wasser weg. Mit viel Kraft gelang es ihnen, das Brett an einer Stelle aufzubrechen. Als ein genügend grosser Spalt offen war, breitete Ljudmila ein weisses Tuch davor aus und legte Salz und frisches Brot darauf, das sie am Vortag gebacken hatte.

«Grossväterchen, verzeih was man dir angetan hat, bitte komm zu uns zurück!»

Nichts geschah. Sie warteten, flehten, beteten. Endlich öffnete sich der Spalt etwas weiter und Grossväterchen streckte seinen Kopf hervor. Grossväterchen war sehr, sehr zornig, so wie sie es noch nie gesehen hatten. Seine Haare standen ihm auf allen Seiten ab, im Gesicht war es ganz rot.

«Grossväterchen, iss von diesem guten Brot, und wache wieder über dieses Haus, wir bitten dich.»

Grossväterchen zögerte. Schliesslich nahm es sich doch etwas vom Brot und Salz, das Segen für das Haus bringen sollte, und ass es auf.

«Ljudmila, Grossväterchen mag Honig.»

Ljudmila eilte in die Küche und brachte ein kleines Gefäss mit Honig, das sie gut verwahrt hatte. Sie stellten es zum Brot. Und wirklich, Grossväterchen kam langsam näher und steckte am Schluss seine Finger in den Honigtopf. Dann machte es sich davon und verschwand irgendwo im Dachstock.

Nun musste Michail eiligst verschwinden. Schon kam Dimitri dahergetorkelt.

Grossväterchens Zorn brach über Dimitri mit voller Wucht herein, als er sturzbetrunken das Haus betrat. Zuerst wollte er Ljudmila schlagen wie immer, wenn er voller Wut heimkam. Aber seine Hand blieb in der Luft stehen. Als er sich in die Kammer der Kinder begeben wollte, blieb sein Fuss über der Schwelle hängen. Er konnte ihn einfach nicht mehr bewegen. Jetzt wurde er erst recht wütend. Aber jetzt zeigte sich Grossväterchen selbst, überwältigte ihn mit unheimlichen Kräften und band ihn mit unsichtbaren Riemen am Tisch fest.

Grossväterchen sprach nicht, es sprach nie, aber Dimitri konnte auch so verstehen, was es geschlagen hatte. Es war klar, der Hausgeist würde an ihm Rache nehmen.

«Bitte Grossväterchen», lallte Dimitri. Ein Wort, das ihm noch nie über die Lippen gekommen war.

Es wurde eine unruhige Nacht für Ljudmila und die Kinder. Dimitri lallte, fluchte und schrie, und sie fürchteten, dass er sie brutal behandeln würden, falls er wieder frei kam.

Als Michail sich am nächsten Tag vorsichtig dem Haus näherte, wurde er von seiner Familie willkommen geheissen. Die Mädchen sahen ihn mit ängstlich-neugierigen Augen an.

«Dimitri ist über Nacht verschwunden, plötzlich war er einfach weg. Und nun können wir wieder atmen.» Ljudmila lächelte ihn an. Tatsächlich war die Luft im Haus rein und freundlich.

Im Stall sass Grossväterchen auf einem Balken und schleckte den Honigtopf leer.

 

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