Von Felicitas Jacobs

 

„Und? Wie willst du alt werden?“

Petrus zupfte ein Stäubchen von ihrem Kleid. Es schimmerte in der Abendsonne, die in einem schmalen Streifen durch das Dachfenster fiel. Ich stand unentschlossen in dem kleinen Raum und schwieg. Mein Interesse an Diskussionen übers Älterwerden tendierte gen Null. Was ich wollte, war das gebuchte Hotel mit Blick aufs Meer, freie Zeit, Sommer, Sonne, Strand, gutes Essen, guter Wein. So und nicht anders wollte ich meinen Geburtstag mit der fünften Null feiern. Ohne Partygäste, die selbst fabrizierte Gedichte vortrugen und Lieder sangen. Warum also war ich jetzt hier?

Petrus zupfte immer weitere Stäubchen von ihrem Ärmel, ihren Schultern, dem Kragen. Kleine Wölkchen stoben auf und segelten um sie herum. Plötzlich fixierte sie mich.

„Nun sag schon: Wie willst du alt werden?“

Oh bitte, nicht schon wieder. Wieso musste man sich immer zu etwas äußern, das angeblich alle Welt interessierte? Ich bekam schlechte Laune. „Weiß der Teufel,“ zischte ich.

„Der Teufel? Na, du hast Ideen. Wenn das jemand nicht weiß, dann er,“ kicherte sie.

Verdammt. Ich musste zum Flughafen und hätte keinen Abstecher bei ihr machen sollen.

Doch wie das Leben so spielt. „Petrus ging’s die letzte Zeit gar nicht gut, niemand weiß mehr, wie sie lebt,“ hatte meine Mutter am Telefon gesagt. „Geh bitte mal bei ihr vorbei. Aus ihrem Projekt ist wohl nichts geworden.“

„Welches Projekt denn,“ murmelte ich, nicht sonderlich interessiert an der Antwort.

„Keine Ahnung,“ sagte meine Mutter. „Irgendwas mit lebendiger Nachbarschaft? Ist auch egal. Geh halt vorbei. Sie ist schon alt und du wohnst doch nicht weit von ihr.“

Na dann. Wenn jemand einsam ist, dann kümmert man sich. Die Leitlinien der Kindheit schieben einen mit einem gewissen Automatismus durchs Leben, wenn man nicht aufpasst. Und scheinbar hatte ich nicht aufgepasst.

„Ich bin schon alt,“ begann ich für Petrus jetzt einen kleinen Vortrag, um sie zum Schweigen zu bringen. „Immer gewesen. Als Kleinkind sind wir älter als ein Neugeborenes. Mit zwanzig älter als achtzehn. Und jetzt sind wir immer jünger als später. Ist allgemein bekannt.“

Petrus seufzte und schüttelte den Kopf.

„Ach was. Es gilt ein Tor zu wählen, durch das du zur nächsten Ebene gelangst. Und das ist dein nächstes Jahrzehnt. Wir warten hier immerhin schon seit…“ Sie schaute auf eine kleine, knallrote Taschenuhr… „seit deinem Schulabschluss, also seit …wieviel Jahren? Hm…“

Schulabschluss? Seit Jahren…? Was zur Hölle…? Pah. Petrus musste wie schon immer den außergewöhnlichen Star geben. Schönen Dank auch. Ich griff verärgert nach meinem Rucksack. Im gleichen Moment spürte ich einen harten Griff, der mich am Oberarm festhielt.

„Du könntest ruhig ein bißchen mutiger sein,“ sagte Petrus. „Warum schleichst du dich mit dem Schlüssel bei mir rein, statt zu klingeln?“

Ertappt. Die Möglichkeit des heimlichen Eintretens war mir in dem Augenblick eingefallen, als sie nach dem ersten Klingeln nicht geöffnet hatte und ich mich vor der Wohnungstür an ihren Schlüssel unter der Matte erinnerte.

Vielleicht wollte ich ihr tatsächlich aus dem Weg gehen, kaum dass ich sie traf. Na und? Schließlich kannte ich Petrus nur von früheren Familienfeiern. Eine entfernte Verwandte, immer ungewöhnlich gekleidet und geschminkt, umringt von aufgeregten Onkeln und misstrauisch beäugt von Tanten.

Sie hieß Petra, ließ sich jedoch Petrus nennen.

Eine ihrer Arten zu zeigen, schaut her, ich bin was Besonderes. Ich fürchtete ihre durchdringenden Augen, die auf den Grund meiner Seele zu schauen schienen. Bei einer Geburtstagsfeier meines Vaters hatte sie mir ins Ohr geflüstert: „Versuch’s erst gar nicht,“ hörte ich ihre leise, rauchige Stimme, während sie mir zärtlich über den Kopf strich. Noch bevor ich damals auch nur in die Nähe der Brieftasche von meinem Vater kommen konnte, dem ich ein paar Münzen hatte entwenden wollen, ließ ich es bleiben. Seitdem spürte ich immer dieselbe Angst, wenn ich sie traf:

Wie hatte sie meinen kleinen, kriminellen Plan bloß erahnen können? Und jetzt diese seltsame Wiederbegegnung nach so vielen Jahren. War sie womöglich die Hotelchefin meiner Reise? Pilotin meines Fluges?

Vor dem Fenster zogen weißgraue Watteberge vorbei.

Aber nicht nur dort, sondern plötzlich auch hier, mitten in diesem schrägen Dachzimmer mit Sofa, Tisch und Stuhl.

Das kannte ich noch von früher: Alles, was Petrus erzählte, manifestierte sich durch Wolkengebilde, nahm ständig neue Formen an und veränderte sich. Ich konnte gar nicht anders, als verzückt dem Schauspiel der bunten Nebelschwaden um sie herum zu folgen, den sich wandelnden Sommerlandschaften und winterlich verschneiten Bergwelten aus ihren Reiseberichten. Als Kind hatte ich mich nie gewundert, dass es so war – sie konnte halt zaubern. Ich beschloss, mich den Ereignissen vorübergehend zu ergeben und insgeheim an einem Fluchtplan zu basteln.

„Na dann. Hast du ein Bierchen da?“ fragte ich und deutete in die Küche.

„Du hast es so gewollt“, beantwortete Petrus meine Frage.  

„Durchaus“, sagte ich und war mir nicht sicher, ob wir beide das Gleiche meinten.

Sie klatschte in die Hände. „Es beginnt, wenn es losgeht. Und endet, wenn es vorbei ist,“ rief sie. Ihre Schritte stapften durch blau wabernde Bodennebel, als sie sich mir näherte.

„Du solltest dich damit abfinden, dass du nicht abhauen kannst. Menschen zu beklauen ist ebenso dumm wie nicht älter werden zu wollen. Mit Wagnis zu leben ist die Kunst.“

„Wagnis?“ hörte ich mich selber wie einen Papagei nachplappern.

„Ja. Mut und Lust und Wagnis. Darauf kommt es an.“

„Mut und Lust?“  Verdammt. Schon wieder.

„Mut. Wagnis. Nenn es wie du willst. Gleich geht’s los.“

Sie umfasste meinen Arm mit eisernem Griff und schob mich zum Fenster, wo sie mich plötzlich losließ. Doch als ich mich umdrehte, war da niemand.

„Fahr los. Dein nächstes Jahrzehnt wartet auf dich. Heißt auch Schicksal. Ist unberechenbar. Geht bei Rot über die Straße. Schlimm.“ Ich hörte ihr Kichern, das von überall kam.

„Du fährst mit dem Fahrstuhl runter. Oder rauf. Wie du willst. Und irgendwo findest du Julia. Du erinnerst dich? Die du dich seit Monaten nicht traust anzusprechen. Und das, obwohl sie dir sogar ihre Karte gab. Was bist du nur für ein feiger kleiner Bursche. Aber vielleicht findest du ja auch einen neuen Job hinter der Tür? Wer weiß. So oder so, ab durch die Mitte mit dir.“

„Aber wie soll ich … ich meine, welcher Fahrstuhl…?“  Meine Stimme zitterte auf einmal.

„Ach, das findest du schon raus,“ raunte sie in mein Ohr.

Sie roch nach Zimt und Orangen.

Plötzlich hatte ich eine Fernbedienung in der Hand.

Petrus war verschwunden. Ich atmete tief durch und drückte auf Play.

 

 

 

Umgehend stand ich auf einer Rolltreppe, glitt durch das Fenster nach unten auf den Hof und hielt vor einem riesigen, gläsernen Fahrstuhl, der an einer fensterlosen Feuerwand hoch zum Dachfirst und darüber hinaus bis in den Himmel ragte.

Die Tür öffnete sich geräuschlos und gab den Blick auf Petrus frei, die wie eine Tänzerin im Seitwärtsschritt dastand und sich eine Zigarette anzündete.

„Tritt ein“, sagte sie und winkte mich zu sich. Jetzt erst bemerkte ich, dass sie genauso aussah wie früher. Wie konnte das sein?  „Tritt ein,“ wiederholte sie.

Ich fühlte mich klein wie eine Ameise und kniff die Augen zusammen, um zuvor die Höhe des Gebäudes abzuschätzen. Der Dachfirst schien eine Wolkenbank zu küssen.

„Nur keine Angst. Auf jedem Stockwerk findest du einen Jubiläumsgeburtstag“, sagte Petrus und wedelte zuvorkommend den Rauch ihrer Zigarette weg. „Zwanzig Stockwerke, zwanzig Knöpfe, entscheide dich. Oder sind es zehn? Ach, egal. Probier‘s aus.“

Ich drückte zitternd auf die Eins und schloss die Augen. Wartete. Und wartete. Irgendetwas ruckelte und vibrierte. Dann hörte ich ein Klingeln. In meinen schwitzigen Händen spürte ich plötzlich das Handy und riss die Augen auf. Auf dem Display leuchtete Mama. Sie klang müde.

„Du brauchst nicht mehr zu Petrus zu gehen,“ hörte ich sie. „Onkel Theo hat gerade angerufen. Sie hatte einen Unfall und liegt im Koma…“