Von Daniel Büttrich

Diese Menschen. Sie sitzen in der U-Bahn und starren wie hypnotisiert auf ihre Handys. Gegenüber von mir sitzt eine junge Frau. Sie fixiert den Monitor und wirkt auf mich wie eine streng gläubige Anhängerin des Fahrgastfernsehens. Lange Zeit war auch ich einer von diesen Menschen, die mit der Bahn fahren und aus dem Fenster ins Dunkel der U-Bahnschächte oder in das Spiegelbild des Abteils starren. Die vom Monitor oder vom Smartphone hypnotisiert sind. Gegen einen Politiker ist ein Verfahren wegen Korruption eröffnet worden. Eine politische Fraktion spricht sich gegen einen Radweg in einer belebten Straße aus, eine andere Fraktion ist dafür. Ein Eishockeyverein verpflichtet einen  namhaften Spieler. Cristiano Ronaldo bringt eine neue Unterhosengarnitur heraus. Frische Computerspiele auf dem Markt. Oft habe ich mich gefragt: Was hat das eigentlich für eine Bedeutung für mich? Was für einen Sinn haben die Nachrichten? Womit beschäftigen wir uns den ganzen Tag? Befremdet habe ich mich umgeschaut und gesenkte Köpfe gesehen, die ihre gesamte Aufmerksamkeit diesem kleinen Gerät schenkten. Dann bin ich ausgestiegen und den Weg in mein Büro gegangen, um einen sicheren, lebenslänglichen Beruf auszuüben. Innerhalb engster Grenzen durfte ich mit Zahlen eines staatlichen Haushalts hantieren. Das war ab einem bestimmten, frühen Zeitpunkt für mich eine monotone und ernüchternde Angelegenheit. Ich wurde müder und müder. Daraufhin bin ich gestorben. Nicht sofort, nicht von heute auf morgen. Es hatte sich angekündigt. Die zunehmende Müdigkeit hatte ihre Ursache. Es ging rasch und fast schmerzlos. Eineinhalb Jahre nach meiner Pensionierung war es vorbei mit dem Leben. Wer mich vermisste? Mein Hund Juhani Aho. Er ist kurze Zeit nach mir im Tierheim friedlich eingeschlafen. Sie wundern sich möglicherweise, dass ich zu Ihnen spreche, obwohl ich bereits gestorben bin. Das ist wahrhaftig ungewöhnlich, und ich bitte mein Verhalten zu entschuldigen, sollte ich Sie durch diesen Umstand in Verwunderung oder Konfusion gestürzt haben. Sollte ich in Ihnen gar Ängste ausgelöst haben, dann verzeihen Sie mir und lassen Sie sich sagen: Ängste sind in meinem Falle unnötig, ich bin ein harmloser und friedfertiger Geist, der über ein erhöhtes Mitteilungsbedürfnis verfügt und nur Gutes im Schilde führt, wie Sie später sehen werden. Ich bin weder ein Zombie noch Graf Dracula. Sollten die Ängste aber bei Ihnen fortdauern und ein Ausmaß annehmen, das eine therapeutische Behandlung notwendig macht, werde ich für Ihre nicht durch die Krankenkasse gedeckten Kosten aufkommen. Für einen Geist wie mich ist Geldbeschaffung das geringste Problem.

Ich bin also ein Geist. Das Thema, über das ich sprechen möchte, ist aber nicht das Sterben, es ist auch nicht der Grusel, nein, ich behandle keine klassischen Geisterthemen. Es ist die Liebe.

Es war an dem Tag nach dem jährlich ausgetragenen Paavo-Nurmi-Gedächtnislauf, den seit 1974 ausnahmslos der Geist Paavo Nurmi gewann. Dieser Umstand trug dazu bei, dass Paavo Nurmi wenigstens nach seinem Tod halbwegs glücklich wurde. Aber lassen wir Paavo Nurmi in Frieden laufen, er wird uns ohnehin gleich wieder begegnen. An jenem Tag ging ich in aller Herrgottsfrühe ins Olympiaschwimmbad, so wie ich es jeden Montag zu tun pflegte. Nach einigen Runden wärmte ich mich in der Sauna auf. Dort traf ich Matti Nykänen, Carl Gustaf Emil Mannerheim, Arto Paasilinna und Paavo Nurmi, die mit einer Flasche Wodka auf Nurmis gestrigen Sieg anstießen. Belustigt beobachtete ich die prominenten Herren Geister eine Zeitlang, bis ich wieder Lust auf Schwimmen anstelle von Schwitzen verspürte. Ich zog gleichmäßig meine Bahnen zwischen den Menschen, als ein markerschütternder Schrei mich aus meiner angenehmen, montäglichen Kontemplation heraus riss. Sofort hielt ich inne, um zu sehen, woher der Schrei kam. Ich beobachtete, wie eine Frau in heller Aufregung am entgegen gesetzten Beckenrand ins Wasser sprang. Als ich meinen Kopf unter Wasser hielt, sah ich einen kleinen Jungen leblos auf den Boden sinken. Ich stieß mich vom Beckenrand ab und schoss auf den Jungen zu. Bevor er auf den Boden des Schwimmbads sank, fing ich ihn auf und trug ihn zu der jungen Frau, die ihn vehement an sich riss. Als sie ihn am Beckenrand ablegte, bildete sich rasch eine Traube Menschen um den Jungen. Ein älterer Herr drängte sich nach vorne.

„Der Junge hat Wasser in der Lunge und muss beatmet werden, lassen sie mich das machen!“

Ich kannte den Herrn und wusste, dass er ungeschickt war. Ich schubste ihn so, dass er stolperte und ins Becken fiel. Gleichzeitig drückte ich zwei jüngere Männer nach vorne, von denen ich wusste, dass sie vor Kurzem einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert hatten. Sie begannen umgehend, dem Jungen das Leben zu retten. Ich kniete mich neben den Jungen und half mit, die Lunge auszupumpen. Nach kurzer Zeit war er gerettet.

„Janis! Janis!“

Die Mutter bedankte sich bei den Helfern, nahm ihren Sohn in den Arm und heulte hemmungslos. Ich streichelte ihr und Janis über die Haare, um sie zu beruhigen. Es gelang mir.

Ich bin froh, ein Geist zu sein. Nicht jeder wird nach seinem Tod ein Geist. Mancher fährt in den Himmel, mancher in die Hölle, und einige entscheiden sich bewusst für ein Ende jeglichen Daseins. Sie möchten keine neuen Aktivitäten anfangen, sondern sich ausruhen, und ziehen deshalb die gemütliche Stille im Sarg dem Leben nach dem Tod vor. Bitte behalten Sie diese Informationen für sich, schließlich habe ich soeben das größte Mysterium für die Menschheit gelüftet. Ich selbst habe nicht lange überlegen müssen. Der kurze Werbefilm, den mir der Pförtner auf seinem Notebook zeigte, hatte mir klar gemacht: Für mich kommt nur ein Dasein als Geist infrage. Geister tun Gutes, verhindern Morde und Selbstmorde, kümmern sich um Verletzte nach Autounfällen, verprügeln rücksichtslose Raser, helfen Alten, Kindern oder Blinden über die Straße und senden Einsamen positive Gedanken in ihre Gehirne. Der Geist ist Seelsorger, Rettungssanitäter und Psychologe in einer Person. Nach meinem Tod erfüllte sich somit für mich ein Traum. Endlich konnte ich eine sinnvolle Tätigkeit ausüben. Und an diesem schicksalhaften Tag erfüllte sich für mich noch ein weiterer lange gehegter Wunsch: Ich fand eine Familie. Wenn auch nur für einige Minuten.

Ich folgte der Mutter und ihrem Sohn, freilich nicht in die Umkleidekabine, denn eines möchte ich betonen: Indiskretionen und Voyeurismus sind unter Geistern verpönt und ziehen empfindliche Strafen nach sich, im schlimmsten Fall die für Geister gefürchtete Sanktionierung, sich zu seiner menschlichen Hülle in den Sarg dazu legen zu müssen. Ich folgte Mutter und Sohn nach dem Schwimmbadbesuch und fuhr in der Straßenbahn zu ihrer Wohnung. Zu beobachten, wie fürsorglich und liebevoll die beiden miteinander umgingen, verstärkte in mir den Wunsch, ihnen noch eine Zeitlang nahe zu sein. Sie müssen wissen: In meinem menschlichen Leben habe ich Fürsorglichkeit und Nähe nie erfahren. Die Erziehung meiner Eltern war unterkühlt. Ich lernte erfolgreich, keine Gefühle zu zeigen. Geschwister hatte ich keine. Einige Jahre hatte ich eine Lebensgefährtin. Wir haben nicht harmoniert, sondern nebeneinander gelebt, und dass wir uns nicht früher getrennt haben, hing alleine mit dem so weit verbreiteten Festhalten an Gewohnheiten zusammen. Lebenslang habe ich mir eine liebevolle Beziehung mit viel Nähe gewünscht. Geklappt hat es nie, und ich muss zugeben, dass ich zu keiner Zeit des Lebens aus meiner Haut heraus gekommen bin. In den letzten Lebensjahren war mein Hund Juhani Aho das mir am nächsten stehende Wesen. Aber ein Hund ist etwas Anderes als ein Mensch… Mutter und Sohn stiegen aus. Mit einigen Metern Abstand ging ich hinter ihnen her. Unvermittelt blieben sie stehen. Die Mutter nahm ihren Sohn in den Arm und drückte ihn ganz fest an sich.

„Ich bin so froh, dass nichts passiert ist. Ich bin sooo froh!“

„Ich auch, Mama!“

Mutter und Sohn weinten. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt geweint habe. Vielleicht war es bei meiner Geburt. Als Geist ist es mir jedoch noch nie widerfahren. Dieser Anblick rührte mich allerdings so stark, dass auch mir die Tränen kamen. Zu spät fiel es mir ein: Geister sollen gute Wesen sein, aber sie sollen keine Gefühle zeigen. Und sie sollen niemals weinen! Was geschieht, wenn ein Geist doch einmal weint, erlebte ich im nächsten Augenblick.

„Mama, schau einmal, da steht ein Mann. Und er weint.“

Ich drehte mich verschämt um.

„Verdammt!“, sprach ich leise.

„Entschuldigen Sie, haben Sie ein Problem? Können wir Ihnen helfen?“, fragte die junge Mutter.

Ich drehte mich wieder um.

„Nein, nein…“, sagte ich zögerlich. „Ich war heute im Schwimmbad. Ich habe miterlebt, wie Ihr Sohn gerettet wurde. Ich möchte Ihnen sagen, wie sehr mich das freut!“, fügte ich hinzu .

„Vielen Dank! Und auf Wiedersehen!“, sprach die junge Mutter und nahm Janis an der Hand. In diesem Augenblick traf mein Blick den von Janis. Dann geschah etwas Seltsames. Ein Wunder, wie es sich gelegentlich auf der Welt zuträgt. Janis Hand löste sich von der seiner Mutter, und er lief auf mich zu. Er umarmte mich und sprach:

„Danke!“.

Ich streichelte seinen Kopf, während der kleine Mann meine Beine umklammert hielt. Daraufhin lief er wieder zu seiner Mutter zurück.

„Danke!“, sprach nun auch sie und lächelte mich an. Janis winkte.

„Bis bald!“

„Bis hoffentlich bald, kleiner Mann!“

Sie gingen. Nachdem ich mich nach vorne gebeugt hatte und eine Träne von meiner Wange gefallen war, wurde ich wieder unsichtbar. Das, was ich jetzt sagen werde, mag absurd klingen. Aber es kommt von Geisterherzen. Ich muss es los werden: Geister sind menschlich. Und auch Geister freuen sich über ein Dankeschön. Werden Sie Geist nach Ihrem Tod! Sie werden es nicht bereuen!