Von Eva Fischer

Endlich sind wir im Flughafen Cotonou in Benin. In wenigen Stunden geht es zurück nach Frankfurt. Nigeria ist sicher sehenswert, vor allem der Okomu Nationalpark. Klar wollte ich Abenteuerliches erleben, aber nicht das.

 

Vor zwei Tagen sind wir mit unserem Führer losgezogen, um seltene Tiere zu finden zum Beispiel Waldelefanten. Unser Führer hieß Amaogechukwu. Ok, das ist für uns Europäer etwas lang, also nannten wir ihn Amao. Alle mochten ihn. Ein extrem netter Typ, immer gut drauf, mit exzellenten Englischkenntnissen, ungefähr so alt wie ich, also 39, muskulös und topfit, möchte man meinen. Ich betone das, weil Amao das Gespräch mit mir mitten im Satz abbrach, als wir durch den Urwald pirschten und er aus unerfindlichen Gründen zu Boden ging, als hätte ihn jemand im Boxkampf besiegt. Wenig später verstarb er. 

Sie können sich vorstellen, wie geschockt wir alle waren. Wer sollte unsere Gruppe zurück zum Hotel bringen? Aber bevor uns die wilden Tiere fanden, entdeckte uns der Nationalparkwächter. Er sah auf Amao und seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als ob ein Fluch auf ihm läge. Klar, wie lässt sich sonst der plötzliche Tod eines scheinbar gesunden Menschen erklären? 

 

Nun sitze ich im Flieger, und sobald ich die Augen zumache, taucht Amaos Gesicht vor mir auf. Das des Toten, aber auch das des Quicklebendigen, der uns schließlich eine Woche begleitet hat. Aber selbst wenn ich die Augen krampfhaft offenhalte, surren meine Gedanken um ihn und dann höre ich zu allem Überfluss auch noch eine Stimme. Seine Stimme? 

So geht das nicht weiter. Ich winke der Flugbegleiterin zu. Sie möge mir eine Schlaftablette bringen. „Die sind leider aus“, sagt sie und zeigt auf die schlafenden Passagiere. Na prima!

Ich lehne mich resigniert in meinem Sitz zurück. Zum Glück sitze ich am Gang und kann meine langen Beine ausstrecken. Diese Pauschalreisen sind nicht unbedingt komfortabel.

 

Da ist sie wieder, diese Stimme: „Mach dir keine Sorgen, Alex. Ich beschütze dich. Du wirst sicher in Frankfurt landen.“ Davon bin ich ausgegangen. „Nichts ist selbstverständlich, Alex. Denke an Amaogechukwu.“ Verdammt, wer bist du? Bin ich jetzt auch verflucht?  „So würde ich das nicht bezeichnen, wenn dich ein Chi beschützt.“ Was bitteschön ist ein Chi? „Ein Geist, ein persönlicher Gott der Igbos.“  Bisher bin ich auch ohne ausgekommen. Außerdem glaube ich nicht an so einen Quatsch. „Es geht nicht um glauben, Alex, es geht um erfahren. Sei stolz, dass sich ein Chi um dich kümmert.“  Und warum gerade jetzt? Es scheint mir, dass das Wesen, das sich Chi nennt, sich verlegen räuspert.

Ich habe es vermasselt. Ich hätte Amaogechukwu retten müssen. Ich dachte, bevor ich zu Chukwu, unserem allerhöchsten und unsichtbaren Gott, zurückkehre, um ihm Meldung zu machen, sammle ich ein paar Pluspunkte bei einem anderen Menschen.“

Habe ich das richtig verstanden. Du brauchst mich?

Na ja, so kann man es auch ausdrücken.“

 

Nach über zwölf Stunden Flugzeit lande ich in Frankfurt mit einem unsichtbaren Chi im Gepäck, besser gesagt im Körper, und mir ist nicht klar, ob ich mich darüber freuen soll oder ob ich mir einen Virus zugezogen habe, den ich nur schwer wieder loswerden kann.

 

Nach weiteren zwei Stunden Zugfahrt bin ich endlich wieder in meiner Wohnung. Ich checke meine Vorräte und beschließe, mir eine Pizza aus dem Eisfach zu holen und ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank.

„Und was ist mit mir?“ Herrjeh! Diesen Gnom habe ich total vergessen.

„Ich denke, du bist ein Geist. Seit wann haben Geister Hunger?“

„Seit wann nicht? Also, die Igbos stellen uns immer etwas Essbares und Trinkbares hin. Ein Gebot der Höflichkeit. Findest du nicht auch?“

Jetzt erinnere ich mich, so etwas in einem abgelegenen Dorf in Nigeria gesehen zu haben.

„Aber einen Schrein baue ich dir nicht.“

„Wäre aber schön“, sagt mein persönlicher Gott und ich spüre förmlich, wie er eine Flunsche zieht.

„Also, wenn ich das richtig verstanden habe, sollst du mich beschützen und hier nicht den großen Max spielen.“

Ich denke, diese Ansage hat ihm nicht gefallen, denn es herrscht erst einmal Schweigen.

 

Am Wochenende fahre ich zu Lisa. Der Gedanke, dass mir ein Chi beim Sex zuschaut, behagt mir nicht besonders. Und tatsächlich bei der Rückfahrt meldet er sich wieder zu Wort.

„Lisa ist nicht gut für dich. Sie zollt dir nicht den nötigen Respekt.“

Himmel! Du bist ja schlimmer als meine Eltern! In welchem Jahrhundert leben wir denn? Lisa ist eine Granate im Bett. Wir haben immer sehr viel Spaß miteinander.

„Eine Frau sollte einen Mann ehren und unterstützen.“

Halte doch einfach mal die Klappe!

„Vorsicht, Alex! Da kommt ein Fahrradfahrer!“

Ich bremse scharf und der Fahrradfahrer wirft mir einen wütenden Blick zu. Ich entschuldige mich. Dass mich mein Chi abgelenkt hat, kann ich ihm wohl kaum sagen.

„Du solltest mehr unter Menschen gehen.“

Ich beschließe, seinen Ratschlag zu ignorieren. Aber mein Chi gibt nicht auf. 

„Weißt du, wir Chis sind gesellige Geister, und wenn sich die Menschen treffen, können auch wir uns unterhalten.“

Und Lisa hatte also keinen Chi? „Nein.“

Vielleicht liegt es daran, dass wir in Europa sind und nicht in Afrika. Du solltest besser zu deinen Chis nach Nigeria zurückkehren.

„Das ist nicht so einfach.“

Muss ich dich nach Hause bringen? Kann ein göttlicher Geist solche Distanzen nicht allein überwinden, denke ich spöttisch.

„Es gibt noch ein anderes Problem. Wir Chis dürfen nur einen toten Körper verlassen.“

Heißt das, ich muss vorher sterben? Mir bricht der Schweiß aus. 

 

Die nächsten Wochen sind der reinste Albtraum. Die Halloween Party finde ich gar nicht mehr lustig. Einen vorlauten Chi in seinem Körper zu haben, nicht nur für 24 Stunden, sondern voraussichtlich ein Leben lang, ist kein Spaß mehr. Zudem behagt ihm sein Leben in Deutschland ebenfalls nicht. Wird er mich wirklich dauerhaft beschützen oder mich in den Tod stürzen, um den in seinen Augen unzivilisierten Europäer loszuwerden? Mittlerweile habe ich mich bei Wikipedia schlau gemacht. Chis sind nicht nur gute Geister, sondern können recht bösartig sein wie Menschen halt auch.

Also baue ich in meinem Schlafzimmer einen Schrein für ihn, bewirte ihn mit Palmwein und Yam, seiner Lieblingsspeise, die ich teuer beim Afrikaner an der Ecke erstehe. Ich gehe häufiger abends zum „Okra“, einem afrikanischen Restaurant, damit sich mein Chi nicht langweilt. Lisa tausche ich gegen eine rassige Äthiopierin aus. 

Irgendwann vertraue ich ihr mein Problem an, aber sie lacht nur. 

Das sei die abgefahrenste Story, die sie je von einem Europäer gehört habe.

Ich überlege, ob ich einen katholischen Priester aufsuchen soll, damit er den Ritus des Exorzismus an mir vornehmen kann, aber ein Chi ist kein Satan und so ist es fraglich, ob es funktioniert. Auch denke ich mittlerweile an einen Igbo-Priester. Ich fürchte, er würde mich  ebenfalls nur auslachen. „Machen Sie sich den Geist gewogen“, würde er vermutlich sagen. Nun, das tue ich bereits.

Du siehst traurig aus, Alex“, sagt eines Abends mein Chi zu mir.

Kein Wunder! Meine Freunde halten mich für balla balla, weil ich mich ausschließlich in der afrikanischen Szene aufhalte. Meine äthiopische Freundin hat mir mittlerweile den Laufpass gegeben. Meine Arbeit verrichte ich unkonzentriert, so dass ich bereits einen Anschiss von meinem Chef bekommen habe.

„Ich kann dir helfen!“

Das bezweifle ich stark.

„Wenn ich dir drei Mal das Leben rette, kann ich zurück zu Chukwu, unserem Allerhöchsten.“

Klingt gut, aber wer sagt mir, dass du mich auch wirklich rettest.

Du musst mir vertrauen.“

 

Keine leichte Aufgabe. Ich meine das Vertrauen und das sich in Gefahr begeben. Ich denke nach. Die meisten Toten gibt es im Straßenverkehr. Soll ich mit meinem Auto Geisterfahrer spielen oder nachts ein Wettrennen durch die Stadt veranstalten? Dann werde ich vielleicht gerettet, aber ich muss hinter Gitter, weil ich den Tod eines Unschuldigen verursacht habe. Besser, ich rette jemanden. Ein Kind, das sich unvorsichtigerweise auf der Fahrbahn aufhält zum Beispiel. Doch das passiert zum Glück nicht so häufig. Während ich mir das Hirn auf dem Weg nach Hause zermartere, kommt ein Auto um die Ecke geschossen. Er übersieht mich doch glatt, der Idiot! Eine Chi- Eingebung lässt mich zur richtigen Seite ausweichen. 

Noch zwei Mal. Dann bin ich ihn endlich los.

 

„Trink nicht diese Milch! Sie ist bakterienverseucht!“, warnt mich eines Morgens mein Chi.

War das jetzt auch ein Rettungsversuch?

„Na klar, das Bakterium Aeromanas hydrophila hätte zu einem Durchfall geführt und zur Austrocknung.“

Wir sind zwar nicht in Afrika, aber mir soll es recht sein. Ich betrachte die Nummer zwei als Joker.

 

Sport ist Mord, heißt es. Das sagen zwar nur die Unsportlichen, was ich im Prinzip nicht bin. Ich beschließe, die Kletterwand in einem Sportzentrum auszuprobieren, um mich in eine berechenbare Gefahr zu begeben. Das Klettern macht mir wider Erwarten viel Spaß. Vielleicht sollte ich meinen nächsten Urlaub in den Bergen verbringen? Jeder Tritt von mir ist sicher, nicht aber der eines weiteren Kletterers. Ich sehe von der Seite, wie er den Griff verfehlt und packe ihn spontan am Arm, so dass wir beide abstürzen und auf der Gummimatte landen.

 

Was war das jetzt?“, fragt mein Chi.

„Ich soll dich retten, nicht du andere. Aber wenn du schon mal dabei bist, dann hole den Defibrillator. Dein Kumpel hat nämlich Herzprobleme.“  

Tatsächlich sehe ich, dass mein Mitsportler sich nicht aufgerappelt hat, sondern immer noch reglos auf der Matte liegt.

 

Sie fragen sich jetzt sicherlich, ob ich meinen Chi je wieder losgeworden bin.

Nein, nie!!!

Ich habe mittlerweile meinen Beruf gewechselt und mich zum Sanitäter ausbilden lassen. Wir beide arbeiten jetzt sehr erfolgreich zusammen. 

Was ist schon ein Geist ohne Körper oder ein Körper ohne Geist?