Von Michael Kothe

Susanne verließ mich im letzten Jahr. Nach 45 Jahren harmonischen Ehelebens hatten wir auch unseren Ruhestand in trauter Zweisamkeit verbringen wollen. Nun ist sie fort.

 

Unsere Wohnung bewohne ich noch immer, habe mich seit der Trennung regelrecht darin verkrochen. In letzter Zeit überkommt mich häufig eine Unruhe, etwas zieht mich wieder nach draußen. So nehme ich die Spaziergänge wieder auf, die ich früher mit Susanne unternommen hatte. Ich dehne sie aus, komme in unbekannte Viertel. Meine Aufgewühltheit lässt mich schließlich von Schusters Rappen auf unseren alten VW Golf umsteigen.

So bin ich in Neuwied gelandet. Freilich kenne ich es ein wenig, aber in dieser Gegend war ich noch nie, noch viel weniger im Frühjahr. In einer Wohnstraße mit villenähnlichen Doppelhäusern aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fahre ich in einen rosa Tunnel ein. Die japanische Zierkirsche steht in voller Blüte, hat die Fahrbahn in einen Teppich aus Blütenblättern verwandelt. Ich schaue mich um. Eine Allee, jeweils zwei Parkplätze zwischen zwei Bäumen auf einem breiten Bürgersteig vor den Fassaden altehrwürdiger ‚Stadthäuser‘.

In einem Fenster entdecke ich eine Anzeige. „Zu verkaufen“. Ich finde einen Parkplatz, stelle den VW ab und marschiere zurück zu dem Haus, das oder in dem etwas zu verkaufen ist. Auf mein Klingeln hin öffnet eine Dame in schwarzem Kleid und Rüschenbluse, nach einem Gruß und wenigen Augenblicken des gegenseitigen Taxierens beginnt die ‚Schlossbesichtigung‘. Eine Wohnung mit hohen Decken, umlaufenden Stuckbordüren, weiß lackierten Zimmertüren und hohen Fenstern, deren Kunststoffrahmen Sprossen imitieren.

Es muss noch das übliche Prozedere stattfinden. Bedenkzeit, Finanzierungsgespräche, Verkauf unserer, nein, jetzt meiner Wohnung und so weiter. Die Nocheigentümerin und ich plaudern auf der Sitzgruppe miteinander, ich frage nach Besonderheiten des Hauses.

„Naja, hier spukt´s.“ Sie lacht. „Der Garten grenzt an den Friedhof Elisabethstraße, für die Geister ist der Zaun kein Hindernis.“ Sie zwinkert mir zu und schenkt mir Kaffee nach.

„Oh, damit kann ich leben.“ Ich grinse selbstbewusst.

 Ich verabschiede mich. Bevor ich zusage, will ich die Gegend kennenlernen. Das Auto lasse ich stehen und gehe durch den rosa Tunnel zurück zum Anfang der Straße, biege durch einen gemauerten Torbogen mit schmiedeeisernem Tor in den Friedhof ein. Hohe Bäume, Kiesweg, sehr alte Gräber, ein paar an Denkmäler erinnernde Mausoleen.

 

Irgendwann erreiche ich den Ausgang gegenüber. Ich atme auf, die Sonne hat mich wieder, eine Bank lädt zum Verweilen ein. Ich lasse den Blick nach rechts und links über die autofreie, unbebaute Bogenstraße gleiten, genieße die Ruhe an dem idyllischen Spazierweg.

„Verzeihung, ist hier noch frei?“

Eine sympathische Stimme unterbricht meine Gedanken, ich schaue auf.

„Aber sicher. Nehmen Sie bitte Platz!“

Ich erhebe mich ein bisschen, deute eine Verbeugung an und setze mich wieder. Mein schlechtes Gewissen lässt mich an die Seite rutschen. Ohne nachzudenken hatte ich mich bei meiner Ankunft in die Mitte gesetzt und beide Arme auf der Rückenlehne ausgestreckt. Unauffällig betrachte ich meine Banknachbarin. Offenbar eine Endfünfzigerin, zierlich, das graue Haar ehrlich zur Schau getragen, ein farbenfrohes Sommerkleid aus einem dünnen, locker fallenden Stoff. Ihr Spitz ist nicht angeleint, er dreht sich zweimal im Kreis und streckt sich aus, legt den Kopf auf die Vorderpfoten. Die beiden sehen keck aus, passen zusammen. Sie gefällt mir.

„Ich habe mir gerade eine Wohnung angeschaut. In der Kinzingstraße steht eine zum Verkauf. Hochparterre, der Garten grenzt an den Friedhof.“

„Oh ja, das kenne ich. Ich wohne dort.“

„In der Kinzingstraße?“

„Nein, aber in der Nähe. Sozusagen dahinter, auf der Rückseite.“

Sie verwirrt mich. Hinter dem Haus der Garten, der Zaun, dann der … Ich habe ihren Scherz verstanden, grinse dümmlich, weil ich so lange gebraucht habe.

„Leider müssen Hunde da an die Leine. Also musste ich Lisa an Bekannte abgeben.“

Liebevoll blickt sie zu ihr herab, Lisa wiederum hebt den Kopf, schaut mit leuchtenden Augen zu ihrem Frauchen auf.

„Gehen Sie öfter hier mit Lisa spazieren?“ Ich gestehe mir ein, dass ich sie gerne wiedersehen würde.

„Ab und zu“, antwortet sie, „und das hier ist unsere Bank. Wenn Sie die Wohnung kaufen, sehen wir uns wohl häufiger. Und jetzt müssen wir weiter. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“

Diesmal erhebe ich mich ganz, mache einen Diener und grüße zurück. Nachdenklich bleibe ich noch einige Zeit, kann die Idylle aber nicht mehr uneingeschränkt genießen. Irgendetwas an meiner Zufallsbekanntschaft lässt mich grübeln. Es ist nicht nur ihre Bemerkung darüber, wo sie wohne, es ist ihre ganze Erscheinung. Nicht nur grazil und zerbrechlich. Sie schien mir mystisch, unnatürlich leicht, beinah transparent.

 

Zum Kauf bin ich entschlossen.

Ich stehe in der Kinzingstraße neben meinem Auto. Die Dame von der Bank und Lisa habe ich längst vergessen. Ein Paar mit Hund kommt auf mich zu, grüßt im Vorübergehen. Zwei, drei Schritte sind sie an mir vorbei, als ich einer plötzlichen Eingebung folge.

„Lisa!“

Der Spitz verharrt, zieht an der Leine in meine Richtung. Verwirrt lässt sein Herrchen mehr Leine von der Rolle, Lisa läuft zu mir, springt an mir hoch. Ich bücke mich zu ihr, ignoriere das „Verzeihen Sie, das macht sie sonst nie bei Fremden“ und gehe in die Hocke.

„Lisa, wir haben uns ja lange nicht gesehen! Wo ist dein Frauchen?“

„Verzeihung, Sie kennen den Hund? Und sein Frauchen, das bin ich.“

Verdutzt schaue ich zu der Frau hoch, einer geschätzten Mittvierzigerin mit brünetter Mähne.

„Nein, äh, ja, ich kenne Lisa. Und die Dame, mit der ich sie gesehen habe, ist wohl Ihre Mutter?“

 „Nein. Die ‚Dame‘ gibt es nicht. Ihr Frauchen war eine Nachbarin, sie starb vor zwei Jahren. Gegen Ende ihrer Krankheit hat sie uns Lisa übergeben. Nun haben wir nur Ärger. Sie büxt ständig aus und läuft zum Grab ihres früheren Frauchens. Frei laufende Hunde sind auf dem Friedhof verboten. Wir müssen. Guten Tag!“

„Auf Wiedersehen“, erwidere ich und sehe entsetzt, wie die Brünette ihrem Mann die Leine aus der Hand nimmt, sie aufspult und Lisa brüsk von mir wegzerrt.

„Wie heißt ihr früheres Frauchen?“ rufe ich dem Paar nach.

 „Ladenberg. Lena Ladenberg.“ Er nickt mir zu, bevor er zu seiner Frau aufschließt.

 

Der Kauf ist vollzogen. Ich habe mich in der Kinzingstraße eingelebt. Vom Wohnzimmerfenster aus blicke ich oft über den Garten hinweg zum Friedhof. Ich schlüpfe in meine Schuhe und mache mich aus dem Haus. Ob ich wieder dem Paar mit Lisa begegne? Einige Male noch hatten wir uns gesehen. Ich gehe zum Ende der Straße und wieder auf den Friedhof. Bei der Verwaltung habe ich gefragt und weiß ungefähr, wo das Grab liegt. In dem bezeichneten Areal schaue ich mir die Augen wund, endlich habe ich es gefunden! Ein seltsames Gefühl überkommt mich, dass das Grab leer sei. Ein paar Minuten verweile ich, dann wende ich mich ab.

Kurze Zeit später stehe ich vor ihrer Bank in der Bogenstraße.

„Guten Tag, Frau Ladenberg!“

Ich frage, ob ich Platz nehmen darf. Sie nickt wortlos, deutet neben sich.

„Sie wissen, wer ich bin?“

„Ich habe gefragt. Und Sie besucht. Sie waren nicht zu Hause.“

Ich zögere, bin nervös, aber ihre Leichtigkeit, die ich von unserem ersten Treffen in Erinnerung habe, gibt mir Mut.

„Darf ich Sie Lena nennen?“

Sie nickt.

„Ich bin Wolfgang.“ Sie drückt meine hingestreckte Hand. Ihre ist kalt und leicht.

„Sie sehen traurig aus, Lena.“

„Ich bin traurig, Wolfgang. Seit einer Ewigkeit sehe ich Lisa nicht mehr.“

„Ihre Herrchen lassen sie nicht mehr von der Leine, seit sie Ärger mit der Friedhofsverwaltung hatten. Und auf ihre letzten Tage hier wollen sie nicht nochmal riskieren, dass Lisa ausreißt. Sie ziehen weg.“

Mit schreckgeweiteten Augen sieht sie mich an.

„Arme Lisa, wie kann man ihr das antun? Wenn ich das geahnt hätte!“

Tränen steigen ihr in die Augen.

 

Die folgenden Tage halte ich mich kaum im Wohnzimmer auf. Ich habe mir einen Lehnstuhl vors Schlafzimmerfenster gezogen und verbringe darin die hellen Stunden. Meine Wache verspricht sich zu lohnen! Das Paar zerrt Lisa wieder die Straße entlang. Wie der Blitz bin ich draußen, hetze den dreien nach.

„Verzeihen Sie! Ich habe gehört, Sie ziehen fort. Was ist mit Lisa? Nehmen Sie sie mit?“

„Das geht leider nicht, wir ziehen in eine …“

„Sie kommt ins Tierheim, basta.“ Mit kalter Stimme schneidet sie ihrem Mann das Wort ab, wendet sich mir zu. „Und was, bitte, geht Sie das an?“

„Wenn Sie Lisa nicht mitnehmen dürfen … ich würde gern, also, ich wäre bereit…“

„Nun stottern Sie nicht rum! Sie würden sie nehmen?“

Ich habe einen Kloß im Hals, nicke nur.

„Dann kommen Sie heute Abend in die Sonnenstraße 42. Um 18 Uhr. Sie holen Lisa, ihr Körbchen, Futter und noch ein paar Sachen. Seien Sie pünktlich, ich warte nicht gern! Guten Tag!“

Ich schlucke. Der Kloß ist weg, aber reden kann ich immer noch nicht. Sie sind außer Hörweite, als ich ihnen ein ‚Auf Wiedersehen, bis heute Abend, und danke!‘ nachrufe.

 

Am nächsten Tag gehe ich mit Lisa an der Leine zum Ende der Kinzingstraße und noch ein Stück weiter. Ich lasse Lisa frei, sie läuft neben mir, wir biegen in die Bogenstraße ein, ich setze mich auf unsere Bank, und wir warten. Schritte kommen auf uns zu, werden schneller. Eine einzelne Person. Sie beginnt zu rennen.

„Lena! Hallo!“ begrüße ich sie. Ich fühle mich ignoriert, bin in meinem Innern aber voller Freude, kichere lautlos in mich hinein vor Rührung.

„Lisa!“ Sie kniet sich zu ihrem Spitz, streichelt, tätschelt den weißen Vierbeiner, erhebt sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange.

„Danke, Wolfgang! Kommt ihr nun öfter? Ich habe gesehen, dass du eingezogen bist und oft vom Wohnzimmer aus herüberschaust.“

„Ich habe vielleicht eine bessere Idee.“ Ich zwinkere ihr zu.

 

Zu dritt steigen wir aus dem Golf. Ich knipse den Karabinerhaken an Lisas Halsband. Auch in diesem Park sind Hunde nur an der Leine geduldet. Auf den Neuwieder Friedhof hinter unserem Garten müssen wir nicht mehr. Lena wohnt jetzt bei mir und Lisa.

 

 

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