Von Juliane Soain

„Captain Gartner, ich erwarte Ihre Anweisung!“, versucht der erste Offizier zu ihr durchzudringen.

Wo fange ich bloß an? 

3… 2… 1…0… -1… -2… -3… 

Genug mit dem Unsinn Laura!

„Wie ist der Status?“, springt sie aus ihrem Stuhl auf und versucht alle Eindrücke in sich aufzunehmen.

Roth überfliegt die inzwischen bunt leuchtenden Anzeigen. Von grün bis Rot ist alles dabei. Wenn er über eine Anzeige fährt, kribbelt es unterschiedlich intensiv, je nach Systemzustand, in seinem Finger. Aufgeregt übersetzt er sie in Sprache: „Sieht nicht gut aus. Schilde halten nur noch wenige Treffer aus. Waffenbatterien zwei und drei sind zerstört, vier und neun überhitzt. Sensormatrix außer Betrieb. Wir können nur noch auf Sicht manövrieren.“

„Wie ist der gegnerische Status?“

„Laut unseren Berechnungen ist das Schiff NX-1324 in einem ähnlichen Zustand. Bis zum Schildversagen sind ungefähr noch 39 Gigawattstunden Einwirkung notwendig.“

Captain Laura Gartner setzt sich wieder in ihren Stuhl. 

Endet meine Reise etwa schon hier? 

Nein! 

Das ist keine Option.

Nach diesem Entschluss fängt der Captain an, einige Berechnungen in seine Konsole zu tippen.

„Welche Geschütze sind einsatzbereit?“

Der erste Offizier erhebt sich. „Nur noch die Vorderen. Captain, was haben Sie vor?“

„Dafür sorgen, dass wir alle nach Hause zurückkehren!“

„Offizier Roth, setzen Sie sich wieder. Auf mein Kommando wird Angriffsmuster K19A und Ausweichmanöver A13T eingeleitet“, woraufhin ein Raunen über die Brücke geht.

Doch der Captain ist längst wieder in die Konsole vertieft.

„Commander Hoch, Schilde auf Fluktuation umschalten. Nehmen Sie Frequenz zwölf“, widerstandslos folgt Sie der Anweisung.

Das verschafft uns Energiereserven. Aber die Gefahr eines Hüllenbruchs steigt.

Mit einer sanften Handbewegung richtet Sie das gewaltige Schiff auf das gegnerische aus. Ihr Herz klopft wie verrückt. 

Okay, spielen wir Angsthase!

Captain Gartner beschleunigt das Schiff. Alle auf der Brücke sind verstummt und arbeiten mit höchster Konzentration. Nur die Geräusche der Computer sind zu hören. Alarme und Warntöne dominieren die Kulisse.

Wenige hunderte Meter vor dem Gegner gibt Gartner den Befehl: „Offizier Roth, jetzt!“

Vordere Geschütze eröffnen das Feuer. Schubdüsen und Antrieb drücken das Raumschiff ins vorgesehene Ausweichmanöver. Eine unglaubliche Belastungsprobe für Mensch und Material. Trotz Trägheitsdämpfung spüren alle Anwesenden die enorme Fliehkraft.

„Captain, unglaublich! Wir dringen durch“, jubelt Roth.

„Zielen Sie auf den Kern“, befiehlt der Captain.

Plötzlich schaut Commander Hoch besorgt. „Irgendwas stimmt da…“

Auf einmal werden alle von einem Lichtblitz geblendet. Ohrenbetäubender Lärm von berstendem Metall, verglühenden Bauteilen und Schmerzschreien übertönt alles.

Wie in Trance zieht sich Gartner an der Konsole hoch und blickt nach links. Ihr entgleist jeglicher Gesichtsausdruck, als sie dem Kraftfeld beim Wachsen zusieht. Die Meldung vom Computer bekommt sie nur noch unterbewusst mit.

„Automatische Notversiegelung des Hüllenbruchs wird eingeleitet.“

 

Unruhig wälzt sich Captain Gartner. 

Du musst loslassen.

 

Ihr Blick fixiert das beschädige Raumschiff. Wie ein Geisterschiff liegt es in der Bucht. Verlassen, der Strom abgestellt. Die Linke Seite des Raumschiffs fast vollständig vaporisiert. 

An diesem Tag haben wir viele gute Männer verloren.

Auf einmal wird sie vom Trockendockleiter aus ihren Gedanken herausgerissen. „Captain Gartner, Sie haben es aber ordentlich krachen lassen. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Lilith ist in zwei Wochen wieder einsatzbereit. Das bekommen wir wieder hin.“

Sie legt ihre Hand auf die Scheibe, als ob das Raumschiff ihr ebenfalls einen Flügel reichen würde. 

 

Du musst loslassen.

 

„Wahnsinn, schaut euch das an“, rufen aufgeregte Kinder. 

Majestätisch gleitet Lilith durch die Wolkendecke und setzt zur Landung an. Sanft legt der Gigant an. Es ist ein besonderes Ereignis, denn solch große Raumschiffe landen nur selten auf Planeten. 

Scharenweise laufen die Kinder zum Steg. Voller Freude erwarten sie bereits die Ankunft. Als der Captain den Steg verlässt, scharren sie sich sofort um sie. 

„Captain Gartner, endlich kommen Sie uns wieder besuchen!

Was haben Sie uns diesmal mitgebracht? 

Erzählen Sie mir eine Geschichte!

Wo waren Sie zuletzt?“, reden sofort alle durcheinander.

Ein Lächeln steht ihr ins Gesicht geschrieben. „Kinder, Kinder, nicht so stürmisch. Ich freue mich auch, euch zu sehen. Commander Roth hat eine Kiste für euch mitgebracht. Schaut dort mal rein. Ich komme später zu euch und erzähle von meinen neuesten Abenteuern.“

„Es tut mir leid, Captain, aber ich war zu spät. Die Kinder sind zu schnell für mich. Ich konnte sie nicht davon abhalten“, entschuldigt sich der abgehetzte Wolta.

„Ach Wolta“, lacht der Captain und umarmt ihn, „es ist schön, dich wiederzusehen. Du weißt doch, dass ich die Kinder gernhabe.“

„Was verschlägt dich hierher?“

„Na, ich brauche Treibstoff.“

„Direkt wie immer“, schüttelt Wolta mit dem Kopf.

Mit einem Augenzwinkern merkt Gartner an: „Und natürlich, weil ich dich wiedersehen wollte.“

Plötzlich zieht jemand an Gartners Ärmel. „Kannst du uns eine Geschichte erzählen?“

„Schau nachher in meinem Büro vorbei. Ich stelle schon mal die Rechnung an die Weltraumvereinigung aus und koche dir deinen Lieblingstee. Du weißt, den gibt es nur hier“, zwinkert er ihr zu.

„Komm Captain!“, zieht eines der Kinder an ihrem Bein und lässt ihr nicht mehr die Möglichkeit zu entkommen.

„Na gut, überredet. Aber beschwert euch nachher nicht, dass sie zu gruselig ist.“

Nachdem sich alle am Dorfplatz versammelt haben, beginnt Laura mit der Geschichte.

„Letzte Woche sind wir auf einen geheimnisvollen Nebel gestoßen. Plötzlich befinde ich mich außerhalb vom Raumschiff“, blickt sie zu Lilith auf. 

 

Wieder wälzt sich der Captain unruhig hin und her. Sie versucht, nach dem Schiff zu greifen. Doch es funktioniert nicht. Langsam entfernt sich das Vehikel immer weiter von ihr, bis es ganz klein ist. Auf einmal befindet sie sich in einem dunklen Raum. Lilith steht vor ihren Füßen. Zum Greifen nah. 

Bin ich gewachsen oder das Schiff geschrumpft?

Sie hebt das Raumschiff hoch und hält es in ihrer Hand. Verwundert schaut sie auf es herab und dreht es in ihrer Hand. „Aus dieser Perspektive habe ich es noch nie betrachtet.“

Du musst loslassen!

„Wer ist da und warum sagst du das andauernd zu mir?“, folgt sie trotzdem der Anweisung, entgegen ihrer Gefühle und lässt das kleine Raumschiff los.

Es ist in Ordnung!

Plötzlich beginnt der dunkle Raum zu zerbrechen. Du musst aufstehen!

„Warum, ich stehe doch?“

Du musst aufstehen!

Gartner schreckt auf und blick völlig überrumpelt in ein Gesicht. „Ach Roth, Sie sind es nur.“

„Deswegen müssen Sie nicht nach mir schlagen Captain. Ich habe mir nur Sorgen um Sie gemacht“, weicht der Offizier ihrem Schlag aus.

„Wie spät ist es?“

„In einer Stunde beginnt Ihr Termin. Sie sollten sich beeilen, wenn Sie noch Frühstücken wollen.“

Kurz bevor Offizier Roth den Raum verlässt, dreht er sich noch mal um. „Sir, ich melde mich ab!“ Captain Gartner nickt und steht auf. 

Das ist er also. Der Tag, vor dem ich mich am meisten gefürchtet habe.

Schwergängig schlurft sie ins Bad. Jede Bewegung erfolgt in Zeitlupe. Fast so, als ob sie versucht, die Zeit damit anzuhalten. Ein Blick in den Spiegel verschlechtert ihre Laune.

Ach Laura, das ist also aus dir geworden?

Als sie ein Klopfen hört, bleibt ihr Herz stehen. Langsam schleicht sie zur Tür und öffnet sie.

Commander Hoch erwartet sie auf der anderen Seite. „Captain, wir müssen los. Sind Sie soweit?“

Gartner nickt. „Muss nur noch meine Bluse überziehen und wir können los.“

Schweigend gehen sie einige Gänge entlang, bis sie vor dem Trockendock stehen bleiben.

„Captain, das hier ist für Sie“, reicht Commander Hoch ein Tablett mit einem Gegenstand darauf.

„Danke Commander, ich wäre jetzt gerne allein.“

Als Hoch außer Sichtweite ist, berührt sie die Scheibe. Fixiert Lilith mit ihrem Blick. Friedlich ruht sie in der Bucht. Erinnert Gartner an ihre besten gemeinsamen Jahre.

Ach Lilith, ich wusste, dass es damals noch nicht das Ende war. Unser Abenteuer hatte gerade erst begonnen. Zusammen hatten wir Frieden im Cluster gesät, Freundschaften aufgebaut und Seite an Seite, diese verteidigt. Nicht immer ist alles gut ausgegangen, doch du hast dein Bestmögliches getan, um uns zu beschützen. Die Narben auf deiner Hülle sind Zeitzeugen davon. Und du hast uns in ferne Galaxien und wieder sicher nach Hause gebracht.

Dafür möchte ich dir danken!

Doch nun gehören wir beide zum alten Eisen.

Der Letzte macht das Licht aus oder wie geht dieses uralte Sprichwort?

Traurig schaut Gartner auf die Fernbedienung in ihrer Hand, erhebt sie in Richtung Raumschiff. Ihr Finger ruht zögernd über dem einzigen Knopf darauf.

Langsam verschwimmt Lilith vor ihren Augen.

„Alle Schiffsysteme werden heruntergefahren. Kernabschaltung wird eingeleitet.“

Tränen laufen über ihre Wangen. Es kommt ihr vor, als ob sie ein Flüstern hören würde. Es ist in Ordnung! Immer noch verschwommen, nimmt sie wahr, wie nach und nach die Lichter ausgehen. 

 

Mach‘s gut mein Mädchen.

 

V2