Von Franck Sezelli

Ich öffne das Fenster und bin vom Anblick, der sich mir bietet, überwältigt. Dabei ist es gar nicht so sehr der in der Sonne liegende Fluss und die hellen, freundlichen Fassaden der Gebäude gegenüber. Nein, es ist die Erinnerung, die mich überwältigt.

Wie lange ist das her? Wenn mich nicht alles täuscht, genau zehn Jahre. Es war Frühling und es duftete herrlich an diesem denkwürdigen Tag.

Nach einem Spaziergang durch das sehenswerte Zentrum der alten Stadt war ich schließlich an diesem kleinen Flüsschen gelandet. Ich setzte mich auf eine Bank und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen.

Da stand sie auf einmal! Keine zwei Meter von mir entfernt, am Geländer, und schaute auf das Wasser. Ihre schlanke, irgendwie zerbrechlich wirkende Gestalt bezauberte mich vom ersten Augenblick an. Ich weiß gar nicht mehr, was sie anhatte. Vielleicht einen knielangen Rock, der ihre schönen nackten Waden betonte und eine Bluse? Ja, eine Bluse, fast durchscheinend, das bemerkte ich aber erst später, viel später!

Jetzt stand sie einfach nur da und schaute auf den Fluss. Und ich bewunderte ihre Figur, ihren schlanken Hals, die Rückenlinie und den kleinen Po, der sich unter dem Rock abzeichnete. Sie hatte schulterlange rote Haare.

Dann drehte sie sich um – und die Welt war eine andere! Ihre graublauen Augen versenkten sich in meine, und ich nahm trotz des Schwindelgefühls, das mich erfasste, ein Lächeln wahr. Es war unbeschreiblich, das hatte ich noch nie erlebt!

Ihr muss es ähnlich ergangen sein, denn sie machte die paar Schritte auf meine Bank zu und setzte sich neben mich, meinen Blick wie verzaubert festhaltend.

Magali hieß sie …

 

Ich weiß nicht, was ihr an diesem Tage zugestoßen war, irgend etwas Ungewöhnliches wird es gewesen sein. Denn völlig ungewöhnlich ging es weiter. Mit uns!

 

Wir fassten uns an den Händen und liefen am Kai entlang, blieben immer mal stehen und schauten uns in die Augen. Ich war völlig verzaubert. So gelangten wir auf die Brücke, die ich hier bei meinem Blick aus dem Hotelfenster wieder vor Augen habe und von dort auf die kleine einladende Terrasse neben der Kirche am anderen Flussufer.

Eine Weile saßen wir dort auf einer Bank, gingen dann aber weiter, die große Straßenbrücke wieder hinüber und landeten in einem Café. Als wir zuvor an dem Hotel Le rêve  vorbeikamen, sahen wir uns fast verschwörerisch an – wir dachten wohl dasselbe.

Jedenfalls saßen wir uns auf der Terrasse des Cafés gegenüber, schauten uns weiter in die Augen und hielten uns über den Tisch hinweg an den Händen. Ab und zu nippten wir wahrscheinlich an einem Rotwein, den wir bestellt hatten – aber da kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Wir verstanden uns ohne Worte. Zum Glück! Denn Magali sprach kein Deutsch und mein Französisch ist sehr rudimentär.

Nicht viel später liefen wir die paar Schritte wieder zurück zum Hotel. Le rêve, das bedeutet Der Traum, soviel wusste ich. Und es wurde ein solcher! Magali sprach mit der freundlichen Dame am Empfang, bekam einen Schlüssel, nahm mich bei der Hand und führte mich in das Zimmer. Es war die Magie de l’amour, die uns überwältigt hatte.

 

Noch heute, nach zehn Jahren, steht mir alles lebendig vor Augen. Ich atme tief aus und lächle in mich hinein. Wenn ich es recht bedenke, könnte es genau dasselbe Zimmer gewesen sein. Es roch genauso! Damals aber fühlte und roch ich bald nur noch sie – Magali!

Eine Begegnung von solcher Intensität, die sich mir wohl für das ganze Leben tief eingebrannt hat.

Der unausweichliche Abschied am nächsten Morgen tut mir heute noch manchmal weh. Auch jetzt durchströmt mich ein Gefühl von Wehmut, das ich mir nicht erklären kann – führe ich doch ein glückliches Leben!

 

Ich war in all den Jahren noch des Öfteren in Frankreich, aber nie mehr in dieser wundervollen Stadt meiner Sehnsucht. Wenn ich es geplant hatte, kam dennoch immer etwas dazwischen und wir sind woanders gelandet.

Jetzt aber stehe ich hier und die Erinnerungen überwältigen mich …

»Was machst du da? Was stehst du da so lange, Schatz? Wollen wir nicht rausgehen in die Sonne und die Stadt erkunden?«

Noch einmal nehme ich das Bild am Fluss in mich auf, die Vergangenheit wird von der Gegenwart eingeholt. Ich schließe das Fenster und ziehe die Vorhänge zu. Der Lichtschein, der aus dem kleinen Korridor ins Zimmer fällt, lässt das Hotelbett fast unwirklich, wie in einem Traum, erscheinen. Bilder flackern in meinem Kopf auf. Erst mein entschlossener Griff zum Lichtschalter beendet die aufkommenden Erinnerungen. Ich ziehe die Tür hinter mir zu und folge meiner Frau.

 

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