Von Carola Hofmann

 

„Du bist die Letzte heute. Denkst du dran zu schauen, ob überall das Licht aus ist?“

 

„Klar, mach ich doch immer und ich bin ja nicht das erste Mal hier.“

 

„Nee, aber der Peter meinte, gestern wäre im Keller auch noch Licht an gewesen. Schau also da auf alle Fälle nach.“

 

„Geht klar. Mach ich. Schönen Feierabend!“

 

Gisela war lieb und sie meinte es gut. Normalerweise schlossen sie gemeinsam ab, wenn sie Spätschicht hatten, aber Gisela hatte noch einen Termin und ging deshalb früher. Abgesehen davon hatte Gisela aber auch keine Ahnung, wie Kate sich in dem alten Keller fühlte. Der Keller war groß, mit vielen Winkeln, Gewölben und zeitweise müffelte es auch ziemlich doll. An einem ganz bestimmten Ort dort unten in der Finsternis wehte jedoch ein leichter Wind, der einen ganz widerlich süßlichen Geruch verströmte. Schon bei dem Gedanken wurde ihr schlecht und es graute ihr, dort runter zu müssen.

 

Schnell verdrängte Kate jedoch den Gedanken. Ein halbe Stunde bis Feierabend hatte sie noch. Sie beschloss sich einen Tee zu kochen und sich dann auf eine der breiten Fensterbänke zu setzen, um dem Schneetreiben zuzusehen. Das Tagwerk war erledigt und an diesem eisig kalten Wintertag hatten sich kaum Besucher in die alte Bibliothek verirrt. Jetzt war niemand mehr da. Sie mochte diese seltenen Momente in dem historischen Gemäuer. Die Bibliothek war noch eine ganz alte, aus einem längst vergangenen Zeitalter und gut erhalten. Mit mannshohen, massiven Holzregalen in denen etliche antiquarische und zum Teil richtig wertvolle Bücher standen. Reihe um Reihe um Reihe und vor neugierigen Blicken hinter Gittern verschlossen.

Sie setzte sich auf eine der dicken Fensterbänke, die genau für solche Momente der Ruhe mit Kissen und Sitzpolstern ausgekleidet waren. Mit dem Blick nach draußen hing sie ihren Gedanken nach, nippte an ihrem Tee und vergaß die Zeit.

 

Von Weitem hörte sie eine Kirchenturmuhr schlagen, es war neun Uhr abends. Feierabend. Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Sofort kam ihr der Keller in den Sinn. Kate beschloss, einfach zuerst hinunter zu gehen und nachzusehen, ob alle Lichter aus waren. Unangenehme Dinge hatte sie noch nie gerne vor sich hergeschoben und so machte sie sich schleunigst auf den Weg. Die alte Holztreppe knarzte, als sie die Stufen hinunterlief. Der angelaufene Schlüssel kreischte im Schloss und die Tür sprang auf.

 

Auf dem ersten Blick war alles dunkel. Doch weiter hinten sah sie noch einen Lichtschein. Wer hat denn dort hinten die Lampe angelassen und vorne ausgemacht, fragte sie sich im Stillen. Mit zügigen Schritten ging sie auf die Lichtquelle zu, den Weg dorthin hatte sie im Laufe der Jahre gut kennengelernt. Unmittelbar davor blieb sie stehen, schaltete das Licht aus, drehte sich um und begriff in dieser Sekunde, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

 

Der Weg zum Licht war erleuchtet gewesen, nun aber stand sie in völliger Dunkelheit in dem alten Keller. Sie drehte sich zurück, um erneut nach dem Schalter zu tasten und doch bekam ihn nicht zu fassen. Sie spürte zwar die Wand unter ihren Fingern, aber den Schalter fand sie nicht. Hab ich mich etwa in die falsche Richtung gedreht? Sie drehte sich nochmal und wollte wieder nach dem Schalter tasten, aber fasste ins Leere. Hier war keine Wand mehr. Stattdessen stand sie völlig orientierungslos im Keller. Rings um sie herum standen Regale mit weiteren Büchern und da der Keller ziemlich groß war, gab es auch viele weitere Gänge und Abzweigungen. Aber nur einen Ausgang. Und den musste sie nun finden. Man glaubt ja gar nicht, wie schnell man in der Dunkelheit die Orientierung verlieren kann, dachte sie. Leider gab es hier auch keine Taschenlampe und das Handy mit der Taschenlampenfunktion lag natürlich noch oben am hellen Arbeitsplatz. So tastete sie sich vorwärts, in der Hoffnung, wenigstens in die richtige Richtung zu gehen. Was war eigentlich mit der Notbeleuchtung? Sollte die nicht wenigstens etwas Licht spenden und den Weg weisen? Ach nein, erinnerte sie sich. Der Hausmeister erwähnte unlängst, das mit der Stromversorgung generell etwas nicht stimmte und dass daher auch die Notbeleuchtung im Keller nicht ging. Nur oben in den Räumen der Bibliothek selbst funktionierte noch alles.

 

Die Dunkelheit hatte nach einer Weile ihre übrigen Sinne geschärft. Plötzlich nahm sie auch das kleinste Geräusch wahr. Raschelte da nicht etwas? Vielleicht eine Maus? Zwischen den alten Regalen fühlten die sich bestimmt sehr wohl. Und aus dieser Richtung kamen eindeutig Schritte. Oder bildete sie sich das nur ein? Sie konnte es nicht sagen. Tastete sich weiter an den Regalen entlang und griff plötzlich ins Nichts. Da war kein Regal mehr. Aber auch keine Wand. War sie nun noch auf dem Hauptweg oder schon in einen Seitengang abgebogen, ohne es zu bemerken? Sie vermochte es nicht zu sagen. Und um sie herum nur endlose Schwärze. Sie dachte, die Augen würden sich an die Dunkelheit gewöhnen, und dann könnte sie noch etwas sehen, wenigstens einige Schemen. Aber nein, die Dunkelheit war so schwarz, dass kein Licht hindurch drang. Auch nicht das Licht vom Treppenhaus, da die Kellertür von innen mit einem schweren Vorhang verhangen war, um Zugluft zu vermeiden, die schädlich für die alten Bücher war.

 

Was sollte sie tun? Um Hilfe rufen kam nicht in Frage, es war niemand mehr im Gebäude. Der Wachdienst war noch nicht da. Also tastete sie sich vorsichtig weiter. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Was zum Teufel war das? Sie war doch ganz allein hier drin. Oder etwa doch nicht? Eine Gänsehaut kroch ihr den Rücken entlang. Hatte sie sich das nur eingebildet? Ja, so musste es sein, beruhigte sie sich selbst und tastete sich weiter nach vorn. Oder ging sie doch unabsichtlich immer tiefer in den Keller hinein? Selbst das war unmöglich rauszufinden. Auch für die Zeit hatte sie jedes Gefühl verloren. Wie lange war sie jetzt schon hier unten? Eine Stunde? Zwei? Oder doch nur fünf Minuten? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Aber sie tastete sich immer weiter vorwärts, mit Händen und Füßen, Hauptsache immer weiter, immer dem Ausgang entgegen.

 

Kate wusste nicht wie lange sie schon wieder gelaufen war und wo sie sich befand, als sie eindeutig Schritte hörte. Aus welcher Richtung konnte sie nicht sagen, aber sie waren da. Sie drehte sich nach den vermeintlichen Schritten um, tastete in die Dunkelheit. Mit einem Mal nahm sie diesen furchtbaren süßlichen Geruch war. Sie hielt inne und unterdrückte mühsam einen Würgereiz. Wollte sich an der Wand abstützen, erinnerte sich jedoch zu spät dran, dass da keine war. Sie griff ins Leere und stürzte zu Boden. Ihre Hände fassten in etwas fedriges, klebriges. Dazu kam der süßliche Geruch, der hier sehr intensiv war. Zugleich hörte sie Schritte auf sich zukommen. Sie schrie und schloss für einen Moment die Augen. In dem Augenblick war ihr egal, wer da um die Ecke kommen würde. Hauptsache, sie kam hier schnell wieder raus, aus dem Keller des Grauens.

 

Als sie die Augen wieder öffnete sah sie den Strahl einer Taschenlampe, der ihr in den Augen blendete. Nach einer kurzen Weile hatten sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt und Kate erkannte Gisela.

 

„Na, zum ersten Mal hier biste nicht, nee, aber die Taschenlampe in der Schreibtischschublade haste trotzdem nicht mitgenommen. Hab ich damals och nicht, als ich das erste Mal seit langem wieder in den Keller musste. Ich musste bis zum Morgen ausharren, hatte mich dermaßen verlaufen, dass ich nicht mehr wusste wohin jetzt. Hab mich dann einfach hingelegt und geschlafen. Sobald es hier unten durch die Kellerfenster hell wurde, hab ich mich schleunigst aus dem Staub gemacht, einen Wachdienst gab es nämlich auch nicht, der mich hätte finden können.“

 

Das alles prasselte in atemberaubender Geschwindigkeit auf Kate ein, die einfach nur froh war, hier raus zu kommen und nicht bis zum Morgengrauen warten zu müssen.

 

„Hast du mich etwa gesucht?“

 

„Na was denkst du denn? Ich wohn ja nicht weit von hier und als ich Heeme in meiner Stube saß, kam mir die Geschichte von damals wieder in n Sinn. Und ich dachte, läufst mal los und schaust nach. Als ich ankam, war die Bibliothek noch hell beleuchtet, aber es war schon bald 10. Guckst mal nach, dachte ich, hier stimmt was nicht. Aber warum schreist du denn so?“

 

„Hier ist dieser widerliche süßliche Geruch und ich bin in irgendwas Klebriges gefallen.“

 

„Na, das sind wohl Spinnweben, hier hinten gibt es jede Menge davon. Und was den Geruch angeht: Draußen stehen die Biomülltonnen vom Restaurant, welches im Nebengebäude ist. Leider direkt vor der Lüftungsanlage, die die Frischluft ansaugt. Wenn die Wetterlage so ist wie jetzt und die Mülltonnen schon lange nicht mehr abgeholt wurden, saugt die Lüftung leider auch diesen süßlichen Geruch ein. Den hast du gerochen. So, und jetzt hoch mit dir. Ich koch dir noch nen Tee zur Beruhigung und dann ab nach Hause.“

 

„Danke, Gisela!“

 

Mehr brachte sie nicht raus, so erleichtert war sie.

 

 

 

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