Von Marco Rauch

Nürnberg, 1980

Der 7-jährige Markus flitzte vergnügt durchs Wohnzimmer, sprang gekonnt übers Sofa, bremste mit seinen Socken auf dem Flickenteppich ab und plumpste mit einem lauten Rumpeln auf die Seite. Doch sofort war er wieder auf den Beinen, sauste durchs Esszimmer um den Tisch herum, hielt einen Moment inne, grinste und rannte wie der Wind zu seiner Mama, die ihn nur mit Mühe abfangen konnte. „Du kleiner Wirbelwind, du wirst dir noch wehtun“, mahnte sie mit mütterlicher Liebe in den Augen und wuschelte über sein braunes Haar. Nach dem Abendessen kam sie in sein Zimmer, um ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Elliot das Schmunzelmonster, Markus liebte diese Geschichte. In der Szene, in der Pete mit Elliot im Park singt, hob sie lächelnd ihre Stimme und sang das Lied mit: „Du hältst mich im Arm und du wiegst mich zärtlich und ich schmieg mich an, ich hab dich lieb.“ Dabei blickte sie ihm liebevoll in die Augen und der Junge spürte ein warmes Gefühl von tiefer Geborgenheit in sich. Für ihn war die Welt in Ordnung und es gab keinen Grund, etwas anderes zu denken. 

 

***

 

Nürnberg, 2020

Mit gesenktem Kopf schlurft eine Gestalt über die Straße. Der Körper eingepackt in eine schwarze Winterjacke und um die Beine schlabbert eine Anzughose im Wind. Die Hände tief in den Taschen vergraben gleicht der gebeugte Gang dem eines alten Mannes. Mit jedem Schritt hinterlassen Fußsohlen ein Geräusch von Mühseligkeit auf dem schroffen Asphalt, der wie schwarz gepresste Kohle trübselig im Gesichtsfeld liegt. Leben. Was soll das sein? Kalter Wind beißt in die Augen, fordert Tränenfluss wie um zu betonen, welche Stimmung gerade eine Seele zerfrisst. Ein Schniefen, um ein Tropfen zu verhindern, und Hände ziehen einen Kragen noch höher über kaltgerötete Wangen. Schritt für Schritt schrappen Schuhe über den Gehweg, während ein Blick eine Geschichte von Trauer und Verzweiflung nicht verbergen mag. Wie konnte es nur so weit kommen?

Aufgewachsen in einem Haus hatte das sensible Kind eine glückliche Kindheit erlebt, an die es auch heute in so manch finsterer Stunde wehmütig zurückblickte. Sein Vater, ein Arbeitstier und so gut wie nie krank gewesen. Seine Mutter, Hausfrau und Schneiderin, zauberte die schönsten mit liebevollem Griff geschneiderten Kostüme zum Fasching und war sich auch nie zu schade, den ein oder anderen Ausrutscher des Kindes zu flicken oder nähen. Alles in dieser Familie schien harmonisch und von Gott gesegnet bis eines Tages des Schicksals harte Hand die heile Welt zertrümmerte wie eine einst prächtige Seifenblase.

Ein tiefes Seufzen verliert sich im Wind, der so unbarmherzig bläst an diesem Herbsttag, als wolle er Strafe verkünden für ein Leben voller Angst. Missmutig stapfen Schritte Stufen hinauf, jeder Einzelne so schwer wie ein ganzes Tagewerk. Ein Kopf nach unten hängend auf des Zeitzahns beständige Werk am Holz. Mühsal und Trübsinn begleiten den Weg als Last auf den Schultern, deren einzige Freude es zu sein scheint, in die Knie zu zwingen. Endgültig. In der Wohnung fallen achtlos Jacke und Schuhe, Schritte schlurfen zum Bad, das Wasser der Wanne heiß aufzudrehen. Dann zerbricht eine Kraft und ein Körper sackt zu Boden, mit schmerzverzerrtem Blick und feuchten Augen.

Wie aus dem nichts kam dieser Tag, als sie bleich wie Kalkruinen in der Friedhofskapelle lag, aufgebahrt zum letzten Gruß. Ungläubigkeit versammelte sich in jenem Raum und tiefster Widerspruch. Aus der Ferne konnte man ein Herz mit kristallinem kling zerspringen hören. Fast als wäre es nicht wahr, ein Traum, geträumt von einem 7-jährigen Kind, um der Wahrheit schmerzend Stich zu entrinnen.
Jahre später zogen Jungen durch des kleinen Dorfes Straßen, in dem sie aufgewachsen waren, behütet. Lag es am Wetter? Vielleicht auch nur an einem dunklen Fleck auf seiner Seele. Einer der Freunde begann zu zetern, ein Weiterer folgte. Dann flogen Fäuste, Spucke und Schimpftiraden. Das gebrechliche Kind ward abermals gebrochen. Ein Überlebensinstinkt, der nur das eine kannte, tat, was er musste, Flucht. Zu Hause wartete eine Dusche und hinterher ein überfordertes Kind.
Jahre später, ein neuer Freundeskreis. Das Kind war nun bereits 16 und verbrachte gerne Zeit mit seinen Freunden und auch die Mädchen schaute es gerne an. Manchmal auch mehr als das. An einem Abend wurde es in eine Wohnung gelockt. „Komm, wir haben was zu rauchen.“ Dort stand die Gruppe versammelt, begrüßte das Kind herzlich. Ein paar Bier später fielen zunächst falsche Anschuldigungen, dann das Kind. Von schweren Schlägen gepeinigt wusste es nicht, wie ihm geschah. Es ward abermals gebrochen. Auf dem Flur liegend, blutend, verwirrt und desorientiert, ein Überlebensinstinkt kroch zu seinem Fahrrad. Wie automatisch formte sich ein fataler Gedanke, führte von Tankstelle zu Notdienstapotheke, endete an einem Spielplatz. Dunkelheit und Straßenlaternen, ein Kind auf einer Bank, in der Hand eine Flasche und in der anderen eine schmale Schachtel. Kleine weiße Pressstücke fanden ihren Weg die Kehle hinab, sorgsam eines nach dem anderen. 

Etwas später, sorgenvolle Blicke durchstreiften die Umgebung auf der Suche nach Gefahr, nach IHNEN. Im Lichte der Straßenlaternen bewegten sich Schatten von Bäumen und Büschen. Doch ein Gehirn sah mehr als Schatten. Die besorgten Blicke häuften sich, ungläubig, rätselnd. Hartes Pochen unter einer Brust, immer mehr und immer mehr. Irgendwann Gewissheit, sie lauerten dort. Keine Schatten, sie! Hastige Schritte, ein Fahrrad entfernte sich, steuerte direkt in Richtung innerstädtische Autobahnauffahrt. Dahin würden sie ihm nicht folgen. Quietschende Reifen, Lichter in der Dunkelheit. Das Fahrrad fuhr weiter in Schlangenlinien mit hektischem Pedaltritt.

Ein Kind auf einer Polizeiwache, es drehte sich eine Zigarette. Sie fiel zu Boden. Verärgert beugte es sich nach unten, suchte, nichts. Noch mal von vorne. Wieder fiel sie runter, wieder beugte es sich und wieder war dort nichts. Das Spiel ging weiter und das Kind verlor immer. Irgendwann fragte ein Mann in weißem Umhang „Was hast du genommen?“ 

Das Kind blickte ihn verwirrt an. „Schlaftabletten und ein paar Bier“, war seine Antwort.

„Wie viele Schlaftabletten?“

„2 Packungen?“, fragte es mehr, als es sagte.

Wortlos notierte der Mann ’drogeninduzierte Halluzinationen, Verdacht auf Psychose’. Diese Nacht verbrachte das Kind tief schlafend auf einem Bett, Hände und Beine festgebunden. 2 Wochen später durfte es die Psychiatrie verlassen, ein neues Leben. Doch etwas von jener Nacht war ihm geblieben: Angst. Paranoia. Verhasste Begleiter in einem Leben ließen ihn trinken und vereinsamen. Die Zeit verging. Nach 3 Aufenthalten in der Klinik innerhalb von 3 Jahren verließ das Kind die Entgiftungsstation gestärkt, mit klarer Absicht: nie wieder. Und tatsächlich, es blieb trocken. Viele Jahre halb normalem Lebens, Psychotherapie, Arbeit, Freundin. Doch stets im Inneren, das Monster, das nicht aufhören wollte zu rumoren. Angst. Vor Menschen, Versammlungen, Kirchweihen, ging nicht. Freundinnen kamen und gingen und jedes Mal, wenn eine ging, ging auch ein Teil des Kindes mit ihnen. Bis es die Frauen nicht mehr ertragen konnte, sie alle hatten ihn verlassen, sie alle hatten ihn enttäuscht, sie alle hatten ihm wehgetan, dem armen Kind. Manchmal in der Nacht, wenn es dunkel war im Schlafzimmer und ruhig, grämte es sich und weinte um seine Mama. Als sie ging, damals, blieb für das Kind die Zeit stehen, im Innersten. Das Kind war nun 47, ein Teil von ihm noch 7. Die verletzte Seele, die nicht heilen wollte, verweigerte des Schicksals Wahrheit bis zu jenem Tag, als Vater starb. Ohne Chance, jemals seine Mutter zu begraben, verlor es nun auch seinen Vater. Und es ward abermals gebrochen, ein letztes Mal.

Schwermütigkeit begleitet den Schritt ins wärmende Nass, Tränen kullern Wangen hinab. Die Zeit, so grausam, wo ist sie hin? Des Kindes glückliche Tage, warum nur mussten sie gehen? Was hatte es nur so Schlimmes verbrochen im Leben, dass es ihn wieder und wieder ohrfeigte und ihm wieder und wieder zeigte, dass es ihn nicht liebte? Was war es nur, was?
3 Wochen später legte der Handwerker sein Werkzeug beiseite und der Polizist betrat die Wohnung. Der Gestank war beißend und bestialisch fies, die Nachbarn hatten recht gehabt. Hier war etwas nicht in Ordnung. Seine junge Kollegin warf einen Blick ins Badezimmer und ihr schauderte. Es war ihr erstes Mal. Später, als alle Vorschriften befolgt und die Arbeit beendet war, machte sie das Licht im Flur aus und schloss die Türe. Dann wandte sie sich noch immer mit dem Würgereiz kämpfend um und verließ den Ort. Nach Dienstende zu Hause angekommen fiel sie ihrem Freund in die Arme, dankbar.

„Harter Tag?“, fragte er, mit besorgtem Blick.

„Wäre untertrieben, wir hatten heute einen schlimmen Einsatz, ein Mann. Grausig.“

„Na komm her“, hauchte er und drückte sie noch einmal liebevoll.

Kurz darauf nahm sie die angebrochene Flasche Wein aus dem Kühlschrank. „Magst du auch Wein, Markus?“ Im Wohnzimmer saßen beide und stießen an. Nach einem kräftigen Schluck fiel ihr Blick auf ein Foto an der Wand. Es zeigte einen braunhaarigen Jungen. Leise gestand sie „Ich vermisse ihn, auch wenn ich ihn nie kennenlernte.“

„Deinen Bruder Daniel? Wie alt wäre er heute?“

„47, er ist mit 7 Jahren gestorben“, erklärte sie seufzend, den Tatort noch im Gedächtnis.

„Tut mir leid, was für eine Tragödie. Er wäre jetzt so alt wie ich.“

„Dieser Mann heute, Tobias Rätz war auch 47. Dieselbe Generation.“

„Die Wege des Schicksals sind manchmal wirklich rätselhaft“, murmelte er und nahm sie in den Arm.

Als die Nacht über der Stadt hereingebrochen und sich die Geister allen Lebens zu Ruhe gebettet hatten, schien der Mond herab auf das Land und tauchte alles in ein feines Licht des Friedens. Die Eulen spähten in die Ferne und die Tiere in den Wäldern sammelten sich in Gruppen, um sanft ihre Köpfe aneinanderzuschmiegen. Fast schien es, als wär‘ manch‘ Schicksal bedeutungsloses Rascheln im Wind.

 

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