Von Anne Moog

Ich habe keine Schmerzen, keine Gefühle, keine Gedanken. Zeit gibt es nicht. Mich umgibt Dunkelheit, die gelegentlich von Blitzen durchbrochen wird. Dann wieder nichts. 

 

Das nächste Mal, als ich so etwas wie Bewusstsein erlange, erreichen mich verschiedene Geräusche. Ein regelmäßiges Piepsen, Schritte und Stimmen. Ich bin also nicht allein. Das ist mein erster richtiger Gedanke. Und er gibt mir unendlich viel Trost und Kraft, denn mich überrollt die Erkenntnis, dass etwas Schlimmes mit mir passiert sein muss. Aber was? Wo bin ich? Nachdem ich vergeblich versucht habe, mich zu bewegen, öffne ich die Augen. Das helle Licht schmerzt in meinem Kopf und ich bin kurz davor, sie wieder zu schließen, um mich in meine wohltuende Dunkelheit zurückzuziehen. Doch dann sehe ich ein mir vertrautes Gesicht. 

„Julia, ich bin es, Daniel.“ 

Mein Mann. Sofort verspüre ich so etwas wie Erleichterung. Aber warum stellt er sich mir vor? Ich möchte etwas sagen, aber es geht nicht. Ich bin nicht in der Lage zu sprechen, ich kann keinen Ton von mir geben. Panik steigt in mir auf, das Atmen fällt mir schwer. Plötzlich wird das Piepsen anders, lauter. Ich spüre Hektik um mich herum, viele Stimmen, viele Schritte. Ein glatzköpfiger Mann mit Brille und Mundschutz steht vor mir und beobachtet mich intensiv. Ein Arzt? Ich bin im Krankenhaus. 

„Was ist mit Julia?“, höre ich meinen Mann fragen. 

„Kein Grund zur Beunruhigung. Das kann passieren. Blutdruck und Puls sind bei ihrer Frau in die Höhe geschnellt. Betrachten wir es positiv, irgendwas geht in ihr vor. Ich gebe ihr was zur Beruhigung.“ 

Warum reden die über mich, aber nicht mit mir? Ich verstehe noch die Worte Schlaganfall und Wachkoma. Die können doch nicht mich meinen. Obwohl ich sehr beunruhigt und aufgeregt bin, schlafe ich wieder ein. 

 

Beim nächsten Erwachen fühle ich mich klarer, orientierter. Ich bin also in einem Krankenhaus. Plötzlich erinnere ich mich an die schlimmen Kopfschmerzen, die ich beim Plätzchenbacken hatte. Und was ist dann passiert? Ich habe keine Ahnung, keine Erinnerung. Der Arzt hat von einem Schlaganfall gesprochen. Ich bin doch erst 35. Wachkoma? So ein Quatsch. Dann bekommt man doch gar nichts mit. Ich bin glasklar im Kopf. Das müssen die doch merken. Hoffentlich kommt Daniel bald. Er muss mir alles genau erzählen.  

 

Daniel beugt sich über mich und küsst mich auf die Stirn. Auf die Stirn? Was soll das denn? Ich schaue ihn entsetzt an, aber er reagiert gar nicht. Daniel sitzt am Bettrand und streichelt meine Hand. Er sieht schlecht aus. Seine Augen sind verweint. Mensch Daniel, rede mit mir. 

„Die Ärzte haben gesagt, dass ich mir dir reden soll, auch wenn du nicht antwortest. Vielleicht hörst du mich ja.“ 

Ja, ich höre dich, klar und deutlich. 

„Ach Julia. Ich bin so verzweifelt, weil ich nicht weiß, wie ich dir helfen kann.“ Er schluchzt. „Ich habe deine Lieblingsmusik mitgebracht. Und ein Sofakissen, das nach dir, mir und Biene riecht.“ 

Daniel schiebt das Kissen unter meinen Kopf. „Komm bitte zurück!“ 

Wie zurück? Warum schaut er mich nicht an? 

„Biene frisst kaum noch, seit du hier bist. Sie spürt, was los ist.“ 

Was ist denn los? Wieder versuche ich, Daniel auf mich aufmerksam zu machen, aber es gelingt mir nicht. Es ist alles so anstrengend. Und ich bin so müde. 

 

Ich scheine wieder geschlafen zu haben. Daniel ist nicht mehr da. Musik läuft. Ich lausche und fühle mich entspannt. Dann erkenne ich zwei Krankenschwestern, die meinen Infusionsbeutel austauschen. 

„Nur noch Gemüse. Traurig. Sie ist erst 35.“ 

Wie jetzt? Warum soll ich nur noch Gemüse essen? Ich verstehe wirklich nichts mehr. Warum klärt mich niemand auf? Wieder ist die Müdigkeit stärker als meine Verzweiflung. 

      

Biene liegt auf mir und leckt mir die Hand. Ich bin entzückt, gerührt und freue mich, auch wenn das alles anscheinend niemand merkt. Wie schlimm muss es um mich stehen, dass ein Hund ins Krankenhaus darf? Ich verwerfe den Gedanken schnell wieder, ich möchte das Hier und Jetzt genießen. Biene. Ich habe dich so vermisst. Plötzlich schaut mir Daniel in die Augen, so richtig. Er möchte scheinbar testen, ob Biene  irgendwas in mir auslöst. Ich nutze die Chance und schlage hektisch mit den Wimpern. Das ist das Einzige, was ich bewegen kann. Daniel starrt mich an. Ich mache es wieder. Daniel reagiert. Endlich! 

„Kannst du mich hören?“, fragt er mich. 

Ich schlage einmal mit den Wimpern. 

„Wie geht es dir?“ Ich mache die Augen zu. Das geht doch nicht Daniel. Er versteht sofort. 

„Sorry. Hast du Schmerzen?“ 

Ich schlage zweimal mit den Wimpern. Daniel rennt aus dem Zimmer. Ich höre ihn schreien. 

„Holen Sie sofort einen Arzt. Meine Frau spricht wieder.“    

 

Nach vielen Untersuchungen steht meine Diagnose jetzt fest. Die Ärzte haben Daniel und mich umfassend aufgeklärt. Ich bin nicht im Wachkoma. Infolge des schweren Schlaganfalls ist es bei mir zu einem Locked-In-Syndrom gekommen. Das heißt, ich bin gefangen in einem komplett gelähmten Körper, bei vollem Bewusstsein. Ich kann sehen, fühlen, hören, mich aber nicht äußern. Seit ich das weiß, bin ich ruhiger. Ich verstehe endlich, was mit mir los ist, so schlimm es auch ist. Ich werde nie mehr laufen können. Komischerweise erscheint mir das gar nicht so dramatisch. Es gibt ja Rollstühle. Viel belastender empfinde ich es, meine Hände und Arme nicht bewegen, nicht zum Essen oder Waschen benutzen, niemanden umarmen zu können. Was mich aber ganz klar zu einem nicht mehr vollständigen Menschen macht, ist meine fehlende Sprache. Ich habe keine Stimme, um zu sagen, was ich fühle, was ich denke, was ich möchte oder nicht möchte. Die Sprache ist es doch, die den Menschen vom Tier unterscheidet, oder? Sie ist es, die letztendlich Willensfreiheit und Handlungsfähigkeit ermöglicht. Ohne Gestik, ohne Mimik, ohne Stimme habe ich keine Macht, selbst über die einfachsten Dinge. 

Die Ärzte, Psychologen und auch Daniel reden von technischen Möglichkeiten, die es mittlerweile gibt, um zu kommunizieren. Derzeit habe ich nur meinen Wimpernschlag …  

 

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