Von Gabriele Sodeur

Wie Laub unter den Füßen raschelte das Geflüster durch das kleine englische Städtchen:

„Lady Black ist gestorben.“

„Das kann doch nicht sein.“

„Ich hab sie neulich noch mit „Lady White“ im Teehaus sitzen sehen.“

„Ihr Neffe war auch dabei.“

Lady White – so wurde Lady Black‘s Schwester von allen Leuten genannt, denn sie konnten sie nur wegen ihrer weißen Kleider von der stets schwarz angezogenen  Zwillingsschwester unterscheiden – Lady White war untröstlich. Sie hatte ihren Neffen Phillip zum Five o’Clock Tea ins Teehaus eingeladen und nun meinte sie, es sei ihre Schuld, dass ihre geliebte Schwester tot sei.

„Also der Neffe hat sich seinen Tanten gegenüber ganz eigenartig benommen.“

„Er hat sie nach dem Teetrinken nicht einmal mehr nach Hause gebracht!“

„Deshalb macht sich Lady White ja solche Vorwürfe. Sie denkt ihr Neffe hätte ihrer Schwester irgendetwas in den Tee getan, denn kaum waren sie zu Hause, ist diese noch in der Diele zusammengebrochen, und keine Minute später war sie tot.“

„Nein, wirklich?“

„Das hieße ja, dass …“ Der Wind trug das Wispern in jede Ecke der kleinen Stadt.

 

„Ja, Mutti, ich putz mir gleich die Zähne, der Film dauert nicht mehr lange.“

„Du sollst doch abends nicht so lange fernsehen!“

„Jaha, aber da ist grad noch so ein netter englischer Film, der ist gleich zu Ende, und außerdem ist morgen doch Sonntag, da kann ich ausschlafen und …“

„ Also gut“, meinte meine Mutter „ausnahmsweise! Danach geht‘s aber gleich ins Bett. Ich möchte nicht, dass du noch auf bist, wenn Papa und ich vom Konzert zurück sind.“

Juhu, wenn‘s doch auch grad so spannend war!

Ich muss so zwölf Jahre alt gewesen sein und wir hatten noch nicht  so lange einen Fernseher. Filme durfte ich meistens nur nachmittags anschauen und so war ich hocherfreut, dass meine Mutter eine Ausnahme machte. Meine Eltern waren spät dran und hatten nicht geschaut, was für einen Film ich mir da ansah und ich wusste es, ehrlich gesagt, auch nicht. Ich freute mich einfach nur auf einen gemütlichen Abend, den ich allein, eingewickelt in eine mollige Decke, in unserem großen Fernsehsessel vorm Fernseher verbringen durfte und ach ja, Erdnussflips muss ich mir noch holen und ob ich mir dazu eine Flasche „Spezi“ genehmigen darf? Das Zähneputzen verschieb ich auf später.

Damals wusste ich nicht, dass ich diesen Film mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen sollte und mir heute noch ein Schauer über den Rücken läuft, wenn ich an ihn denke …

 

Es ging um diese zwei betagten Zwillingsschwestern, von denen die eine also ganz plötzlich gestorben war und die andere nun Angst hatte, auch bald „dran“ zu sein, weil sie vermutete, dass ihre Schwester umgebracht worden sei, und zwar von ihrem Neffen Phillip.

Bestimmt hat er meiner armen Elisabeth letztens im Tearoom  Gifttropfen in den Tee getan! Zum Glück hatte ich mir kurzentschlossen ein Likörchen gegönnt und meinen Tee stehen lassen. O mein Gott, ich bin Schuld, dass Phillip mit uns in der Teestube war, denn hätte ich ihn nicht eingeladen, dann … Nun bin ich bestimmt die Nächste, die er um die Ecke bringen will. Aber das wird ihm bei mir nicht so leicht gelingen, bei mir nicht! Dieser undankbare, gottlose Verbrecher, nicht schnell genug kann er an sein Erbe kommen. Enterben werde ich ihn, jawohl, enterben! Aber vorher will ich höchstpersönlich beweisen, dass er Elisabeth auf dem Gewissen hat. Ich muss unbedingt verschiedene Telefonate führen…!

Lady White war wirklich eine todesmutige Frau und klug dazu. Um herauszufinden und beweisen zu können, dass ihr Neffe der Mörder ihrer Schwester war, lud sie ihn zu einem Abendessen ein. Gleichzeitig engagierte sie für diesen Abend eine Schauspielerin. Diese sollte sich wie ihre verstorbene Schwester ganz in Schwarz kleiden und

„Wenn wir unser Abendessen einnehmen, werde ich meinen Neffen Phillip so platzieren, dass er mit Blick auf den Durchgang zu unserer Bibliothek sitzt.“ Lady White sprach immer noch von „unserer“ Bibliothek. „Und ich werde ihm gegenüber sitzen. Während wir unser Essen einnehmen, werden Sie dann ein paar Mal aus diesem dunklen Rundbogen heraus Phillip sozusagen ‚erscheinen‘! Das machen Sie so lange, bis er sich verrät, und er wird sich verraten, darauf können Sie Gift nehmen!“

Lady White drückte nach dem Gespräch mit der Schauspielerin den Hörer energisch auf die Gabel. O ja, bei dieser vermeintlichen Erscheinung meiner geliebten Schwester aus dem Jenseits wird diesem Dreckskerl angst und bange werden und er wird sich durch irgendwelche unüberlegten Worte verraten und so den Beweis dafür liefern, dass er es gewesen ist, der sie umgebracht hat. Jetzt musste Lady White nur noch die beiden Polizisten herbeordern und ihnen ihr Versteck in der Diele zuweisen, damit sie Zeugen sein würden für dieses Schuldbekenntnis, und dann könnten sie den Halunken auch gleich mit auf die Wache nehmen.

                                                                                           

Ich vergesse, mir weitere Erdnussflips in den Mund zu schieben und kaue auf meinem linken Daumennagel ‘rum. Die Wolldecke ziehe ich über meine angezogenen Knie bis zum Kinn hoch und schaue weiterhin gebannt in die Kiste.   

                                      

Genau so, wie es Lady White vorausgesagt hat, geschieht dann auch alles: Philip ist hocherfreut über die Essenseinladung seiner Tante Mary und während des Dinners sitzt er ihr am Tisch gegenüber mit Blick auf den Rundbogen, wohinter man die im Dunklen liegende Bibliothek nur ahnen kann. Er wirkt sehr fahrig und immer wieder gleitet seine Hand in die Tasche seines Blazers, aber immer kommt sie auch wieder heraus, ohne dass er etwas darin hielte. Das würde auch in keinem Fall unentdeckt bleiben, denn Tante Mary lässt ihn mit ihrem Adlerblick keine Sekunde aus den Augen. Sie beobachtet ihren Neffen ganz genau, damit ihr keine seiner Handbewegungen entgeht, und sie sieht auch, wie er die ganze Zeit in Richtung des Durchgangs stiert.

Mit dem Rücken dazu sitzt sie Phillip gegenüber und plaudert mit ihm ungezwungen über dies und das. Natürlich weiß sie aber ganz genau, warum er andauernd an ihr vorbei mit starren, weit geöffneten Augen, auf den Hintergrund sieht.

 

Und ich weiß es ebenso. Auch mein Blick wird ständig auf diesen Rundbogen gelenkt,  die Bibliothek dahinter liegt jetzt in vollkommener Schwärze. Immer wieder tritt daraus hervor ein weißlich schimmerndes Frauengesicht, das dann langsam wieder in die unheimliche Dunkelheit des Bogens verschwindet. Das ganze Szenarium wird untermalt von unheilschwangeren an- und abschwellenden Musikklängen. Zwei Kerzenständer, rechts und links des Türbogens, tauchen alles in ein flackerndes Licht. Gespenstische Schatten huschen über die gekalkten Wände. Der in Schwarzweiß gedrehte Film unterstreicht diese düster schaurige Stimmung. Angespannt drücke ich mich ganz tief in den Fernsehsessel, meine Hände sind feucht und ich umklammere jetzt fest beide Armlehnen. Meinen Mund vergesse ich zuzumachen. Da, jetzt erscheint es schon wieder aus dem Dunkel, dieses kalkweiße Gesicht der Frauengestalt im schwarzen Kleid. Immer  wieder  kommt und verschwindet es, immer und immer wieder. Wahrscheinlich hätte ich doch lieber früher ins Bett gehen sollen … Ich tröste mich damit, dass es ja nur die Schauspielerin ist, die da erscheint, und nicht der Geist von Lady Black.

 

Inzwischen sind Lady White und ihr Neffe beim Dessert angelangt, ein Apple-Crumble mit Vanillesoße. Kenne ich nicht, muss was typisch Englisches sein, aber Phillip scheint keinen rechten Appetit zu haben, er rührt seine Nachspeise nicht an, schaut immer nur an seiner Tante vorbei auf den Rundbogen im Hintergrund und, wie von Lady White vorausgesehen, erträgt er den Anblick der unheimlichen Erscheinung irgendwann nicht mehr und verliert seine Beherrschung. Er springt von seinem Stuhl hoch, sodass dieser nach hinten umkippt, und schreit hysterisch: 

„Tante Elisabeth, verschwinde endlich, sonst bringe ich dich noch mal um!“ In diesem Moment fliegt die Türe zur Diele auf, die zwei Polizisten stürmen herein, überwältigen Phillip, legen ihm Handschellen an und führen ihn ab. Das alles passiert in Windeseile.

„Der Letzte macht bitte noch das Licht aus und zieht die Türe zu!“, kann Lady White ihnen gerade noch hinterher rufen, dann sinkt sie völlig erschöpft auf eine Chaiselongue. Die Kerzen der beiden Kandelaber sind fast heruntergebrannt und tauchen den Raum jetzt in ein sanftes  Kerzenlicht. Bleich liegt Lady White da, stößt erleichtert einen tiefen Seufzer aus und schließt die Augen.

 

Auch ich entspanne mich jetzt und meine verkrampften Hände lösen sich von der Sessellehne. Ich bin froh, dass der Spuk ein Ende hat! Puh, war das zum Schluss gespenstisch! Na, Gott sei Dank, konnte Lady White den Schurken überführen. Ich geh jetzt ganz schnell ins Bett, bevor die Eltern kommen. Hat doch länger gedauert, der Film. Zähneputzen lass ich heute mal ausfallen! Hoffentlich kann ich einschlafen.                                                                                                      

Ich will gerade den Fernseher ausmachen, da sehe ich, dass der Film noch gar nicht zu Ende ist, denn es hat noch einmal bei Lady White geklingelt. Mühsam steht sie wieder auf und schlurft zur Haustüre.Ob die Polizisten noch etwas vergessen haben?

 

Als Lady White die Türe öffnet, steht davor die Schauspielerin und fragt: „Komme ich zu spät?“

 

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