Von Ricarda Köhler

15 Minuten nach Unterrichtsbeginn und kein Lehrer in Sicht. Unruhe entstand, jedenfalls bei einigen. Freude machte sich breit, bei den anderen. Erste Stunde Deutsch. 20 Schüler der 10. Klasse eines Norddeutschen Gymnasiums warteten.
Patricia war verzweifelt: „Fällt jetzt der Unterricht schon wieder aus? Kommt wir sagen Bescheid.“

„Bleib mal locker!“, warf Caro ein, „Der ist doch ständig zu spät.“

Da kam er auch schon, Herr Meyer bog um die Ecke. Mein letzter 400m-Sprint war nichts dagegen. Die langen, blonden Haare, jedenfalls die, die noch vorhanden waren, wild zerzaust vom Wind. Wie immer den bunten selbstgestrickten Wollpulli an, obwohl es draußen mindestens 20°C war. Die Zeitung fest unterm Arm geklemmt. Er stürmte in die Klasse, schmiss Zeitung und Tasche auf seinen Tisch und sprang mit einem gekonnten Sprung, wie damals Grobi in der Sesamstraße, auf eben jenen Tisch.

„Nicht schlecht für sein Alter! Hat er wohl länger geübt!“, dachte ich, die in der letzten Reihe saß.

Der vordere Teil der Klasse war entsetzt, war Meyer doch für seine äußerst feuchte Aussprache bekannt. Einer der Jungs fiel vor Schreck glatt vom Stuhl. Die anderen spannten zur Sicherheit die Regenschirme auf. 

Herr Meyer breitete theatralisch die Arme weit aus, Schweißgeruch verteilte sich in der Klasse, kein Wunder bei dem Pulli, und rief:

„Leute, wir schreiben heute Geschichte!“

Ich dachte nur: „Geschichte? Wieso Geschichte, wir haben doch Deutsch oder ist mir schon wieder etwas entgangen?“

Keine weitere Reaktion der Klasse. Außer stilles Entsetzen, ob dieser vielen Gesten. 

Langsam strich sich der Lehrer die Haarsträhnen aus dem Gesicht, stieg gemächlich wieder von seinem Tisch, zog sich den Pulli aus, um jetzt im Feinripp-Unterhemd vor uns zu stehen, und wiederholte.

„Wir schreiben Geschichte! Geschichte! Lest ihr denn keine Zeitung?“

Verblüffung bei den Pubertierenden. Aufkommende Hysterie dagegen beim Lehrer. In den Gesichtern der anderen konnte ich erkennen, dass keiner einen Plan hatte, dabei konnte ich die Gehirne der anderen quasi arbeiten hören. Irgendetwas war passiert die letzten Tage und Monate, auch meine Eltern waren ganz aufgeregt. Aber was war das nochmal?

„Uns wird die Zeitung nicht mehr reichen. Wir brauchen Fernsehen. Radio. Wir müssen eigentlich den ganzen Tag am Radio hängen! Die Zeitungen sind zu langsam. Wir müssen das verfolgen, auch in der Schule. Wir gehören nach Berlin. Eigentlich müssten wir live dabei sein.“

Dem Streber der Klasse ging endlich ein Licht auf. 

„Herr Meyer, ich hab´s gesehen, gestern im Fernsehen. Immer mehr Menschen aus der DDR kommen nach Deutschland und fordern Asyl in der Botschaft.“

„Ralf, es ist Geschichte! Hier passiert gerade was ganz Großes. Ich meine, Ungarn hat die Grenzen geöffnet. Die Grenzen! Ohne zu fragen! Was meinst Du, was da los ist! Vielleicht sind wir bald wieder vereint oder zumindest kommt die Mauer weg. DDR-Bürger dürfen wieder reisen“

….

Sechs Wochen später. Anfang Oktober 1989 unsere Mädchenclique brütete über einem Geschichtsreferat.

„Vielleicht hat Meyer ja Recht“, riss uns Caro aus den Gedanken.

„Recht, womit?“

„Na, mit der Geschichte. Ich meine, mit der Geschichte schreiben. Dass wir Geschichte schreiben.“

„Ja, klar. Die Grenzen werden in jedem Fall bald öffnen. Das können die gar nicht mehr aufhalten.“

„Und die Mauer wird bestimmt auch bald eingerissen.“

Patricia gab zu bedenken:

„Aber Honecker hat doch noch im Januar gesagt, die Mauer steht noch 50, wenn nicht sogar 100 Jahre.“

„Ach, Honecker, der bleibt nicht mehr lang an der Macht! Sagt jedenfalls mein Vater. Den werden die als erstes stürzen.“

„Wir müssen da hin!“

„Wohin?“

„Nach Berlin natürlich!“

Klar, dass dieser Vorschlag von Caro kommen musste. Abenteuer war ihr zweiter Vorname. 

Wild redeten wir durcheinander. Problematisch, laut Patricia, war, dass wir zum einen Schule und zum anderen keinen Führerschein hatten. Wir nahmen diese Feststellung zumindest zur Kenntnis, berücksichtigten sie aber nicht in unserer weiteren Planung. 

Ich war direkt Feuer und Flamme. Wann hatte man schon die Möglichkeit Geschichte zu schreiben in seinem Leben. Wer weiß, vielleicht nur einmal. Und wir konnten doch nicht einfach hier rumsitzen in unserem kleinen Dorf und den einzigen Augenblick verschlafen. 

Wir planten unsere erste gemeinsame Flucht.

….

7.30 Uhr am Morgen des 20. Oktobers ging es los. Es war Freitag und wir brachen auf, als würden wir zur Schule fahren. Rucksack auf dem Rücken, Fahrrad unterm Hintern und los ging es. 

„Habt ihr eure Reisepässe?“, erinnerte Patricia uns. 

Wir waren vorbereitet. Wir wussten, wo wir über die Grenze wollten, was wir benötigten und was wir erzählen wollten. Die Frage war nur, ob die uns über die Grenze ließen, aber das konnten wir ja nicht vorher planen. Irgendwie wird es schon schiefgehen, dachte ich. Vielleicht gab es ja auch bald die Grenze nicht mehr. Dies war jedenfalls unsere Hoffnung. 

Drei Tage vorher wurde Honecker gerade von seinen Ämtern enthoben. In einer spektakulären Sitzung. Manchmal sollte man halt einfach nicht fragen. Aber Honecker hatte an diesem Tag gefragt, ob es noch Vorschläge zur Tagesordnung geben würde. Und irgendeiner seiner Genossen antwortete prompt:

„Ich schlage als ersten Punkt die Entbindung des Genossen Erich Honecker von seiner Funktion als Generalsekretär vor.“

Selbst wir Mädels, die sonst nicht gerade politikinteressiert waren, fanden das alles irre spannend. Jeden Tag fieberten wir der Tagesschau entgegen und saßen gebannt mit unseren Eltern vor dem Fernseher. Die Zeitung, da hatte Herr Meyer absolut recht, war am nächsten Tag schon wieder veraltet. Und ich wollte dabei sein, es war eine einmalige Gelegenheit. 

An jenem Morgen unserer Flucht standen wir also an der Raststätte der Anschlussstelle Groß Mackenstedt und hielten unser Pappschild „Berlin“ in die Luft. Drei 15jährige Mädchen. Trampen, da war natürlich Caro draufgekommen. Hatten wir damals auch schon öfter mal gemacht, in die nächste Stadt. Durfte aber natürlich keiner wissen, am allerwenigsten unsere Mütter, die ja schon ängstlich waren, wenn wir nach 20.00 Uhr mit dem Fahrrad fuhren. Caro meinte, man müsse nur ein wenig Bein zeigen und schon hält der nächste Brummi-Fahrer an. Aber es war kalt. Richtig kalt. Den Atem konnte man sehen. Unsere Beine eher nicht, denn die hatten wir dann doch vorsorglich gegen die Kälte eingepackt. Wir hielten uns im Arm, um uns warm zu halten. Ich war aufgeregt und euphorisch zugleich. Adrenalin flutete meinen Körper. 

„Es hält doch sowieso keiner“, jammerte da Patricia „Lass uns nach Hause fahren, noch hat keiner was gemerkt und wir haben eben nur die erste Stunde geschwänzt!“

Doch dann. Reifen quietschten und kurz hinter uns kam ein Lkw zum Stillstand. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen. Caro lächelte Patricia triumphierend an.

Endlich. Abenteuer wir kommen. Wir packten unsere Rucksäcke und sprinteten los. 

„Hi, Mädels, ihr wollt nach Berlin? So ganz alleine?“

„Ja, kannst du uns mitnehmen.“

„Kommt steigt ein. Bis Berlin fahr ich zwar nicht, aber nach Hamburg kann ich euch mitnehmen. Da fahren viele ab nach Berlin.“

Wir kletterten in den Lkw, eine Duftwolke aus Kaffee, Brühwürstchen und Schweiß schlug uns entgegen. Egal, unser Abenteuer konnte endlich starten, zumindest in die richtige Richtung. Aber es war leider nicht ganz so entspannend, wie ich dachte. 

Helmut hatte viele Fragen. Wie alt wir sind. – 18. Wo wir herkommen. – Südlich von Bremen. Ob unsere Eltern von unserem Ausflug wussten. – Müssen sie nicht, wir sind 18. – Ja, doch, sie finden es super. Irgendwie hatten wir uns in diesem Punkt nicht abgestimmt und unsere Antwort blieb daher nicht eindeutig. Helmut guckte zwar irritiert, bohrte aber nicht weiter nach. Ob wir einen Freund haben. – Geht dich nichts an. Was wir in Berlin wollten. – Geschichte schreiben!

Wir waren jedenfalls froh, endlich Hamburg erreicht zu haben und Helmut wieder verlassen zu können. Am Rastplatz Stillhorn schmiss er uns raus.

Orientierungslos liefen wir drei über den Rastplatz bis wir schließlich die richtige Position gefunden hatten, wo wir uns aufstellen mussten, um Richtung Berlin zu fahren. Wieder das Schild hochhalten. Irgendwo zwischen Heimat und Hamburg war ein Teil unserer Euphorie verloren gegangen. Wir waren überwiegend chic und nicht praktisch angezogen, also war uns kalt. Hunger hatten wir auch, aber Caro meinte, dass wir uns erst später was zu essen kaufen sollten. Patricia und ich fügten uns, wie immer. Inzwischen hatten wir Angst über die Grenze zu gehen, selbst Caro, obwohl sie es natürlich nicht zugab. Was sollten wir dem nächsten Lkw-Fahrer erzählen, wenn er merkt, dass wir erst 15 sind. Würden die Grenzposten uns verhaften oder gar erschießen? Schließlich hörte man ja so einiges. Nicht mehr ganz so motiviert, lächelten wir daher die Autofahrer an. Und es fuhren wirklich viele Autos vorbei. 

Auf einmal hörte ich Sirenen auf dem Rastplatz. Ich sah Helmut wie er wild mit der Polizei gestikulierend in unsere Richtung zeigte. Hektik breitete sich bei mir aus. Caro und meine Blicke trafen sich.  

„Los, lauft!“, schrie Caro und sprintete los.

Patricia blieb einfach nur wie angewurzelt stehen. Keine Chance, die Beine in die Hand zu nehmen. Caro und ich rannten, was das Zeug hielt, was allerdings nicht so viel war. Wir kamen noch 200 Meter, dann wurden auch wir aufgehalten von zwei sportlichen Polizisten. Vielleicht hätten wir doch letztes Jahr besser für das Sportabzeichen trainieren sollen.

Bei uns ging damit schneller das Licht aus, als bei Honecker. Geschichte konnten wir nur im Hausarrest vor dem elterlichen Fernseher schreiben. Aber unser Ausflug hatte sich trotzdem bezahlt gemacht. Nicht nur des Abenteuers wegen, sondern weil Herr Meyer, der tief beeindruckt von unserer Aktion war, und sich irgendwie in die 60/70er Jahre zurückversetzt fühlte, die nächsten 2 Jahre bei unseren Noten immer ein Auge mehr zudrückte. Und Geschichte haben wir dann irgendwie auch noch geschrieben, zumindest für die lokale Presse. 

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