Von Stefan Schumacher

Silja steht am Waschzuber, betrachtet ihre schwieligen Hände und grübelt über das bevorstehende Ereignis. So in Gedanken hätte sie das Klopfen an der Tür fast überhört. Kurz darauf steht Swantje im Raum. Ihre Freundin schenkt ihr ein strahlendes Lächeln.

„Schau, ich habe dir bunte Bänder mitgebracht, die flechten wir morgen in dein Haar, dass du die schönste Braut sein wirst.“

Silja betrachtet die Bänder und verzieht ihr Gesicht und schüttelt den Kopf. 

„Ich will das morgen nicht, ich will nicht den Sohn des Schmieds heiraten. Ich liebe Jost nicht und ich brauche niemanden, der für mich sorgt“, erwidert Silja trotzig, obwohl sie sich über die schönen Bänder freut. 

Swantje zeigt ihr ein Lächeln. „Ich weiß, aber Mädchen können nicht allein leben und für sich selber sorgen“, erklärt sie geduldig.

„Da wo ich herkomme, geht das sehr wohl“, entfährt es Silja trotzig, aber Swantje lacht sie nur aus. „Ach ja, wo kommst du denn her?“, spottet sie. 

Es ist gar nicht lange her, als Silja plötzlich inmitten der Wallburg erschienen war. Nur mit einem dünnen Leibchen bekleidet, schmutzig, zerzaust und offenbar ohne jede Erinnerung. Zu ihrem Glück hatte der alte Schuhmacher sie bei sich aufgenommen und wurde eine Art Vater für sie. Aber nun war er gestorben und der Vogt hatte entschieden, dass Silja mit ihren sechzehn Jahren endlich heiraten müsse.

Silja wird rot, denn darauf möchte sie nicht antworten und auch nicht weiter über das Thema sprechen. „Aber du musst mir versprechen, dass wir Freundinnen bleiben!“, fordert Silja. Swantje verspricht es, verabschiedet sich und ist sogleich durch die Tür verschwunden.

 

In der Nacht wird Silja von einem leisen Knacken geweckt. Bevor sie sich aufrichten kann, spürt sie eine behandschuhte Hand auf ihrem Mund. Sie zappelt und windet sich, aber die starke Hand hält sie fest. 

„Beruhige dich, ich werde dir nichts tun. Aber du darfst nicht schreien“, flüstert eine raue Stimme, bevor der Raum von einem funzeligen Licht erhellt wird.

„Du?“, stößt Silja überrascht hervor. „Was willst du von mir?“

„Ich brauche deine Hilfe. Es ist sehr wichtig, überlebenswichtig!“, trägt ihr Bräutigam mit ernster Miene vor.

„Ich werde dich nicht heiraten“, stößt Silja hervor.

„Ich weiß, aber darum geht es jetzt nicht.“ Er greift in seinen Beutel und holt eine alte Flasche hervor und zeigt sie ihr. Die Flasche schimmert grünlich, ist beschlagen und ohne Hals. 

„Die habe ich heute am Fluss gefunden“, führt Jost aus.

Silja versteht nicht, was das alles soll, fühlt jedoch eine gewisse Unruhe. ‚Ob Jost ihr Geheimnis kennt‘, denkt sie und wird sogleich darin bestätigt, als dieser einen Zettel hervorkramt, der offenbar in der Flasche war.

„Lies das“, entfährt es Jost, als er ihr den Zettel reicht.

Silja erkennt vertraute Schriftzeichen, liest den knappen Text und macht große Augen, als sie den Code ganz am Ende entdeckt. Es braucht ein Nanosekunde, bis sie begreift, was sie in den Händen hält und es fällt ihr schwer, es zu glauben.

„Ist es echt? Ist es wirklich das Momentum?“, stammelt sie.

Jost nickt. „Wo hat er es gefunden?“, redet sie sich in Rage. „Wer bist du wirklich, Jost? Und woher weißt du, wer ich bin?“, fragt sie und weiß nicht, ob sie beruhigt oder besorgt sein soll.

Statt zu antworten, schüttelt er den Kopf und fragt: „Was ist mit Swantje, können wir ihr vertrauen? Wir werden ihre Hilfe brauchen.“

„Wenn wir was tun?“, fragt Silja, obwohl sie ahnt, was er plant.

„Wir müssen beide hier verschwinden, noch heute Nacht. Und Swantje muss den anderen irgendeine Story auftischen, die unser Verschwinden erklärt“, antwortet er.

„Und wie willst du ihr das alles erklären?“, fragt Silja, aber Jost lacht nur: „Das wird deine Aufgabe sein, immerhin ist sie deine Freundin.“

Silja denkt darüber nach, welche Optionen sie hat. Der Zettel aus der Flaschenpost birgt den Schlüssel für das letzte große Geheimnis und weist einen Weg über die Barriere. Aber zuerst müssen sie den Absender finden, denn das Momentum ist unvollständig. Die letzten Ziffern fehlen und die kennt nur er. 

 

„Die Flaschenpost ist von 1721, also aus der Zukunft. Hast du einen Plan, wie wir dahin kommen, ohne 250 Jahre abzuwarten?“, fragt sie und ahnt bereits, was er antworten wird, daher nimmt sie ihm gleich seine Hoffnungen. „Mein time-pad ist schon seit geraumer Zeit defekt, so dass ich nur rückwärts in der Zeit reisen kann. Deshalb bin ich hier gelandet.“

Jost grinst und nickt. „Ich weiß, aber zu unserem Glück bin ich time engineer und mir ziemlich sicher, dass ich es reparieren kann. Und dann: Goodbye Mittelalter!“

Für einen Moment lässt Silja sich von ihm mitreißen, bevor eine leise Skepsis sich ihrer bemächtigt. Könnte das eine Falle sein? 

„Wie bist du eigentlich hierher gekommen, ohne time-pad?“, fragt sie.

„Ben und ich haben keinen Zugang zu solch technischen Wundern, wir reisen per Anhalter durch die Zeit. Die Flasche hat er jemanden mitgegeben, dass ich sie finden konnte.“ 

„Wo, besser wann ist dein Zuhause? Und woher kennst du mein Geheimnis?“, fragt Silja vorsichtig. 

„Von deinem Geheimnis und wo du bist, wurde mir kürzlich berichtet. Über alles andere sprechen wir, wenn wir Ben gefunden und die Barriere überwunden haben. Dann sind wir in Sicherheit!“

 

Swantje die Wahrheit zu erzählen, ist nicht so einfach. Und natürlich glaubt sie Silja kein Wort. Aber letztlich willigt sie ein, den beiden zu helfen. Gemeinsam besprechen sie, was Swantje den anderen erzählen soll. Die Story hat zwar ein paar Löcher, ist jedoch immer noch besser als die Wahrheit.

Tatsächlich schafft es Jost, das time-pad zu reparieren und nach einem herzergreifenden Abschied lösen Silja und Jost sich, noch in der Nacht, unmittelbar vor Swantjes Augen in Luft auf.

 

Im selben Augenblick erscheinen sie am selben Ort zu einer späteren, viel späteren Zeit, jedoch immer noch in der Nacht, inmitten einer kleinen Stadt.

„Und, wie finden wir diesen Ben nun? Und wer ist das überhaupt? Und woher kennst du ihn eigentlich? Und können wir ihm vertrauen?“, plappert Silja vor sich hin.

Jost schüttelt seinen Kopf. „Was bist du nur für ein neugieriger Backfisch! Aber auch irgendwie süß, obwohl ich dich mir ganz anders vorgestellt habe.“

„Was hast du dir vorgestellt und was weißt du über mich?“, fragt Silja neugierig.

Jost stöhnt. „Okay, du gibst ja eh keine Ruhe. Wir finden Ben in einem Haus am Ende der Gasse, er ist mein Bruder, ich kenne ihn seit meiner Geburt und vertraue ihm wie niemanden sonst. Und du bist Silja, die furchtlose Jägerin, die der Prophezeiung nach das Momentum finden, die Barriere überwinden und die Menschheit retten wird! Sofern du es nicht vermasselst!“

Silja steht der Mund weit offen und es fällt ihr schwer, ihm zu glauben. Andererseits ist sie eine Jägerin und schon seit langem auf der Suche nach dem Momentum, einer Art Notfallcode für das time-pad, mit dem man die Zeitbarriere des Jahres 2021 überwinden könnte, sofern die Welt in Gefahr wäre. Und die Welt ist in großer Gefahr und irgendjemand musste dringend ans Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts reisen, um sie zu retten.

„Und was hast du damit zu tun?“, fragt Silja, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hat.

„Ben und ich sind hier, um dir dabei zu helfen, da du allein offensichtlich ziemlich im Dunkeln tappst“, erwidert Jost lachend und ergänzt. „Für uns beide ist es lebenswichtig, dass du es schaffst. Daher haben wir uns getrennt: Ben sollte das Momentum und ich sollte dich finden. Und nun sind wir hier, gehen da rein und bringen es zu Ende.“ 

Silja ärgert sich über sein arrogantes Auftreten. Bevor sie jedoch weitere Fragen stellen kann, zieht er sie an ihrem Ärmel zu einem Haus, in dem ein schwaches Licht zu erkennen ist.

 

 Die Tür ist nicht verriegelt und als sie das Haus betreten, fühlt Silja sofort, dass etwas nicht stimmt. Im hinteren Teil des Raumes erkennt sie eine Gestalt, die zusammengekauert am Boden sitzt. 

Jost stürzt sofort auf seinen Bruder zu, beugt sich zu ihm herunter. Im selben Augenblick ist der Raum hell erleuchtet und Swantje steht zwischen ihnen, eine gespannte Armbrust in ihrer Hand, die direkt auf Silja gerichtet ist.

Bevor jemand etwas sagen kann, spricht Swantje laut und deutlich. „Überraschung! So schnell sieht man sich wieder. Hört mir jetzt genau zu, dann wird euch nichts passieren.“

Silja nickt, während Jost seinem Bruder den Puls fühlt. „Er lebt!“, flüstert er.

„Natürlich lebt er“, erwidert Swantje. „Er hat kaum gezögert, mir seinen Teil des Codes zu überlassen, also war ich nett zu ihm und er blieb am Leben.“

Sie holt tief Luft, bevor sie weiterspricht. „Das könnt ihr auch, wenn ihr mir einfach euren Teil des Codes überlasst. Andernfalls werdet ihr alle drei sterben!“

Silja weiß, dass die Chancen nicht gut stehen, hier unbeschadet heraus zu kommen. Aber schlimmer als das, ist die Wut, die nun aus ihr herausbricht.

„Du kleine, miese Schlampe! Du hast mich reingelegt und mir das alles nur vorgespielt? Was bist du – eine Kopfgeldjägerin oder Schlimmeres?“

In ihrer Wut ist Siljas Gesicht tiefrot angelaufen und ihr Körper hat angefangen zu beben. In einem plötzlichen Impuls vollständiger Lebensverachtung stürzt sie sich auf Swantje, die entsetzt ihre Augen aufreißt. Während beide Frauen zu Boden stürzen, löst sich der Pfeil aus der Armbrust und streift Siljas Arm. Sie ist jedoch kampferprobt genug, um Swantje dennoch niederzuringen, bis Jost ihre Hände greifen und fesseln kann.

 

Nachdem der Kampf vorbei ist, versorgt Jost ihren Arm. Dann schaut er tief in ihre Augen und reicht ihr einen Zettel mit dem restlichen Code, den er aus Swantjes Tasche geborgen hat. 

„Du musst allein gehen, ich bleibe bei ihm“, führt Jost aus und schenkt ihr ein freundliches Lächeln. „Keine Angst, er wird überleben, und du wirst es schaffen.“

„Ich danke euch für alles, was ihr für mich getan habt! Das kann ich euch niemals vergelten“, flüstert Silja.

„Doch, das hast du schon, denn wir beide verdanken dir unser Leben. Wärest du gescheitert, so wären wir nie geboren worden – Großmutter Silja!“

 

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