Von Björn D. Neumann

Marie blickte auf das Meer. Sie genoss es, sich die langen blonden Haare vom Wind zerzausen zu lassen. Der Herbst war ihre liebste Jahreszeit und hier auf dem „Spioenkop“ von Wenduine, dem Aussichtspunkt auf der zweithöchsten Düne, war ihr Wohlfühlort. Sie liebte es, wenn das Klima rauer wurde, der Wind kälter und das wuselige Strandleben des Sommers langsam in einen träumerischen Winterschlaf überging. Keine Heerscharen von Touristen mehr, nur noch vereinzelte Spaziergänger und eine herrliche Ruhe. Einzig der Wind sang sein sehnsüchtiges Lied von der Weite des Meeres. Das war genau die Stimmung, genau der Ort, um sich den Alltagsstress aus dem Kopf blasen zu lassen. Einfach los- und den Blick über den silbergrauen Horizont schweifen zu lassen, der die Konturen von Himmel und Meer verwischt.

Und Stress hatte sie genug. Da war zum einen ihre Karriere und als CFO eines Versicherungskonzerns, blieb auch nicht viel Zeit für ein Privatleben. Ihre letzten Beziehungen waren unter anderem aus diesem Grund krachend gescheitert. Mittlerweile war ihr Glaube an die große Liebe so zerrüttet, dass sie eine Mauer aus Zynismus um sich errichtete. Umso mehr brauchte sie an den Wochenenden diese Auszeiten an der Nordseeküste. Hier, wo sie mit ihren Eltern schon als Kind Urlaub gemacht hatte. In Gedanken an die unbeschwerten Tage der Kindheit, ließ sie den Blick über den Strand schweifen.

Was war das? Irgendetwas hatte da doch aufgeblitzt. War das eventuell eine Münze, die die letzten Sonnenstrahlen des Tages reflektierte? Marie war neugierig geworden und stieg den steilen Trampelpfad die Düne hinab. Je näher sie kam, um so deutlicher zeigte sich, dass eine Flasche halb vergraben aus dem Sand ragte. Sie schien alt zu sein. Die Oberfläche war von Sand und Muscheln verkrustet. Dennoch war sie intakt und sogar verschlossen. Marie versuchte daran zu ziehen und die Flasche aus dem Sand zu befreien. Erst mit einer Hand, dann mit zweien und dann … lag sie wie ein Maikäfer auf dem Rücken. Mit einem „Plopp“ hatte sich der Verschluss gelöst. Als sich Marie aufrappelte, sah sie auf zwei kniehohe Stiefel mit blanken silbernen Schnallen, in denen eine braune Lederhose steckte. „Stiefel mit Schnallen. Was ist das für ein Freak.“, dachte sie, während ihr Blick weiter nach oben wanderte. Die Hose endete am Bund in einem Gürtel mit einer, ebenso wie die Stiefel verzierten, breiten Silberschnalle. Auch das weiße Leinenhemd mit den weiten Pluderärmeln und der Schnürung, passten nicht in diese Zeit. Schließlich blickte sie in zwei stahlgraue Augen, die sie zu hypnotisieren schienen. Das halblange dunkle Haar war ordentlich zu einem Zopf gebunden und der fein gestutzte Bart ließ diese Person irgendwie aussehen, als ob Errol Flynn gerade einem 40iger-Jahre Piratenfilm entsprungen wäre. Marie schob diese Gedanken zur Seite und schüttelte sich. „Ist heute Halloween?“, fragte sie schnippisch, wobei sie eine Augenbraue fragend hochzog.

„Wie bitte? Was meinst Du?“, fragte der Fremde.

„Na, dein Aufzug. Oder nennst du das normal? Wo kommst du überhaupt auf einmal her?“

„Erkennst Du mich nicht? Ich bin es. Jean.“

„Jean wer?“

„Jean. Dein Mann.“

„Mach dich nicht lächerlich. Ich wüsste ja wohl, ob ich verheiratet bin!“

„Du erinnerst dich wirklich nicht. Wir hatten uns doch geschworen, aufeinander zu warten.“ Auf Jeans Gesicht legte sich der Schatten der Enttäuschung.

„Jetzt ist aber Schluss! Sonst rufe ich die Polizei.“ Lag es an der Aufregung, oder spielten ihre Sinne einen Streich, aber die Gestalt schien das Zwielicht der untergehenden Sonne durch den Körper durchscheinen zu lassen und sich langsam aufzulösen.

„Was war das?“ Marie befand sich mit einem Male wieder auf ihrem Hosenboden. Hatte sie sich das jetzt eingebildet? Eine flüsternde Stimme ging ihr nicht mehr aus dem Kopf: „Wir hatten es uns doch geschworen …“ Marie sah zu der Flasche. Sie war offen und ein zusammengerolltes Papier war zu erkennen. Marie zog mit spitzen Fingern einen Brief heraus. Er war datiert auf den 17. Oktober 1742:

„Geliebte Sophie,

ich weiß nicht, ob Dich diese Zeilen jemals erreichen werden. Ich hatte versprochen in die neue, gelobte Welt aufzubrechen, um eine Existenz für uns aufzubauen. Leider konnte ich meine Feinde nicht abschütteln – sie sind hier auf diesem Schiff. Gebe Gott, dass ich ihnen irgendwie entkomme. Ich werde unseren Schwur nicht vergessen: Liebe in alle Ewigkeit. Dein Jean.“

Darunter war in Kohle das Portrait einer Frau gezeichnet. Die Zeit hatte die Konturen verwischt, dennoch glaubte Marie eine Ähnlichkeit mit sich selbst in der Zeichnung zu entdecken. Dann erschrak sie und tastete unwillkürlich nach ihrer Kette. Das Porträt dieser Sophie trug ein Kreuz um den Hals und es sah haargenau aus wie ihres. Das Familienerbstück, dass seit Generationen an die Töchter weitergegeben wurde.

Am nächsten Tag saß Marie gedankenversunken im Strandcafé. Was hatte sie sich nur eingebildet und was war Realität? Sie hatte den Brief. Der war real. Doch die Ähnlichkeiten konnten auch nur purer Zufall oder das Trugbild ihrer Fantasie sein.

„Was darf ich Ihnen bringen, junge Dame?“

Die Stimme riss Marie aus ihren Gedanken. Sie blickte auf und sah in stahlgraue Augen. Und dann war ihr so, als ob das Meer ein Flüstern zu ihr rüber trug: „Wir haben es uns geschworen …“

 

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