Von Alicia Allgäuer

„Marisa Costa do Pau war die erste Anführerin des Quilombos Cupú im brasilianischen Amazonasgebiet. Geboren 1721 in Guinea, wurde sie wenige Jahre später als Sklavin nach Brasilien verkauft, wo sie sich gegen die unmenschliche Behandlung zu wehren begann. Gemeinsam mit anderen Sklaven und Sklavinnen floh sie in ein unzugängliches Gebiet an einem kleinen Zufluss des Amazonas und gründete die Siedlung Cupú. Marisas Leadership-Fähigkeiten war es zu verdanken, dass Cupú jahrzehntelang den Angriffen der Sklavenjäger standhalten konnte.“ 

Im Festsaal der Universität drängten sich an die 80 Personen in der stickigen Luft. Tamara war vor dem unangenehm nahen Atem eines Mannes, der ihr heiß in den Nacken blies, an den Rand der Menge geflüchtet. Fasziniert verfolgte sie den Vortrag. Was für eine Frau! Warum hatte sie nicht früher von ihr gehört? Immerhin waren die brasilianische Sklaverei und der Widerstand dagegen Teil ihres Forschungsschwerpunktes. Sie musste unbedingt mehr herausfinden, das könnte sogar ein kleines Forschungsprojekt mit ihren Studierenden werden. „Quilombos: Weiblicher Leadership und politische Organisation“, das klang doch gut als Seminartitel. 

„Nun gibt es erstmals neue Erkenntnisse über Marisa Costa und ihre Verteidigungsstrategien, und zwar dank dieses außergewöhnlichen Fundes!“ Die Vortragende hielt eine bauchige Flasche aus undurchsichtigem grünem Glas in die Höhe, in deren Innerem etwas zu stecken schien. „Tatsächlich scheinen die verschiedenen Quilombos durch ein ausgeklügeltes System miteinander kommuniziert zu haben: mittels Flaschenpost! Marisa kannte die Flussläufe und Stromschnellen wie ihre Handflächen. Dieses Wissen hatte sie sich durch regen Kontakt mit lokalen indigenen Gruppen angeeignet und nutzte es, um wichtige Informationen schneller als jede Läuferin zu den anderen Widerstandssiedlungen zu bringen. Und das hier“ – sie zeigte auf zwei graubraune Reste einer Hülle auf dem Rednerinnenpult – „war die Schutzhülle für die Flaschen: ein Kautschukmantel, der sowohl das Glas vor den Steinen schützte als auch den Inhalt vor dem Wasser. Kautschukbäume gab es in der Gegend ja zur Genüge, die Flaschen allerdings waren sehr wertvoll.“ 

Ein anerkennendes Raunen ging durch den Saal. Tamaras Finger kribbelten aufgeregt. Sobald der Vortrag zu Ende war, würde sie sofort ein paar Ideen aufschreiben und Informationen recherchieren, um das Seminar fürs nächste Semester zu beantragen! Außerdem wollte sie sich gut überlegen, welche gezielten, wohlinformierten Fragen sie der Vortragenden später stellen könnte. Sie hörte sich noch die Ausführungen über die ausgeklügelte Symbolschrift an, die in den Flaschen transportiert wurde. Dann drängte sie sich am applaudierenden Publikum vorbei hinaus aus dem Saal und in den ersten Stock, wo der Computerraum für Lektor*innen war.

 

Kaum hatte sie begonnen, sich in eine Journal-Suche zum Thema zu vertiefen, hörte sie hinter sich die Tür. Der Mann, der ihr vorher so selbstgefällig in den Nacken geblasen hatte, betrat den Raum. Er war groß und kräftig, braungebrannt und gut gekleidet, Tamara musste unwillkürlich an eine Nespresso-Werbung denken. Er bedachte sie mit einem breiten Grinser, sagte laut „Hallo“ mit einem langgezogenen O und setzte sich hinter ihr an den gegenüberliegenden Computer. 

„Hi“, antwortete Tamara und widmete sich wieder ihrer Suche. 

„Wie hast du den Vortrag gefunden?“, fragte er in Tamaras Rücken, der sogleich seine Muskeln spannte. „Ein bisschen unglaubwürdig, diese Geschichte, findest du nicht?“

Sie zog die Schultern kaum sichtbar hoch, wie um ihren Nacken vor weiterem ungebetenem Atem zu schützen.

„Hmm“, murmelte sie. Unwillkürlich richteten sich sämtliche Körperhärchen auf, bereit im Ernstfall zu Stacheln zu werden. Sie hatte keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Eigentlich wollte sie nur in Ruhe ihre Recherchen fortsetzen.

„Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu?“

„Na ja, nicht ganz, das ist mein zweites Semester.“ Tamara drehte sich kurz zu ihm um, lächelte schwach, um nicht allzu unfreundlich zu wirken, und begann dann betont geschäftig auf dem Bildschirm herumzuklicken. 

„Na dann willkommen im akademischen Zoo.“ 

„Danke.“ Sie versuchte nochmals ein schwaches Lächeln in seine Richtung und drehte sich wieder zum Bildschirm. 

„Hier muss man gut auf sich schauen, sonst frisst einen ein wildgewordener Zoobewohner.“ Er bedachte seine Bemerkung mit einem heiseren Lachen. 

Tamara hörte hinter sich den Bürosessel knirschen, die schmutzstarren Rädchen schlurften über den Plastikboden. Jetzt nichts wie hinaus und zurück nach unten. 

Sie loggte sich aus dem System aus und wollte gerade aufstehen, als sie den Atem hinter sich spürte. Er roch nach scharfen Pfefferminzbonbons und Zigaretten. Tamara zuckte zusammen, als eine Hand ihre Schulter berührte. Dann die zweite. Durch die Schockstarre im ganzen Körper zogen sich alle Stacheln zurück unter die Haut.

„Also, wenn du das hier länger durchstehen willst, solltest du dich etwas entspannen, sonst kriegst du Rückenprobleme.“ 

Er begann, ihre Schultern zu massieren, raue Finger strichen ihren Nacken entlang. Tamara bekam Gänsehaut. Was war das? Wollte er nur nett sein, kollegiale Ratschläge geben? Sie würde ihm wohl oder übel noch öfter begegnen, also konnte sie nicht gleich eine Szene machen. Reiß dich zusammen! Solange er da oben bleibt mit seinen Fingern, gibt es keinen Grund zur Beunruhigung!

Seine Hände bearbeiteten mit kräftigen Bewegungen Schultern und Nacken. 

Sie erstarrte zu bleichem Marmor. 

Er strich langsam ihre Arme hinab. 

Ihr wurde innerlich eiskalt. 

Er seufzte laut und drückte ihre Hände. 

Kalter Schweiß sammelte sich in ihren Achselhöhlen. 

Er ließ von ihr ab. 

„Freut mich, dass wir uns jetzt kennengelernt haben! Bis bald also, ich muss weiter.“

„Tschau“, krächzte Tamara und starrte ihm mit großen Augen nach. 

 

Zwei Schweißtropfen perlten von ihrer Stirn, fingen sich im Augenwinkel und mischten sich mit einer dicken Wutträne. Keine ihrer Gliedmaßen war bereit sich zu bewegen. 

Was war das gerade gewesen? Wieso fühlte sie sich plötzlich so schrecklich müde, wie ausgesaugt? Es war doch wirklich nichts Schlimmes passiert. Oder doch? Die Stellen, die er berührt hatte, brannten wie Feuer. Auch innerlich begann sich ein Feuer auszubreiten. Sie wurde unglaublich wütend auf sich selbst, gleichzeitig spürte sie einen Brechreiz aufsteigen. 

Wieso hatte sie nichts gesagt? Nimm deine Pfoten weg, frag wenigstens, ob ich massiert werden möchte, berührt werden möchte, lass mich in Ruhe!

Sie stemmte sich aus dem Sessel und griff nach ihrer Tasche. Wie in Trance schaffte sie den Weg zum Klo, das grelle Licht und die weißen Fliesen verstärkten den Brechreiz. „Watch out! We feminists disguise ourselves as human beings“, stand da mit schwarzem Filzstift unter einem Bild einer erwachsenen Pippi Langstrumpf, die einem Mann in die Eier trat. Das kühle Wasser tat gut. Sie trank einen großen Schluck davon und hielt dann solange den Nacken unter das fließende Wasser, bis die Kälte auf der Haut schmerzte. 

Dann ging sie langsam wieder hinunter. Sie merkte plötzlich, dass sie sich unbewusst mehrmals umgedreht hatte. Niemand war im langen Gang zu sehen. Draußen auf dem Stiegenhaus drangen schon die Stimmen aus dem Festsaal zu ihr. Gläser klirrten, Menschen lachten. Tamara strich ihre Haare glatt und nahm ein paar tiefe Atemzüge. 

Alles okay! Sie wollte ja noch mit der Vortragenden sprechen, sie um mehr Informationen bitten, sie eventuell ins Seminar einladen. Geht schon, du schaffst das, lass dich nicht von so einer Kleinigkeit aus der Bahn werfen!

Drinnen im Saal war die Vortragende umringt von fragenden und staunenden Menschen. Tamara gesellte sich dazu und versuchte zu verstehen, worum es gerade ging. Sie merkte, wie ihre Gedanken abschweiften und sie immer noch den Saal nach dem Typen absuchte. 

Sie schüttelte sich leicht und ging noch einen Schritt auf die Vortragende zu. Die reichte gerade einem dicklichen älteren Herrn die Flasche und erklärte ihm das System des speziellen wasserdichten Kautschukstöpsels. Da spürte Tamara den Atem im Nacken. Ihr Herz begann wie wild zu klopfen, der Brechreiz war wieder da.

Reiß dich zusammen! Stell deine Fragen! 

„Ich gratuliere herzlich zu Ihrem wundervollen Vortrag, eine bahnbrechende Entdeckung!“, unterbrach er ihren Affirmationsversuch, über ihren Kopf hinweg die Vortragende anlächelnd. 

Das Herz schien aus ihrem Hals springen zu wollen, sie hielt den Atem an, um die Pfefferminz-Zigarettenmischung nicht riechen zu müssen, sie versuchte gegen den Strudel anzukämpfen und wurde doch immer weiter hinabgezogen. Alles um sie herum verschwamm, und inmitten der aquarellartigen Umgebung schien Marisa Costa do Pau aus der Flasche zu ihr zu sprechen. 

Wehr dich! Lass ihn nicht davonkommen, du bist nicht allein!

Wie in Trance griff sie nach der Flasche, riss sie aus der Hand des älteren Herrn und schleuderte sie mit aller Wucht gegen seinen rechten Fuß. Er konnte ein schmerzvolles Aufstöhnen nicht verhindern. Die Flasche prallte von seinem Rist ab und knallte auf die Terrakottafliesen. Kleine und größere grüne Glasstücke verteilten sich um sie herum auf dem Boden. Es war totenstill im Saal, alle Blicke auf Tamara gerichtet. Einige Köpfe wurden missbilligend geschüttelt, da und dort aufgeregtes Tuscheln. Er hatte seine Haltung wiedergefunden, grinste amüsiert über ihr hochrotes Gesicht und schien die Aufmerksamkeit sogar zu genießen. Tamara spürte, wie ihr der Schweiß über den Rücken und aus dem Haaransatz rann. Alle schienen darauf zu warten, dass noch etwas geschähe. Tamara blickte in die dunkelbraunen Augen der Vortragenden. Sie schienen alles zu verstehen, alles zu wissen. Für einen Augenblick wurde sie ganz ruhig. Dann drangen langsam wieder Zigarette, Pfefferminze und Publikum in ihr Bewusstsein, ihr Herz schien plötzlich stillzustehen. Sie rannte unter Nadelstichblicken zum Ausgang.

Er blieb mit hoch erhobenem Kopf inmitten der Glasscherben stehen. Der dickliche Herr klopfte ihm zweimal kräftig auf die Schulter und seufzte komplizenhaft: „Frauen!“