Von Eva Fischer

Ist mein Fell braun oder weiß? Einen Spiegel habe ich schon lange nicht mehr. Ich könnte ins Wasser schauen, das meine Insel umgibt, aber meist ist das Meer unruhig und verwischt die Konturen. Oder meine Augen sind mit der Zeit trüb geworden? Wer weiß das schon so genau?

Mit dem Begriff Zeit kann ich nichts mehr anfangen. Ich kenne weder Wochentag, noch Monat, noch Jahr, nur dunkle und helle Phasen, nur Wachsein und Schlafen, wobei sich diese nicht mehr scharf trennen lassen. Manchmal erlebe ich nachts die Träume intensiver, als wenn ich tagsüber aufs Meer schaue und darauf warte, dass ein Fisch anbeißt.

Ich bin ein Einzelgänger. Ich mag es, wenn ich allein entscheiden kann, ich für meine Fehler allein verantwortlich bin. Die Fragen, die mich beim Fischen manchmal umtreiben:

 Wo komme ich her?

 Warum bin ich auf einer Insel? 

Habe ich mein Schicksal frei gewählt?

Gibt es Menschen, die mir nahestanden, die ich vermissen könnte? 

Können Eisbären schwimmen?

Dann kommt wieder der Wind und pustet mir die Gedanken aus dem Kopf, denn ich ahne, dass ich die Antworten nicht hören möchte oder dass es sie gar nicht gibt. 

 

In meinen Nachtträumen sehe ich oft ein schillerndes, weibliches Wesen, das sich elegant durchs Wasser bewegt und mir zuwinkt. Aus dem Mund steigen Luftblasen auf. Es möchte mir etwas mitteilen, aber kein Ton dringt an die Oberfläche, kein Wort an mein Ohr. Das Wesen ist mir gleichzeitig vertraut und fremd. Ich möchte es an mich drücken, liebkosen, aber ich habe Angst, es könnte mich zu sich hinabziehen. Ich kann nicht schwimmen. Ich bin ein Brummbär, sie ist eine Nixe. Wir passen nicht zusammen. Doch ich kann nicht von ihr lassen. Ich fiebere dem Moment entgegen, wo die Dunkelheit in die Traumwelt übergeht. Tagsüber, wenn ein Fisch an meiner Angel hängt, dann sehe ich sie im Wasser zappeln. Verzweifelt werfe ich den Fisch zurück ins Wasser. Ich kann mir solche Eskapaden eigentlich nicht erlauben. Ich habe kein Geld. Ich muss nehmen, was das Meer mir als Nahrung anbietet.

 

Irgendwann hat das Meer eine Flasche an den Strand gespült. Flaschen sind vielseitig verwendbar. Man kann Wasser darin schöpfen oder im Sand nach Muscheln graben. Ganz vorsichtig nahm ich die grüne Flasche mit dem schlanken Hals in meine Hände. Sie glitzerte wie ein Smaragd im Sonnenschein. Da sah ich ein weißes Papier in ihrem Inneren. Post für mich? Meine Hände zitterten vor Aufregung. Behutsam holte ich das Papier heraus und strich es glatt.

Vergiss mich nicht, Liebster! Wir werden uns wiedersehen. Hier an diesem Ort. Am letzten Tag des Monats, an dem wir uns das erste Mal begegnet sind.

Wann sind wir uns zum ersten Mal begegnet?

Im Frühling, als die Kirschen blühten?

Im Sommer, als das Korn reifte?

Im Herbst, als sich die Blätter blutrot färbten?

Seither gehe ich jeden Tag zu dieser Stelle und schaue auf das Meer, das manchmal grollt, manchmal sanft säuselt. Wie bei der Geburt der Aphrodite warte ich darauf, dass du aus dem Meeresschaum aufsteigst, dich endlich zu erkennen gibst.

Wie gesagt, ich habe kein Zeitgefühl mehr. Ich weiß nicht, wie lange ich schon warte. Merkwürdigerweise versetzt mich der Gedanke, dass du nicht kommst, nicht in Panik. Oder dass du gar nicht existierst. Das Warten gibt meinem Tag eine Struktur und meinem Leben einen Sinn. Kann man sich etwas Besseres wünschen.

 

Die Frau mit dem faltigen Gesicht und den weißen Haaren reicht mir ein Glas Wasser. Ja, ich habe Durst. Gierig leere ich es mit einem Zug. 

Ich lächle ihr dankbar zu. Sie streicht mir über meine struppigen Haare. Ich spüre ihren kräftigen Busen. Plötzlich kommt mir eine Idee:

„Hast du meine Aphrodite gesehen?“, frage ich. Sie ist doch eine weise Frau. 

Die Antwort kann ich nicht hören, aber ihre Tränen schmecken salzig.