Von Claudia Grothus

Mein letzter Urlaubstag. Über Nacht hat sich das Wetter eingetrübt. Die Wolken hängen so tief, dass ich die Berge ringsherum noch nicht einmal erahnen kann.

Ich mache einen Abschiedsspaziergang durch den Ort und während ich über das historische Pflaster laufe, spüre ich meine Beine: Zwei Wochen Bergwandern haben mich jeden Muskel persönlich kennenlernen lassen.

Der Bach, der durch den Ort fließt, ist deutlich angeschwollen. An einem uralten Haus gibt es ein großes Wasserrad, das sich schneller als gewöhnlich dreht. Ich bleibe stehen, schaue dem Rad zu und höre auf das Rauschen des Wassers.

Ein leiseres Klackern lenkt meinen Blick auf die Bergseite des Rades. Da hopst eine PET-Flasche auf den Wellen herum, will immer wieder in eine der aufsteigenden Schaufeln hinein, ist aber zu groß, um mitgenommen zu werden.

Ich lehne mich weit über die Mauer und erwische die Flasche an ihrem blauen Verschluss.

In der Flasche steckt etwas drin. Ein Blatt Papier. Das ist ja merkwürdig! Aber ohne ein Messer oder eine Schere komme ich da nicht dran. Ich laufe zurück zum Campingplatz und krame im Handschuhfach des Wohnmobils nach meinem Leatherman. Damit schlitze ich so lange an dem widerspenstigen Plastik herum, bis die Flasche das Papier freigibt.

Es ist eine etwas aufgeweichte Seite, die aus einem Notizbuch herausgerissen wurde. Mit Bleistift steht darauf:

Hilfe!!! Bin umgeknickt. Kann nicht laufen. Bitte den Bach zu mir hinauf verfolgen.

Ach du liebe Güte! Da ist jemand in Bergnot und das möglicherweise schon seit gestern! Es ist ja erst zehn Uhr früh. Ich klappe mein Notebook auf und klicke mich eilig bis zur Telefonnummer der Bergrettung durch.

„Guten Tag, ich habe eine Flaschenpost gefunden, da ist jemand in Bergnot!“

„Sie haben WAS gefunden?“

Mir wird klar, dass meine Geschichte ziemlich seltsam klingt. Schnell erzähle ich das Nötigste.

„Ist da ein Name dabei, oder ein Datum?“

„Äh, nein.“

„Dann könnte diese Flasche ja schon vor Wochen abgeschickt worden sein. Oder sie ist einfach nur ein schlechter Scherz.“

Der Mann von der Bergwacht ist nicht überzeugt.

„Wo genau haben sie die Flasche gefunden?“ Er scheint auf einer Karte den Verlauf des Bachs zurückzuverfolgen.

„Für eine Suche mit dem Helikopter ist die Sicht zu schlecht. Eventuell könnten wir ein paar Leute zu Fuß hochschicken, aber das dauert, bis wir ein Team zusammengestellt haben.“

Er klingt so, als würde er niemanden losschicken.

„Vielen Dank jedenfalls, wir kümmern uns darum.“

Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll.

Es ist keine wirklich vernünftige Entscheidung, die ich jetzt fälle, es ist eher so, dass ich das einfach tun muss. Ein dringender Impuls in mir sagt, dass es überhaupt keine andere Option gibt, als dass ich da jetzt raufgehe.

Ich schaue auf OpenStreetMap, welche Zuflüsse den Bach im Dorf speisen. Es gibt zwei Berge, von denen die Flaschenpost heruntergekommen sein könnte. Einen davon schließe ich aus, weil er nur von Seilschaften beklettert werden kann. Dort wird eine einzelne Person kaum unterwegs sein. Auf dem anderen Gipfel habe ich vor einer Woche selbst gestanden. Eine Wanderung, die Kondition erfordert, aber nicht wirklich schwierig ist.

Und damit steht mein Ziel fest.

Während ich einen Tee für meine Thermosflasche koche, ziehe ich meine Schlechtwettermontur an, packe den Rucksack und schnüre die wasserfesten Wanderschuhe.

Keine halbe Stunde später lasse ich die letzten Häuser hinter mir und steige über einen Wanderweg aufwärts.

Nach einer kurzen Weile tauche ich in einen Lärchenwald ein, der von Nebelschwaden durchzogen ist. Jedes Geräusch wird von der Luftfeuchtigkeit geschluckt. Die mystische Schönheit dieses dämmrigen Waldes mischt sich mit einem leisen Gefühl von Bedrohung.

Während ich mir noch sage, dass dieses mulmige Empfinden kindisch und ein bisschen Nebel wirklich überhaupt kein Problem ist, kommen in mir Zweifel auf, ob das alles nicht eine total absurde Idee ist. Der Mann von der Bergwacht hatte Recht. Diese Flaschenpost war bestimmt nur ein dummer Streich.

Ich komme mir so blöd vor, dass ich froh bin, niemandem von meinem Vorhaben erzählt zu haben. Trotzdem steige ich immer weiter aufwärts.

Ich rede mir ein, dass ich einfach nur eine schöne Abschlusswanderung mache. Die Berge haben ja bei Regenwetter ihren ganz eigenen Reiz. Ich bin trittfest, meine Bergschuhe bewältigen locker auch einen glitschigen Untergrund und meine Funktionsklamotten halten mich trocken. Ich bin super in Form. Alles ist gut.

Ein Holzschild weist jetzt vom breiten Wanderweg einen schmalen Abzweig hinauf, der steil ansteigt. Unglaublich, wie kalt die Luft hier oben ist, wenn keine Sonne scheint. Aber mir ist warm genug vom Steigen.

Ich höre meinen eigenen Atem. Normalerweise ist das für mich ein beruhigendes Geräusch. Ich steige sonst in einem Flow, in dem der Atem sich ganz von allein dem Rhythmus der Schritte anpasst. Aber heute finden meine Beine und mein Atem nicht zusammen. Ich bin kribbelig und nervös.

Inzwischen befinde ich mich in einer Wolke. Ich kann kaum drei Meter weit sehen. An manchen Stellen bin ich sehr verunsichert, ob ich noch auf dem Pfad bin. Der Untergrund ist felsig und ich kann die rotweißen Wegmarkierungen erst sehen, wenn ich direkt davorstehe.

Streckenweise kriecht mir Angst den Rücken hinauf, wenn ich mir vorstelle, vom Weg abgekommen zu sein und an Abgründen entlangzulaufen, die ich nicht sehen kann.

Während ich eine hohe Felsstufe nehme, taucht vor mir im Nebel eine rotweiße Markierung auf. Ich bin noch auf dem richtigen Weg. Erleichterung.

Inzwischen erwarte ich gar nicht mehr, da oben irgendjemandem zu begegnen. Ich gehe nur hinauf – na, um eben hinaufzugehen. So wie immer. Es ist alles so wie immer, nur mit einem bisschen Nebel. Also was?

Kurze Zeit später bin ich schon wieder unsicher, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin. Ich bleibe stehen und sehe mich um. Drei Meter milchige Luft und dahinter nichts, außer waberndem Weiß.

Was mache ich hier eigentlich?

Ich schaue auf mein Handy – es hat Empfang. Gottseidank! Und da fällt mir dann auch ein, dass kein Mensch ohne Handy in den Bergen unterwegs ist. Ein Grund mehr, dass diese Flaschenpost ein Fake ist.

Das innere Kribbeln lässt nicht nach und auch nicht das nervöse Kreisen der Gedanken. Am schlimmsten ist die Spannung zwischen dem Geh weiter und dem Kehr um – auf jedem Meter, bei jedem Schritt. Ein Abstieg wäre jetzt genauso gefährlich wie der weitere Aufstieg. Möglich, dass sich zum Mittag der Nebel auflöst. Genauso möglich, dass er es nicht tut.

Ich kann mich nicht entschließen umzukehren. Wenn ich mich jetzt, hier auf dem Weg umdrehen und wieder bergab gehen würde, dann würde der Tag verloren sein – abgebrochen und hohl. Meine Welt würde kleiner werden.

Ich weiß, dass ich das kann. Ich kann da hinaufsteigen, da ist nur etwas in meinem Inneren, das sich voll in die Hose macht. 

Ein Schluck heißer Tee bringt etwas mehr Normalität in meine Situation. Ich wende mich dem Hang zu und steige weiter hinauf. Alles andere ist einfach keine Option.

Eine Viehtränke taucht ein Stück weiter aus dem Nebel auf. An die erinnere ich mich. Jetzt weiß ich, wo ich bin. Vor mir muss ein breiter, steiler Hang liegen. Ich bin schon weit über der Baumgrenze, aber bis zum Gipfel müssen es noch zwei- oder dreihundert Höhenmeter sein. Jedenfalls besteht hier nirgends die Gefahr abzustürzen, denn dieser Berg hat einen zwar steilen, aber runden Kopf.

Ich gehe weiter und höre ein leises Rauschen. Das muss die Schmelzwasserrinne sein, die bis hinunter zu dem Wasserrad verläuft.

Es wird jetzt mit jedem Schritt heller, der Nebel wird dünner, zerfasert sich und auf einmal sehe ich die Sonne. Ich bin über den Wolken und unter einem blauen Himmel. Ich sehe die gegenüberliegenden Gipfel, die wie Inseln in einem Meer aus Nebel schwimmen. Unwirklich, großartig, extrem einsam.

Meine Augen suchen den kargen, felsigen Hang ab. Wenn hier jemand eine Flasche in den Bach geworfen hat, dann nicht vom Gipfel aus, denn das Wasser sammelt sich erst ein ganzes Stück unterhalb. Ich verlasse den Pfad und quere über den Hang in Richtung des Rauschens. Bald treffe ich auf ein schmales, sprudelndes Rinnsal. Weit und breit ist niemand zu sehen.

Und nur zur Sicherheit, nur damit das alles ein kleines bisschen Sinn ergibt, gehe ich in langen und engen Serpentinen abwärts. Hier oben wächst nichts mehr außer Flechten. Der ziemlich steile Hang ist, zwischen sehr grobem Geröll und kleinen Felsen, schwer zu begehen.

Weit vor mir sehe ich eine rote Markierung und gehe darauf zu. Irgendetwas ist daran merkwürdig. Es ist keine Markierung. Es ist etwas anderes Rotes. Ich beschleunige meine Schritte, fange fast an zu rennen, meine Wanderstöcke fangen mehr als einmal einen Beinahe-Sturz ab. Das ist eine rote Jacke! Da ist jemand! Eine Gestalt lehnt, tief gebeugt, an einem großen Felsen. Ein Bein ausgestreckt, das andere angezogen, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt.

„Hallo?!“ Ich rufe, ich laufe, ich bin schon da. Vorsichtig fasse ich den Mann an der Schulter. „Hallo? Können Sie mich  hören?“ Einen Augenblick lang habe ich Angst, eine Leiche gefunden zu haben. Aber da bewegt er sich, stöhnt kurz auf und sinkt dann wieder zusammen.

Ich fummle mein Handy aus der Tasche und rufe die Bergrettung an. Das Gespräch geht sehr schnell. Ich weiß genau, wo ich bin, ich weiß, dass hier oben gute Sicht ist und ich weiß, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich finde auch das Handy des Mannes in seiner Brusttasche. Wie erwartet, ist es aus und der Akku leer. Ich lege den Arm um meinen ohnmächtigen Kollegen und erzähle ihm – egal ob er mich hört oder nicht – dass jetzt alles gut ist, dass Hilfe kommt, dass er gerettet ist, dass er es überstanden hat.

Als ich wenig später das Klopfen eines Hubschraubers in der Luft höre und mich, mit zu einem V erhobenen Armen, auf den großen Felsen stelle, fühle ich mich so glücklich wie noch nie in meinem ganzen Leben.

 

V2