Von Lena Rupp

Hallo meine Kleine,

Du bist jetzt so groß wie eine Erbse, deshalb nenne ich dich auch so. Ich weiß nicht, wie viele Zellteilungen du schon geschafft hast. Morgen werden sie zu Ende sein. Heute ist der dritte Tag nach dem Gespräch, so lange muss ich warten. Ich habe mich genau informiert. 

Stefan weiß nichts davon. Stefan würde um dich kämpfen. Das habe ich Frau Bodden gestern auch gesagt. „Es ist ganz allein Ihre Entscheidung“ hat sie gesagt und aufmunternd genickt. „Wie lange noch?“ wollte ich Frau Bodden fragen, wie lange noch? In Texas ist es schon verboten. Aber ich lenke ab. Nur weil es politisch und gesellschaftlich hier noch möglich ist, wird meine Entscheidung nicht einfacher. Sie zu politisieren, entfernt mich von dem, was ich fühle, hat meine Therapeutin gesagt. „Worum geht es eigentlich?“ fragt sie dann, und ich weiß genau, was sie meint. Könnte ich es doch? Immer wieder diese eine Frage. 

Das Zugticket habe ich mir schon gekauft, Hin- und Rückfahrt, 2. Klasse, Wagen 5, Platz 56. Ich habe mir eine Krankmeldung geholt und meinem Chef gesagt, dass ich eine Magen-Darm- Verstimmung habe. Salmonellen im Hühnchen wahrscheinlich. Die Geschichte klingt stimmig und ich war schon lange nicht krank. Der Termin ist morgens früh um 10 Uhr. Ich habe noch davor Zeit, zum Rhein zu laufen, diesen Brief an dich in meine Wasserflasche zu stecken und loszuschicken. Du siehst, ich habe alles geplant, kleine Erbse. „Gut so“, sagte meine Therapeutin, „vielleicht hilft Ihnen das, loszulassen“. Will ich das, dich loslassen? Warum fühle ich mich nicht so entschlossen, wie ich es mir vorgestellt habe? Könnte ich es doch? Immer wieder diese eine Frage. 

Ich stelle mir die Rückfahrt vor, wie ich in den harten Sitz zurücksinken werde, wie der brummige Schaffner meine Fahrtkarte kontrollieren, meine Sitznachbarin mich mustern wird, und ich so tun werde, als sei alles wie immer. Als hätte es dich nie gegeben. „Es kann sein, dass Sie nach ein paar Tagen von Gefühlen überwältigt werden“, sagte mir Frau Bodden am Ende des Gesprächs. „Oft setzt die Trauerreaktion verzögert ein. Das ist nicht weiter beunruhigend“.  Dieser Satz klingt so steril. Hat sie über mich gesprochen oder ein Elektrogerät, dass einfach nicht gut programmierbar ist?

Die medizinische Aufklärung habe ich aus dem Internet. 

„Das Standardverfahren ist die Vakuumaspiration, auch Absaugung oder Saugkürettage genannt. Dabei wird unter Vollnarkose oder in örtlicher Betäubung ein schmales Röhrchen durch die Scheide in die Gebärmutterhöhle eingeführt. Durch dieses Röhrchen werden der Embryo und die Gebärmutterschleimhaut abgesaugt“ (Quelle Wikipedia)

Es klingt schrecklich, kleine Erbse. Du wirst weggesaugt und verschwindest in den Tiefen und Weiten des Universums. Oder eben im Röhrchen und dann in irgendeinem Spezialabfalleimer, den sie dort für menschliche Überreste bestimmt DIN-normiert rumstehen haben. Je nachdem, wie philosophisch oder pragmatisch man sich dem nähert. Jetzt würde Frau Kumpf wieder sagen, bleiben Sie bei sich. Worum geht es hier eigentlich? Könnten Sie es doch? Sie war die erste, die mich das gefragt hat. Und jetzt immer wieder diese Frage. 

Ich stecke diesen Brief an dich jetzt in meine Flasche und schließe sie fest. Und dann lasse ich dich gehen. 

Oder könnte ich es doch? Was denkst du?