Von Regina König

Als ich auftauchte, stieß irgendetwas leicht an meinen Kopf. Ich sah mich um.

Es muss die kleine grüne Plastikflasche gewesen sein, die nun etwa einen halben Meter von mir entfernt von den Wellen hin- und hergeschaukelt wurde. Wer hatte diesen Müll ausgerechnet hier im Meer entsorgt, an der schönen Felsenküste südlich von Livorno, wo man Seesterne, Polypen, Seeigel und jede Menge Fische im Wasser sah? Verärgert griff ich nach der Flasche, um sie mitzunehmen und später auf dem Heimweg in eine der Mülltonnen oben am Straßenrand zu werfen.

 

Nachdem es mir nach der langen Zeit im Wasser durch den leichten Wellengang schon etwas schwindlig war, und sich das Netz mit den Napfschnecken, die ich für eine Nudelsoße gesammelt hatte, auch schon ausreichend gefüllt hatte, beschloss ich ans Ufer zu schwimmen und eine Pause zu machen. Als ich an dem Felsen ankam, auf dem meine Sachen lagen, warf ich mit Schwung die Plastikflasche auf mein Handtuch, die dort zwischen Rucksack und der Kühltasche blockiert liegenblieb.

Taucherbrille, Schnorchel und Flossen landeten kurz darauf auf dieselbe Art in der Nähe der Flasche.

Dann stieg ich aus dem Wasser, nahm Bleigürtel und die Napfschnecken und ging hinauf zu meinem Handtuch.

 

Ein Blick auf mein Handy verriet, dass es erst halb zwölf war, also noch über vier Stunden bis zu meiner Schicht im Flughafen. Hungrig nahm ich mein belegtes Brötchen und die Wasserflasche aus der Kühltasche und danach machte mich der eiskalte Espresso, den ich extra stark gezuckert hatte, wieder richtig wach. Ich drehte mir eine Zigarette und griff nach der grünen Plastikflasche, um sie als Aschenbecher zu benutzen.

 

Erst jetzt bemerkte ich, dass ein zusammengerolltes Blatt Papier mit einer Schleife aus einem gelben Wollfaden darin war. Schnell drehte ich den Deckel auf und versuchte den Inhalt aus der Flasche zu bekommen. Vorsichtig zog ich an dem Band und öffnete das Papierröllchen. Eine italienische Kinderschrift war darauf zu erkennen. Zwei Seiten waren ordentlich geschrieben. Der Brief trug ein Datum und musste demnach 20 Jahre alt sein. Ich legte Zigarette und Feuerzeug neben mir ab und las. Ein zwölfjähriges Mädchen hatte mit ihren Eltern zu Ostern die Mutter ihres Vaters auf den äolischen Inseln besucht. Von den Eltern missverstanden, hatte sie wohl ein sehr enges Verhältnis zu ihrer Nonna, also ihrer Oma, gehabt, die sie in dem Brief immer wieder liebevoll als Nonnina bezeichnete. Es war scheinbar abzusehen, dass es der letzte Besuch bei der geliebten Großmutter sein sollte, bevor diese starb, und so hatten die beiden diese Flaschenpost zusammen vorbereitet und bei einem gemeinsamen Spaziergang an einem Badeausflug nach Acquacalda ins Meer geworfen. „Wie weitsichtig von den beiden, eine Plastikflasche zu verwenden. Eine Glasflasche wäre sicher zerbrochen, sobald sie die Wellen gegen einen Felsen geworfen hätten.“, dachte ich halblaut und las weiter.

 

Die Oma hatte der kleinen Alessandra gesagt, sie müsse keine Angst haben, denn sie wäre immer bei ihr, auch wenn ihr Körper nicht mehr da sei. Alle Wünsche und Träume, die Alessandra hatte, wollten sie zusammen aufschreiben, vor allem die, die von ihren Eltern immer belächelt wurden, und von denen die Oma immer gesagt hatte, sie dürfe sie nie aus den Augen verlieren. Denn nur wenn sie an ihre Herzenswünsche und innigsten Träume glaubte, dann könne sie es auch schaffen, sich diese zu erfüllen. Es läge ganz allein in ihrer Hand. Und sie, ihre Nonna, würde von oben dafür sorgen. Also hatte Alessandra, deren Eltern in abwechselnden Schichten in einer Fabrik arbeiteten, ihre Träume aufgeschrieben, Ärztin zu werden, ein kleines Häuschen zu haben, und Kinder und Tiere, so wie es bei der Nonna war. Aber vor allem wollte sie als Ärztin anderen Menschen helfen.

Der Brief endete damit, dass ihr dieser vom Finder der Flaschenpost geschickt werden sollte. Wenn die Nonna wirklich von oben auf sie aufpasste, dann würde jemand die Flasche finden und ihr den Brief schicken. Das wäre dann der Beweis, dass sie wirklich immer bei ihr sei.

Ich sah mir die Adresse an. Die Stelle mit der Postleitzahl war verwischt, als wäre eine Träne darauf gefallen, aber der Ortsname war klar erkennbar. Calcinaia war nicht weit von Vicopisano entfernt, wo ich selber wohnte.

 

Ich sah nach der Uhrzeit, zündete mir die Zigarette an und überlegte kurz. Wenn ich mich jetzt auf den Weg machte, zu Hause vorbeifuhr und duschte dann hätte ich noch etwa zwei Stunden Zeit, um zumindest mal nachzusehen, ob die Familie dort noch wohnte.

 

Die Neugier war zu groß. Mit einem Schluck leerte ich eine kleine Wasserflasche, machte die Kippe darin aus, verschnürte den Brief wieder und steckte ihn vorsichtig in die grüne Flasche zurück. Dann packte ich meine Sachen zusammen und kletterte die Felsen bis zur Straße hinauf. Auf den letzten Metern waren Treppenstufen in den Stein geschlagen, die den Aufstieg etwas erleichterten. Oben angekommen, lief ich rasch zum Auto und fuhr los.

 

Zuhause nahm ich nur die Uniform mit in die Wohnung. Geduscht und umgezogen stand ich Punkt halb zwei vor der Tür, deren Adresse in dem Brief gestanden hatte. Alessandra musste etwa genauso alt sein wie ich. Sicher wohnte auch sie nicht mehr bei den Eltern, aber vielleicht konnten die mir ja sagen, wo sie zu finden sei. Die Flaschenpost direkt bei ihnen abzugeben, schien keine gute Idee. Schließlich stand etwas über das unverstanden fühlen seitens der Eltern darin. Auf einem der drei Namensschilder des Hauses stand Alessandras Nachnahme.

 

Zaghaft drückte ich auf den Klingelknopf und erschrak von dem schrillen Ton, den ich über meinem Kopf hörte. Kurz darauf folgte das Geschrei eines Kleinkindes. „Also doch falsch!“, murmelte ich missmutig vor mich hin, drehte mich um, und wollte wieder gehen. Doch da hatte sich schon ein Fenster geöffnet und eine Frau, die um die 60 Jahre alt sein musste, rief mir hinterher. Ich drehte mich zu ihr um. „Entschuldigung, ich glaube ich bin hier falsch. Ich suche Alessandra, die hier früher gelebt hat. Dann habe ich aber Kindergeschrei gehört und gedacht, dass hier doch jemand anderes wohnt.“ „Das ist richtig, Alessandra wohnt nicht mehr hier, aber gleich ist ihre Schicht zu Ende, und dann kommt sie vorbei und holt ihre Tochter bei uns ab. Wenn Sie solange warten möchten, mache ich uns einen Kaffee.“

 

Natürlich wollte ich warten, aber wie sollte ich nur erklären, warum ich hier war? Konnte ich ihr von der Flaschenpost erzählen? Und wäre Alessandra nicht traurig, wenn sie aus der Schicht kam, und an ihre Träume erinnert würde, die sie doch nicht erreicht hatte, sondern in der Fabrik arbeitete, wie ihre Eltern? Diese Vorstellung machte mich traurig. Aber jetzt war es zu spät. Ihre Mutter stand schon in der Tür und winkte mich freundlich zu sich herein. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, niemanden anzutreffen und dann in der nächstgelegenen Bar nachzufragen, ob dort jemand etwas über den Verbleib der Familie wusste. Irgendwie so hatte ich mir das alles auf der Autofahrt ausgemalt. Wie es aber jetzt doch ganz anders gekommen war, traf mich völlig unvorbereitet.

 

Es gab kein Zurück mehr. Mit einem mulmigen Gefühl und einem nervösen Lächeln kehrte ich um und ging wieder auf das Haus zu. Dabei versuchte ich, die grüne Plastikflasche in meiner großen Handtasche unauffällig verschwinden zu lassen.

 

Alessandras Mutter war fröhlich und redete auf mich ein, so dass ich nicht zu Wort kam. Das erleichterte mich etwas. „Bist Du eine Schulfreundin von meiner kleinen Alessandra? Es tut mir leid, wir haben früher nicht so viel davon mitgekriegt, weil wir abwechselnd in der Fabrik in Schichten gearbeitet haben. Wir hatten viel zu wenig Zeit für das Kind. Wie viele andere sind wir von Sizilien weggegangen, um hier Arbeit zu finden. Wir hatten von einem besseren Leben hier geträumt, aber dann so viel gearbeitet, dass wir von unserer Tochter nur wenig wussten. Sie war viel auf sich allein gestellt, aber immer brav in der Schule. Sehr zurückgezogen war sie, und immer über ihren Büchern. Welche Freunde sie hatte, ist uns dabei entgangen.“, erzählte sie.

 

„Wieviel Zucker?“ „Einen“, antwortete ich schmunzelnd. Es hatte lange gedauert, nachdem ich in Pisa angekommen war, bis ich mich daran gewöhnt hatte, mir nicht selbst den Zucker in die Tasse zu tun. Falls ich wiederkommen würde, würde Alessandras Mutter sicher noch wissen, wieviel Zucker ich im Kaffee haben wollte. Im Verlaufe der Jahre hatte ich mich an diese Art Aufmerksamkeit gewöhnt und wusste in meinem gesamten Freundeskreis genau, wer den Espresso mit wieviel Zucker trank.

 

Alessandras Mutter redete scheinbar ohne Luft zu holen weiter. Wie stolz sie auf ihre Tochter sei, die so gut in der Schule war, dass sie ein Stipendium bekommen hatte. Sie, die Eltern hätten sich das Studium doch gar nicht leisten können. Aber jetzt sei sie Ärztin im Krankenhaus und habe es allen gezeigt, dass sie schaffen konnte, was doch keiner für möglich gehalten hatte. „Wie? Ärztin?“, fragte ich hellhörig.

 

Da ertönte auch schon die schrille Klingel. „Das muss sie sein.“ sagte sie und öffnete die Tür. „Schau mal, Alessandra, hier ist eine Schulfreundin von dir!“ rief sie ihrer Tochter zu. Diese sah mich unverwandt an. „Ich bin noch nicht zu Wort gekommen.“, stammelte ich, und zog die Flaschenpost aus der Tasche. „Die habe ich heute früh in Calafuria beim Schnorcheln gefunden.“

 

„Nonna!“ rief Alessandra mit Tränen in den Augen.

 

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