Von Alice Rollwagen

Ich musste einfach hier weg. Weg von dem Stress, dem Druck, den eigenen Gedanken nicht gut genug für diese Welt zu sein. Es war wie eine Last die mich überall hin verfolgte. Aber war es wirklich richtig alles hinter mir zu lassen? Jeden hinter mir zu lassen? Egal. Ich sollte meine Gedanken nicht mit Zweifel an meiner Entscheidung vergiften. Es war die richtige Entscheidung von all dem Chaos zu fliehen und den Stress hinter mir zu lassen. 

Ich bremste und versuchte die seltsamen Geräusche meines alten Opel Corsas zu ignorieren. Ich würde mich nur wieder aufregen und davon wollte ich doch eigentlich flüchten. Ich stieg aus dem knarrenden Fahrzeug aus und blickte nach draußen. Trotz der Dämmerung konnten meine Augen klar und deutlich alles erkennen was vor mir lag. Wasser und davon ganz schön viel. Ein seltsames Gefühl machte sich in mir breit. Es war so als ob das unbekannte Ufer, meine Ängste widerspiegelte. Langsam fragte ich mich selbst, was ich hier überhaupt machte. Mein Leben geht den Abgrund hinunter und ich stehe gedankenverloren an einem einsamen Ufer.

Da entdeckte ich sie. Eine durchsichtige Flasche mit etwas eingerolltem in ihr. Ohne zu zögern, hob ich die Flasche behutsam auf. Ich warf einen präziseren Blick hinein. Wie vermutet, befand sich in der gläsernen Flasche ein vergilbter Zettel. Es schien etwas drauf zu stehen. Ich musste grinsen und für einen kurzen Moment verlor ich mich. Passierte mir vielleicht doch auch mal etwas Gutes? Schließlich ist die Chance so etwas wertvolles zu finden gleich Null. Vielleicht war es sogar Schicksal, das ausgerechnet ich diese Botschaft fand. Auf einmal wurde meine Mimik wieder neutral. Was ist, wenn jemand diese Flasche nur weggeworfen hatte und sich lediglich Müll in ihr verborg. Schließlich würde das zu meiner Lebensphase momentan passen. Hohe Erwartungen und dann werden sie trotzdem immer wieder enttäuscht. Meine Wut auf alles, wovon ich am Wegrennen war, kam zurück. Warte was machte ich da? Ich regte mich schonwieder auf, obwohl ich mich noch vor paar Sekunden über diesen Schatz freute.

Daraufhin wanderte mein Blick auf den Kopf der Flasche. Ein alter Korken trennte mich von der mysteriösen Surrealität und meiner verbitterten Realität. Es blieb scheinbar nur eine Möglichkeit herauszufinden, was sich wirklich in dieser Flasche verborg. Ich beschloss bis drei zu zählen. Daraufhin zählte ich leise die Worte: „Eins, Zwei und “. In dem Moment zerrte ich mit aller Kraft an dem kleinen Korken und mit einem leisen Plopp-Geräusch öffnete sich mir die Möglichkeit herauszufinden, was sich in dieser Flasche verborg.

Nun hielt ich also einen vergilbten Zettel in der Hand. Ein Zettel mit einer Botschaft in ihr. Rechts, oben stand in großer Schrift „Cuxhaven, 06.11.1721“. Darauf folgten die Worte „Liebes Schicksal, ich kann nicht mehr“. Meine Hände zitterten. November 1721? Was hatte ich hier nur gefunden. Ich las mit einem unruhigen Gefühl weiter: „Ich wende mich an dich, mein Schicksal. Mir fehlt die Kraft zum Weiterkämpfen. Mir fehlen Geborgenheit und Schutz. Alles wurde mir genommen. Alles habe ich verloren. Lohnt es sich noch weiterzumachen? Ich will einfach nur flüchten, flüchten von meinen Gedanken.“ Ein Schauer breitet sich in mir aus. Diese Worte trafen mich schwer, obwohl ich doch eigentlich nichts mit dieser Botschaft zu tun hatte. Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los, wissen zu wollen, wer diese Person war und was diese Person durchgemacht hatte. Ab diesem Punkt ist die handgeschriebene Schrift nur noch schwer zu entziffern. Ich versuchte es, aber es war unmöglich. Wieso fesselte mich diese Nachricht einer unbekannten Person so sehr und wieso fühlte ich mich dieser Person so verbunden? Sie schien es sehr schwer zu haben und auch wenn das egoistisch klingt, hatte ich scheinbar das Gefühl verstanden zu werden. Verstanden von einer Person und deren Probleme, die wahrscheinlich schon mehr als 3oo Jahre lang Tod waren. Wie kann so viel Zeit dazwischen liegen, aber die Probleme und Gefühle der Menschen bleiben dieselben?

Auch wenn die Botschaft nicht an mich adressiert war, fühlte es sich richtig an, diese Botschaft gefunden zu haben. Nennt man sowas etwa Schicksal? Ich blickte erneut auf den alten Zettel und auf einmal schien es so, als ob ich einen weiteren Satz entziffern konnte: „Ich gebe nicht auf.“ .

Stand das wirklich auf der Nachricht oder täuschten mich meine Augen? Schließlich war es mittlerweile schon ziemlich dunkel geworden. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt noch etwas erkannte. Nicht aufgeben. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich selber angesprochen. Zeitgleich fragte ich mich selbst, ob der Verfasser dieser Nachricht, seine eigenen Worte zu Herzen genommen hatte. Ich hoffte es. Egal was diese Person durchmachte, ich wünschte ihr so sehr, dass sich alles zum Guten wendete.

Ich war so tief in Gedanken, dass ich nicht bemerkte, wie mir der Brief aus den Händen entglitt. Er schwebte einige Sekunden und verschwand erneuert im Wasser. Zurück blieben eine leere Flasche und meine Wenigkeit.

Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was für einen starken Einfluss der Inhalt dieser Nachricht auf mich haben würde. Mittlerweile konnte ich zumindest ausschließen, dass dieser Zettel nur „Abfall“ für mich war. Mich ließ sogar das Gefühl nicht los, dass er mir eine Antwort lieferte auf die Frage, welcher der Verfasser der Nachricht suchte. Ich musste nochmal über den letzten Satz der Nachricht nachdenken. Ich gebe nicht auf. Ich atmete laut aus, drehte mich um und begab mich auf den Weg zum Auto. In meiner einen Hand hielt ich die leere Flasche. In der anderen mein Handy mit der Navigation nach Hause. Ich könnte ja auf dem Heimweg noch bei einem Schreibwarengeschäft stoppen.

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