Von Miklos Muhi
Dem leisen Piepsen der Geräte hörte niemand zu. Sie waren mit der Alarmanlage im meistens leeren Schwesternzimmer verbunden. Zu wenig Personal und zu viel Arbeit ließ Stühle und Betten auskühlen.
Auf dem Intensivbett lag ein Mann mittleren Alters. Seinen 15 Minuten spaziergängerischen Ruhm hatte er hinter sich, genauso wie jede Chance auf Genesung.
*
Der Fahrstuhl sah etwas merkwürdig aus: Es gab keine Knöpfe, die Kabine war vollständig mit rostfreiem Stahl ausgekleidet und eine Lampe an der Decke spendete Licht. Er spürte, wie die Kabine langsam nach unten fuhr.
An der Ausstattung hatte er sich schnell sattgesehen. Bald versank er in seinen Erinnerungen. Er dachte an seinen Sohn, der einer organisierten Mörderbande im zarten Alter von neun Jahren zum Opfer gefallen war.
Der Fahrstuhl blieb stehen und die Tür ging lautlos auf.
*
»Was habt ihr mit ihm gemacht?«
Das klang nicht wie eine Frage. Er brüllte die kleine, mit weißen Kitteln bekleidete Gruppe an. Ein Krankenpfleger, den er nicht direkt sehen konnte, drückte auf den Alarmknopf für den Sicherheitsdienst.
»Wir haben alles getan, was wir konnten, und das war in diesem Fall nicht viel. Man hat Sie damals darauf hingewiesen, dass genau das passieren würde. Nun ist es passiert. Wenn jemand die Verantwortung dafür trägt, dann Sie«, antwortete der Chefarzt der Pädiatrie. Er übernahm das Reden nicht nur wegen seines Postens, sondern auch weil er zwei Meter groß war, mehr als 100 Kilo wog und als Jugendlicher einige Amateurmeisterschaften im Boxen gewonnen hatte.
»Ihr habt ihn getötet! Ihr habt ihn abgeschlachtet wie ein Schwein, nur damit ihr Recht behaltet!«, brüllte er und holte zu einem Schlag aus.
Als seine Faust auf dem halben weg Richtung Chefarzt war, traf ihn der erste Schlag auf die Nase und der zweite auf das Kinn. Er sackte zusammen.
»Was ist passiert?«, fragte der herbeigeeilte Ordner.
»Er hat mich angegriffen und ich habe mich gewehrt. Alles ist auf den Aufnahmen der Sicherheitskameras zu sehen. Bringen Sie ihn in die Notaufnahme und rufen Sie die Polizei. Sollte er zur Besinnung kommen noch bevor die Streife auftaucht, sorgen Sie dafür, dass er nicht abhaut. Ich erwarte die Beamten in meinem Büro«, antwortete der Chefarzt.
»Warum hat er Sie angegriffen?«
»Sein Sohn ist gerade an Mumps gestorben und …«
»Aber das Kind sollte doch …«
»War es aber nicht. Er hat das damals abgelehnt. Steht alles in den Akten. Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, würde ich gern zurück in mein Büro gehen«, sagte der Chefarzt.
»Natürlich. Sobald die Polizei da ist, melde ich mich bei Ihnen.«
*
Die Tür schloss sich und der Aufzug fuhr weiter nach unten. Die plötzliche Stille war erdrückend.
So eine Stille empfing ihn nach der Beerdigung seiner Frau zu Hause, kaum mehr als einem Jahr, nachdem sie ihren Sohn zu Grabe getragen hatten.
Sie litt sehr unter dem Verlust und zog sich immer mehr zurück.
Nach einer Pflichtuntersuchung an ihrem Arbeitsplatz wurde sie zum Chef beordert. Im Büro war auch der Betriebsarzt anwesend und er hatte schlechte Nachrichten: Das Blutbild deutete auf eine aggressive Form von Leukämie hin. Sie bekam eine Überweisung an die Onkologie-Abteilung der Universitätsklinik und wurde bis auf Weiteres krankgeschrieben.
Der Aufzug blieb wieder stehen und die Tür öffnete sich.
*
Er stand im Wohnzimmer mit der Überweisung in der Hand und las sie. Sobald er fertig war, zerriss er das Papier.
»Warum hast du das gemacht? Ich hätte zumindest hingehen und sie anhören können.«
»Damit die dich auch abmurksen wie unseren Sohn? Ist es das, was du willst?«
»Aber …«
»Wir unterstützen keine Gesundheitsdiktatur und vertrauen unsere Gesundheit nicht Mördern an!«
»Vielleicht sollten wir …«
»Kannst du oder willst du es nicht verstehen?«, brüllte er sie an. »Wenn du dahin gehst, brauchst du gar nicht zurückzukommen. Ich kenne eine Heilpraktikerin mit viel Erfahrung in der Neuen Germanischen Medizin. Das Judenzeug lässt du lieber bleiben«, sagte er.
*
Die Tür schloss sich und der Aufzug fuhr weiter abwärts, genauso, wie sein Leben nach dem Tod seiner Frau.
Die Heilpraktikerin empfahl ihm einen Anwalt, der sowohl die Scheinzulassung der BRD GmbH als auch eine echte des Deutschen Reiches besaß. Seine Dienste waren nicht billig, aber die Mörder seines Sohnes und seiner Frau durften nicht unbehelligt bleiben.
Nach einem Jahr wurde das Verfahren noch nicht eröffnet. Der Anwalt wusste Bescheid: Man versuchte den Prozess mit allen Mitteln zu verhindern, um geheimzuhalten was für ein Schwindel das sogenannte medizinische Wissen war. Man musste sich in Geduld und Zahlungsdisziplin üben, sonst gab es gar keine Aussicht auf einen Sieg.
Er verkaufte sein Haus, das jetzt viel zu groß für ihn geworden war und zog in eine kleine Mietwohnung.
Auch an seinem Arbeitsplatz versuchte er alle vor der Verschwörung zu warnen. Nachdem er die Delegation eines wichtigen Kunden aus Israel angegriffen hatte, wurde auch er jedoch selbst zum Opfer: Er wurde gefeuert, angezeigt und angeklagt.
Ohne Einkommen konnte er weder seinen Anwalt noch die Miete bezahlen.
Der Aufzug hielt an und die Tür öffnete sich.
*
Im Dachstuhl des leer stehenden, baufälligen Hauses war es kalt aber trocken und man konnte den Luftzug kaum spüren.
Neben Mäusen und Ratten teilte er sein Nachtlager mit zahlreichen Fledermäusen. Die meisten bereiteten sich für den Winterschlaf vor, aber einige versuchten sich noch ein Mal an der Kunst der Insektenjagd.
Der Fusel entfaltete seine Wirkung: Ein traumloser Schlaf übermannte ihn. Diese Ruhe hielt jedoch nicht lange: Bald zuckten einige Muskelfasern und dann der ganze Körper. Er setzte sich auf, ohne zur Besinnung zu kommen, und schlug mit den Armen um sich.
Er wachte selbst dann nicht auf, als er mit der Hand eine junge Fledermaus in der Luft erwischte. Das Tier erschrak und biss ihn. Auch das konnte den nach Alkohol stinkenden Schlaf nicht durchdringen. Er sackte wieder zusammen und bewegte sich bis zum Morgengrauen nicht mehr.
*
Die Tür schloss sich und der Aufzug fuhr weiter abwärts, diesmal wesentlich schneller, als würde die Kabine in die Tiefe stürzen. Die Stille löste sich in Gesprächsfetzen auf.
»… manifester Tollwut … wir mussten ihn zeitweise ans Bett fesseln … in der Phase der stillen Wut … terminales Koma … keine Angehörigen …«
Der Aufzug blieb mit einem Ruck wieder stehen. Die Tür öffnete sich diesmal nicht.
»Hallo! Lasst mich endlich raus! Ich weiß über euch Bescheid!«, brüllte er und schlug mit den Fäusten gegen die geschlossene Tür.
Einige Sekunden lang passierte nichts. Dann überfluteten starke Hitze und rötliches Licht die Kabine, gefolgt von kalter, ewiger Dunkelheit.
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