Von Karl Kieser

Heute war meine Enkelin in ihrer Mittagspause zu Besuch und hat ihr Handy bei mir vergessen. Nun bin ich nicht der Typ, der ihr das Zauberkästchen hinterherträgt, aber so habe ich die Möglichkeit, ihre neue Büroumgebung kennenzulernen. Sie arbeitet seit einigen Tagen in einem typischen Bürohaus mit mehreren Mietparteien. Die merkwürdige Geschichte, die sie erwähnte, war für mich nicht relevant. Irgendwas mit einem unzuverlässigen Aufzug.
Ich lebe auf dem Lande und komme selten in den „Genuss“, mit einem Aufzug zu fahren. Eigentlich ist mir die ungemütliche Enge sogar zuwider. Treppen sind daher ein Teil meines kostenlosen Trainingsprogramms.

Auch vorhin, als ich das „lebenswichtige“ Teil abgeliefert habe, gab sie mir den Rat, den Aufzug zu meiden.
Ich bin also auf dem Flur Richtung Aufzug bzw. Treppenhaus unterwegs. Vierte Etage, keine große Herausforderung, erst recht nicht treppab. Aber gerade öffnet sich die Aufzugtür und zwei Frauen steigen ein. Jetzt bin ich doch neugierig, werte das als Einladung des Schicksals und versuche einen kleinen Sprint. Ich merke es selbst, das gelingt mir nicht mehr so geschmeidig wie noch mit siebzig.
Ich hätte die Kabine verpasst, aber die jüngere der Frauen sieht mich heraneiern, schiebt ihre Hand vor den Sensor und die Tür gleitet wieder auf.

„Sie wollen sicher noch mit?“ Sie fragt es freundlich mit einem sympathischen Lächeln, während die Ältere der beiden etwas streng blickt. Ich habe den Eindruck, sie wäre lieber ohne Verzögerung in den Feierabend gefahren.
Ich schalte meinen Charme ein und strahle die junge Frau an: „Sie sind ein Schatz, vielen Dank.“ Dabei bemerke ich, dass mich der kurze Sprint tatsächlich etwas außer Atem gebracht hat. Verdammt, denke ich bei mir, konditionstechnisch wäre die Treppe sinnvoller.

Der Lift scheint mir auch nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, verschließt seinen Einstieg geräuschvoll und ruckelt los. Ich rechne mit etwa 15 Sekunden sterilem Schweigen, bevor er uns im Erdgeschoss wieder ausspeien wird.
Doch schon nach fünf Sekunden ist mit einem scharfen Ruck Schluss.

Niemand sagt etwas. Die beiden Frauen scheinen abzuwarten. Nur ich habe das Gefühl, etwas sagen zu müssen: „Nanu, ist das normal?“
Die Jüngere meldet sich mit beruhigendem Tonfall: „Manchmal kommt er wieder in Gang.“
„Wenn nicht, müssen wir den Service rufen.“ Das ist die Ältere.

Ich bin erstaunt, wie routiniert die beiden Mitpassagiere mit der Situation umgehen. An der Geschichte meiner Enkelin scheint doch etwas dran zu sein.
„Sagen Sie bloß, das passiert öfter.“

Die Strenge blickt nun genervt und drückt energisch auf den Notruf-Knopf. Anhaltend!
Schon nach wenigen Sekunden meldet sich eine weibliche Stimme mit einem wunderbar warmen Timbre: „Aufzugservice Klemptner, was kann ich für Sie tun?“

Im Gegensatz zu dieser Stimme klingt die der streng blickenden Dame direkt metallisch:
„Er steht schon wieder, verdammt. Wann bringen Sie das Ding endlich in Ordnung. Das ist jetzt das zweite Mal, dass ich in diesem Schrotthaufen festsitze. Wie lange dauert es diesmal?“

Die angenehme Stimme bleibt freundlich. „Ich bemühe mich sofort um einen Service. Es kann aber etwas dauern. Urlaubszeit. Im Moment sind alle im Einsatz. Sie sind in der Marienstraße 15?“

„Ja sicher, oder haben Sie noch mehr von solchen hinterhältigen Liften? Schicken Sie sofort jemanden los. Wir haben hier einen alten Herrn an Bord, der uns gleich kollabiert.“

Sie wendet sich zu mir um und flüsterte: „Entschuldigen Sie, wenn ich etwas dramatisiere, aber sonst können wir noch ewig warten.“

Ich kann nur verunsichert nicken. Meine Frage ist damit zwar schon halbwegs beantwortet, aber ich kann es einfach nicht glauben und sehe die beiden fassungslos an: „Das passiert wirklich öfter? Das kann doch nicht wahr sein! Warum lassen Sie sich das bieten?“

Bevor jemand antworten kann, meldet sich die warme Stimme: „Ich habe jemanden gefunden, der sich bei Ihnen auskennt. Eine halbe Stunde kann es aber trotzdem dauern.“

Eine halbe Stunde! Das könnte für mich zu einer Herausforderung werden. Ich gehöre nämlich zu den alten Furzern, deren Darm unkontrolliert Winde erzeugt.
Das Problem habe ich noch nicht zu Ende gedacht, da fühle ich auch schon, wie sich ein innerer Druck aufbaut.
‚Das ist psychosomatisch‘, sage ich mir ‚du brauchst Ablenkung‘.
In möglichst munterem Tonfall wende ich mich an die beiden Damen: „Eine halbe Stunde? Da werde ich mich Ihnen lieber mal vorstellen. Ich bin der Fritz.“

Die Ältere, Haare straff, mit Dutt, stellt sich als Elvira vor, die Jüngere, weich fallende braune Locken, heißt Marie.

Und dann erzählt Elvira die Geschichte von dem Aufzug, der sich allen Reparaturbemühungen widersetzt. Beide Damen haben sich nie für die technischen Einzelheiten interessiert. Es wird aber ein simples Bauteil sein, welches an seiner Sollbruchstelle gelegentlich nachgibt und damit einen Nothalt erzeugt. In seltenen Fällen kann es sein, dass im rätselhaften mechanischen Inneren des Aufzuges etwas geschieht, dass ihn nach wenigen Sekunden vorübergehend wieder zum Leben erweckt.
Ich erfahre, dass die Aufzuganlage alt ist und erneuert werden soll. Das würde aber bedeuten, dass über mehrere Tage oder Wochen gar kein Lift zur Verfügung stünde. Die Mietparteien haben sich daher mit den Besitzern des Hauses darauf geeinigt, dass der neue Lift erst im Rahmen einer größeren Sanierung eingebaut wird, die aber erst in zwei Jahren eingeplant ist. Um den Angestellten im Hause die Geschichte schmackhaft zu machen, wurde das Aufzugs-Roulette eingerichtet.
Jeder zahlt monatlich einen symbolischen, kleinen Betrag in den gemeinsamen Topf. Nach einem komplizierten Verfahren wird dieser Topf durch den Vermieter mindestens verdoppelt bis verzehnfacht und an diejenigen ausgezahlt, welche von der Sollbruchstelle ausgewählt werden.

Für Marie ist es das erst Mal. Elvira berichtet, dass ihr der vorige Zwangsaufenthalt einen schönen Bonus eingebracht hat.

Während der ganzen Geschichte, die vor allem delikate Einzelheiten von Paaren enthält, die bei ihrer Befreiung mit verdächtig derangierter Kleidung angetroffen wurden, ist bei mir der innere Druck allmählich immer größer geworden.
Marie, die meinen gequälten Gesichtsausdruck missdeutete, bemerkt lächelnd:
„Keine Sorge Fritz, wir werden bestimmt nicht über Sie herfallen. Ich bin auch bereit, meinen Bonus mit Ihnen zu teilen, damit Sie eine angenehme Erinnerung an diese Liftfahrt haben.“
Reden kann ich gerade nicht, muss Zähne und Arschbacken zusammenkneifen, um eine neue Welle hinterm Deich zu halten. Nur ein energisches Kopfschütteln bringe ich zustande, als Zeichen, dass so eine hochherzige Geste wirklich nicht nötig ist. Dabei kann ich ein leises Stöhnen nicht unterdrücken.
Elvira dagegen deutet mein gepeinigtes Aussehen realistischer. Mit einem besorgten Ausdruck fragte sie: „Ist Ihnen nicht gut, Fritz? Möchten Sie sich hinsetzten?“

Ich bin inzwischen weit davon entfernt, heimlich ein wenig Druck aus dem Kessel lassen zu können. Wenn das Sicherheitsventil bersten sollte, wird es eine unüberhörbare Explosion geben. Die Alternative, dass es mich innerlich zerreißt, scheint mir noch weniger angenehm. Ich treibe endgültig auf eine Katastrophe zu.
Es wird immer klarer, den Kampf kann ich nicht mehr gewinnen.
Inzwischen starren mich zwei besorgte Augenpaare an. Marie sagt etwas, dass bei mir nicht ankommt.
Ja, ich bin so weit, die Not ist größer als die Scham. Ich muss mich den Damen offenbaren, muss sie warnen.
In dem Moment zieht das Stinktier in meinen Eingeweiden die Krallen ein. Ich kann wieder atmen, könnte meinen Notfall erklären.
Mein Gott, ist das peinlich. Muss ich wirklich meine Scham überwinden? Doch gerade in dem Augenblick setzt sich der Lift wieder in Bewegung und löst bei mir eine wilde Hoffnung aus. ‚Nur noch ein paar Sekunden. Das schaffe ich!‘

Als sich die Aufzugtür öffnet laufe ich los und stürme durch die kleine Halle auf die Straße. Die neue Welle sitzt mir schon im Nacken. Ich habe wirklich keine Zeit zu verlieren.

Zu meinem Glück bin ich bei meinem Sturmlauf über die Straße unbeschadet geblieben. Der gegenüberliegende Parkplatz ist menschenleer; ein weiterer Glücksfall und ich darf dem Druck endlich nachgeben.
Der nicht enden wollende Rückstoß schiebt mich voran und hätte mich an meinem Auto vorbeigetrieben, wenn nicht der Türgriff mein Rettungsanker gewesen wäre.

Endlich drucklos, kann ich mich an die verblüfften Gesichter von Marie und Elvira erinnern. Was mögen die zwei über meine hastige Flucht denken?
Die amourösen Verwicklungen beim Aufzugs-Roulette hatten beide ja genüsslich ausgewalzt. Aus diesen Verwicklungen und ihren Folgen bestand ein Großteil ihrer Erzählung.
Ob sie wirklich glauben können, ich alter Knacker wäre vor möglichen sexuellen Übergriffen geflohen?
Im Anbetracht der unappetitlichen Realität möchte ich es ihnen wünschen. Das wäre wenigstens eine lustige Anekdote für den Büroklatsch.

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