Von Amelie Honsuki

 

Ich stecke fest, fest in meinem Leben, fest in meinem eigenen Sumpf und fest in diesem Fahrstuhlkorb. Ich frage mich, wie soll es die Passagiere bei einem Steckenbleiben beruhigen, wenn das Licht auf Notlicht schaltet und unentwegt so eine rote Lampe an und ausgeht, wie zu einem Alarm in einem Raumschiff.

Drei Etagen über mir, liegt mein Vater, in einem strahlend weißen Bett, umgeben von eintönigen sich wiederholenden Geräuschen, die im gleichen Takt wie dieses blöde Notlicht hier piepen, liegt im Sterben. Und ich halte einen Blumenstrauß in der Hand, der sicher nicht vor seinem Tod verwelken wird, es sei denn, ich käme hier nicht aus diesem modernen Transportgerät für Stockwerke heraus. Ich schleudere die Blumen gegen den Spiegel, der meine Fratze zeigt; und lasse mich fallen. Wimmernd, erstickt schluchzend. Denn alles was ich tat und nun in diesem Fall tun würde, wäre das Verzerren einer Maske und das Zuspitzen einer Tragödie, die ich selbst verschuldet habe. Mein Vater hat nichts über mich gesetzt, mir blind vertraut. Und wie immer ist das Gegenteil von gut gemeint nicht gut!

*

Das Leben ist auch wie ein Fahrstuhl. Man steigt zur Geburt Parterre ein und fährt dann ganz langsam von Etage zu Etage. Im Korb sind zwei Opa und eine Oma, Vater und Mutter. In meinem Fall steigt auf der nächsten Ebene Mutter aus, ist weg für immer. Bauchspeicheldrüsen-Krebs! Später verlassen uns auf der Fahrt nacheinander die Großeltern. Zwei Etagen höher betritt eine neue Frau unser Leben. Die mag ich nicht. Obwohl sie sich alle Mühe gibt und mir fast jeden Wunsch erfüllt, duftet sie nicht wie meine Mom und hat nicht ihre warmen weichen Arme, die mich so oft gehalten haben.

Es folgen Etagen, da steigen mehr Kinder ein, Schulzeit, einige wieder aus. Meist die besten Freunde und ich weine. Abschiede sind auch wie Sterben.

Während der Fahrt mache ich nun immer wieder Ärger, ich lüge sogar meinen Paps an, erfinde gruselige Sachen über die neue Frau. Vater hat dann immer dieses traurige Gesicht, ist hilflos in seiner Naivität, manchmal weint er. Seine Frau dann auch.

In einem Stockwerk steigt meine kleine Sister ein, süß, unschuldig und sieht irgendwie aus, wie mein Papa, nur in babyklein. Ich wollte sie nicht mögen, aber der Sturm in mir, der Große-Schwester-Liebessturm machte meine Vorsätze zunichte. Ich schließe sie fest ins Herz. Sie ist mir gespiegelte Zuneigung!

Manchmal lächeln wir nun alle drei meine kleine Schwester an und die Atmosphäre ist ganz gemütlich. Aber ein inneres Grollen, ein fieses Ungeheuer tief in mir, ist immer noch gegen diese Stepmom. Ich sehe, wie sie vor einem Spiegel steht, wenn niemand dabei ist und fragt, wer ist die Schönste im Land. Und ich frage mich, ob es einen Jäger geben wird, der ihr ein Herz eines unschuldigen Rehs statt dem meinem bringt.

Zwischen zwei Etagen entschließe ich mich, mich dieser bösen Frau zu entledigen. Wir können auch ohne sie glücklich werden und alles schaffen. Ich versorge ganz gut meine kleine Schwester, möchte nur mit meinen Paps und der Kleinen zusammen sein. Wenn die rabenschwarze Königin sich den beiden nähert, krampfen meine Hände zu Fäusten und mein Gesicht versteinert.

Ich schreibe mit verstellter Handschrift Liebesbriefe. Liebesbriefe an meine Stiefmutter, von einem geilen alten Sack. Ich bin ziemlich begabt. Mir fallen tolle Dinge ein, zum Teil aus den Serien, die ich so gerne schaue. Die Briefe erhalten Daten der letzten zwei Jahre und ich schreibe viele dieser Fakes. Reibe und knittre das Papier an. Schleife die Oberfläche auf dem Fußboden des Klassenzimmers, dürfen ja nicht nagelneu aussehen.

In den Briefen schwärmt also dieser falsche Ritter von den Plänen, die böse Königin für immer zu entführen und lästert über meinen Paps. Er macht Pläne und bestätigt imaginäre Hetzereien, Beschwerden und Verleumdungen der bösen Hexe aus dem Turm. So lange schreibe ich Briefe, bis ich eine Anzahl beachtlichen Ausmaßes zusammen habe und sie ein eigenes Buch ergeben könnten, ein Märchenbuch, vergiftet wie der Apfel der bösen Frau. In den letzten Briefen reift der Plan, dass meine Stiefmutter meinen Papa verlassen wird, weil er ohnehin ein Schlappschwanz und Loser sei. Das Werk ist vollendet. Und ich hatte immer auf meine zwei Handschriften geachtet, zwei Gesichter, zwei Leben.

Die Briefe packe ich zu einem Päckchen zusammen und schnüre sie in rosafarbenes Geschenkband ein. Das gebe ich in einem Stockwerk während der Fahrt ins schwarze Loch, als seine Frau auf Dienstreise ist, meinem Paps und sage: „Guck mal, was ich im Bad hinter dem Schrank gefunden habe. Ist das von dir? Leg es lieber in dein Regal, da werden sie nicht feucht!“. Und mit einem süßen Lächeln verlasse ich den Ort, an dem mein Vater nun seine Hölle mit der bösen Königin erleben wird.

Er hat sie aus der Wohnung und aus seinem Leben geworfen und ist danach zusammengebrochen. Im Krankenhaus haben sie festgestellt, dass sein Herz schon immer einen Defekt hatte und eine Aufregung oder Stress es zum Bersten gebracht habe. Er ist ganz oben auf der Liste der Spender-Empfänger eines gesunden Organs. Sein Warten in der Klinik wurde jedoch nicht belohnt. Kein Organ kam und nun liegt er im Sterben, hat eine Verzichtserklärung unterschrieben, ist des Lebens müde. Meine Stiefmutter hat Zutrittsverbot, dass er sich nicht noch mehr aufregt.

*

Und jetzt sitze ich am Boden dieses Fahrstuhlkorbes, in der Ecke liegen die zum Tode verurteilten Blumen, abgeschnitten von ihrem Wurzelstock. Das beschissene Karma lässt mich nicht zu ihm. Es blinkt wie blöde und macht mich selbst bei geschlossenen Augen wahnsinnig. Ich weine, weine, weine. Weine all mein eigenes Böses aus dem Leib, denke an meine Mutti, denke an meine Stiefmutti, an meine Schwester und meinen Vater, die Menschen, die mich behütet haben. Wenn ich es ihm nun heute beichte, stirbt er vielleicht wegen des Schmerzes über meine Lüge, wenn ich es nicht gestehe, werde ich ein Leben lang mit einem schlechten Gewissen herumlaufen, mehrere Leben zerstört zu haben, inklusive meinem. Ich darf hier gar nicht herauskommen, muss stecken bleiben in meinem Sumpf und ersticken.

Wie konnte ich nur?! Ich schreie und schluchze bis einer der Techniker von irgendwo weiter oben zu mir herunterruft, ich solle mich beruhigen, alles werde gut. Ich kann ihm nicht glauben.

Was und wie soll es gut werden? Ich habe doch in meinem Herzen alles vergiftet. Ich bin die Böse vor dem Spiegel und frage nach meinem Ego! Ich wünsche mir, dass der Fahrstuhl hinabrast zum Ausgangspunkt und ich neu einsteigen könnte, mein Leben starten, unschuldig, wie wir alle am ersten Tag des Lebens, bevor wir diese eine Kreuzung falsch abbiegen.

6645 Z / Version 2