von Adriane Richter

 

Ihr könnt mich Sam nennen. Das ist natürlich nicht mein richtiger Name, und es spricht mich auch niemand so an. Überhaupt spricht mich sowieso niemand irgendwie an, außer Hausmeister Ecker, aber auch der nennt mich nicht Sam, sondern benutzt andere, wenig schmeichelhafte Bezeichnungen. Vermaledeites Miststück, zum Beispiel. Aber dazu komme ich noch.

Mein richtiger Name ist Sautter Aufzug-Motoren, jedenfalls laut der Plakette, die rechts über meiner Tür angebracht ist. Aber der Name ist viel zu lang und zu sperrig. Sam, das klingt doch gleich viel zugänglicher. Außerdem benutzen auch andere Leute in meinem Haus Abkürzungen für ihre Namen. Kat aus dem Architekturbüro zum Beispiel. Sie heißt eigentlich Katerina Katterloher-Wisnowsky, doch bis sie das ausgesprochen hat, sind wir schon zwei Stockwerke weitergefahren. Oder Raffi – Dr. Raphael Wiedemeyer – aus dem Dritten. Oder Pflaumi. Sein richtiger Name ist Stefan Scholler. Wie er da auf Pflaumi kommt, weiß ich leider auch nicht, aber ihm gefällt es, und alle lächeln immer erfreut, wenn er sich so vorstellt.

Und mir gefällt eben Sam.

 „Gestatten, Sautter Aufzug-Motoren. Acht Stockwerke plus Tiefgarage. Fünf-Personen-Kabine, aber ich nehm das nicht so genau. Nennt mich einfach Sam. Angenehm.”

Ich stelle mir immer vor, dass meine Fahrgäste mich dann genauso erfreut anlächeln wie Pflaumi. Die beiden Herrschaften jedoch, die gerade durch meine Kabine toben und fluchend an die geschlossene Tür hämmern, sind an einer höflichen Vorstellungsrunde offensichtlich nicht interessiert. Die Namen, die sie für mich haben, würden sogar Hausmeister Ecker erröten lassen. Dessen genervte Stimme quäkt soeben wieder aus dem Lautsprecher.

„Hilfe ist unterwegs. Bitte bleiben Sie ruhig. Das passiert dauernd.”

Richtig, ich wollte ja erzählen, warum Hausmeister Ecker der einzige ist, der mit mir spricht – oder besser gesagt, mich unablässig wüst beschimpft. Absolut ungerechtfertigterweise, möchte ich betonen. Wenn der wüsste, wer da in meiner Kabine sitzt und was sich hier gerade wirklich abspielt… aber ich schweife schon wieder ab.

Es ist nicht so, dass Hausmeister Ecker mich vernachlässigen würde. Ganz im Gegenteil. Die Elektronik schnurrt, das Getriebe ist geölt, nicht ein winziger Riss ist an den Hängekabeln zu finden. Eins A gewartet. Das sagt Hausmeister Ecker jedes Mal. „Ich verstehe das nicht. Er ist doch Eins A gewartet!”

Was Hausmeister Ecker aber auch nicht versteht, ist, dass ein gut gewarteter Aufzug etwas mehr können sollte als nur rauf- und runterfahren. Ein guter Aufzug ist schließlich das Herz eines jeden Hauses. Und in meinem Fall eben auch das große, neugierige Ohr. Zugegeben, manchmal gehen meine Türen verspätet auf, wenn das Gespräch meiner Mitfahrer besonders spannend ist. Doch darüber hat sich noch nie jemand beschwert. Was die anderen Zwischenfälle angeht – da lasse ich mir nicht reinreden, da kann Hausmeister Ecker noch so sehr fluchen und zetern. Ich mache schließlich nur meinen Job.

Die meisten meiner Einsätze gehen auf das Konto der Firma Ohlsen, im sechsten Stock. Was die da genau machen, weiß ich nicht, es hat etwas mit dicken Akten zu tun und bunten Präsentationen für Gäste in glänzenden Schuhen, nach deren Besuch meine Kabine immer fürchterlich nach Aftershave stinkt. Die meisten Mitarbeiter – sie nennen sich die Ohlsen-Bande – mag ich sehr gerne. Conny und Felix zum Beispiel, beide etwas schüchtern, gehen oft im aufgeregten Geplapper ihrer Kollegen unter. Neulich saßen sie zwei Stunden lang bei mir im Aufzug fest und konnten sich endlich einmal in Ruhe unterhalten. Leider ging mein Plan fast nicht auf, da Felix Platzangst hat – konnte ich ja nicht ahnen – aber Conny tröstete ihn, eins kam zum anderen, und als Hausmeister Ecker es mit ausgiebigem Schimpfen und Fluchen geschafft hatte, meine Türen aufzuhebeln, schwebten sie auf Wolke Sieben aus meiner Kabine. Sie sind übrigens frisch verlobt, seit letzter Woche.

Oder, anderes Beispiel, anderes Stockwerk. Die kleine Paula, vier Jahre alt und noch neugieriger als ich, wollte unbedingt auf die Straße, weil da gerade ein hupender Autokorso vorbeifuhr. Ich habe sie erst wieder aus meiner Kabine gelassen, nachdem Paulas Mutter Hausmeister Ecker aus seiner Fußballkneipe geholt hat. Der war fuchsteufelswild – hauptsächlich wegen mir natürlich – und Paula will seitdem nicht mehr mit mir fahren. Aber ich bin mir sicher, dass Paulas Mutter mir insgeheim unendlich dankbar ist.

Doch zurück zur Ohlsen-Bande. Wie gesagt, die meisten dort sind sehr nett, bis auf den Chef. Ohlsen Senior. Fast jeden Abend höre ich geflüsterte Schreckensgeschichten über seine Wutausbrüche. Einmal hat er seine Faust so heftig auf den Tisch gedonnert, dass Pflaumis Laptop kaputtgegangen ist. In meiner Kabine schreit er nicht herum, meistens starrt er nur mit wütend zitterndem Atem auf die Stockwerkanzeige, weil es ihm nicht schnell genug geht.

Ich fahre dann extra langsam und lasse das Licht unheimlich flackern.

Vor kurzem haben Pflaumi und seine Kollegin Anna vergessen, eine Präsentation für die Aftershave-Besucher vorzubereiten. Kleinlaut unterhielten sie sich darüber, wie lange es dauern würde, bis der Chef es merkte und sie feuerte, und sie wünschten sich sehnlichst „nur 30 Minuten mehr Zeit!”

Nun ja. Ein wenig später schmorte der Besuchstrupp in meiner Kabine im Aftershave-Mief. Ohlsen Senior brüllte Hausmeister Ecker an, dass die Wände wackelten. Der wiederum schrie mich an, exakt eine halbe Stunde lang, bis sich endlich meine Türen aufdrücken ließen. Und am Abend, auf der Fahrt nach unten, diskutierten Pflaumi und Anna freudestrahlend darüber, in welcher Kneipe sie ihr unverhofftes Glück begießen sollten. Unter uns, ich glaube da geht auch noch was. Ich muss nur warten, bis ich sie mal wieder alleine im Aufzug erwische. Leider läuft Anna lieber Treppen, das ist gesünder, sagt sie. Aber ich bin geduldig.

Außerdem muss ich zuerst ein ganz anderes Problem lösen – nämlich die beiden tobenden Männer in meiner Kabine. Statt glänzender Schuhe und Aftershave haben sie schwarze Strumpfhosen mitgebracht, die sie sich über die Köpfe gezogen haben, was unglaublich dämlich aussieht. Zum Glück dachten sie, ein Aufzug sei der richtige Ort, um die Details ihres perfiden Plans noch einmal zu besprechen, und so konnte ich noch rechtzeitig reagieren. Einer hat sogar eine Pistole dabei, die er Ohlsen Senior unter die Nase halten wollte, damit der irgendwelche geheimen Pläne rausrückt. Dass der Chef solche Feinde hat, überrascht mich gar nicht. Aber auf Pflaumi, Anna und die anderen kann ich die beiden natürlich auf keinen Fall loslassen.

Doch erst einmal muss ich mich um Hausmeister Ecker kümmern, der mit rotem Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn sein Brecheisen gegen meine fest zusammengepressten Türen drückt. Ich lockere meine Tragseile und lasse mich mit einem Ruck ein Stück hinunterfallen. Die Wutschreie aus der Kabine gleiten ins Hysterische ab. Auch Hausmeister Eckers „Bleiben Sie ruhig!“ klingt nun panisch, doch ich sehe erleichtert, wie er mit zitternden Fingern den Notruf wählt. Sehr gut. Wenn Gefahr droht, dass die Kabel reißen, muss die Feuerwehr kommen, das weiß ich genau. So ist der Hausmeister wenigstens nicht alleine, wenn die beiden Gangster befreit werden. Momentan machen sie allerdings keinen gefährlichen Eindruck. Der eine sitzt auf dem Boden und heult. Der andere tigert wutschnaubend in meiner Kabine herum und schielt immer wieder auf seine Pistole. Ich wackle noch ein paarmal hin und her, um meinen Standpunkt klarzumachen, bis auch der Pistolenmann kreidebleich in der Ecke kauert. Dann schalte ich das Licht aus.

Jetzt wo es ruhiger ist, bemerkt endlich auch Hausmeister Ecker die lauten Stimmen aus dem Ohlsen-Stockwerk, die mich schon die ganze Zeit beunruhigen. Zusätzlich sind nun auch schnelle Schritte auf der Treppe zu hören, und Hausmeister Ecker kann gerade noch ausweichen, als ein dritter Strumpfhosenmann an ihm vorbeisprintet. Das elegant ausgestreckte Hausmeisterbein bemerkt der allerdings zu spät und schlägt wild rudernd der Länge nach auf den Boden. Hinter ihm erscheint ein keuchender Pflaumi in der Tür, gefolgt von Felix, der, gar nicht mehr schüchtern, sich kurzerhand auf den zappelnden Eindringling setzt und ihn festhält.

„Polizei!”, ruft Pflaumi, und Hausmeister Ecker wählt den Notruf ein zweites Mal.

Danach geht alles ganz flott. Die Feuerwehr trifft ein und umstellt mit Hausmeister Ecker und Pflaumi den Aufzug, aber ich warte lieber ab, bis auch die Polizei da ist, bevor ich wieder nach oben fahre. Meine beiden Insassen überlegen kurz, ob sie aus der dunklen Kabine heraus einen verzweifelten Überraschungsangriff starten sollen, aber als ich das Licht wieder einschalte, hat sich dieser Plan auch erledigt. Die drei zähneknirschenden Gangster werden abgeführt, Conny springt ihrem Felix in die Arme und Pflaumi verlangt nach einer Runde Bier auf den Schreck.

„Der Chef hat sich in sein Büro eingeschlossen, der wird uns heute keine Party verbieten”, sagt er zu Hausmeister Ecker. „Komm einfach nach, Ecki. Ohne dich und deinen Aufzug wäre das heute nicht so glimpflich abgelaufen.”

Ecki!

Hausmeister Ecker hat auch einen Kurznamen! Ecki! Das wusste ich gar nicht!

Er bleibt stehen, als sich die anderen verabschieden, und sieht mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Er schimpft und flucht nicht. Er sieht mich nur an. Und als seine Faust gegen meine inzwischen wieder geschlossenen Türen schlägt, klingt das – fast liebevoll. Vor Überraschung ruckle ich hin und her und Hausmeister Ecker – Ecki – springt hastig zurück. „Alter Schrottkasten”, murmelt er, aber er klingt dabei gar nicht böse, und ich nehme es ihm nicht krumm.

Wir sind nämlich schon ein richtig gutes Team, er und ich.

Sam und Ecki.

Ein Eins A-Team!

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