Von Raina Bodyk
„Halt, warten Sie! Ich muss noch mit.“
„Sie sehen doch, dass der Aufzug besetzt ist. Ich fahre allein.“
„Das können Sie sonst auch gerne tun, aber ich habe es heute sehr eilig“, klärte ich den Mann im Fahrstuhl sehr bestimmt auf und quetschte mich in letzter Sekunde durch die sich gerade schließende Tür. Mein Blick wandert bewundernd durch den eleganten, wie aus der Zeit gefallenen Lift. Er ist ein wahres Schmuckstück. Mit dunklem Holz getäfelt, ein Glasfenster mit Blick auf herrliche Blumenrabatten im hoteleigenen Park, eine gepolsterte, mit rotem Samt bezogene Bank.
„Habe ich nicht gerade deutlich erklärt, ich möchte allein …“
„Verdammt, verstehen Sie doch! Ich habe oben in der Personalabteilung ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Ich bin spät dran. Ich brauche die Stelle“, muss ich den älteren Herr im grauen Geschäftsanzug enttäuschen. Ich streiche noch einmal glättend über den Rock meines dezenten, dunkelblauen Kostüms, das ich mir extra gekauft habe, um einen gediegenen Eindruck zu machen. Das soll mir dieser Widerling jetzt nicht zerstören.
Während unseres Disputes hat sich der Aufzug rüttelnd in Bewegung gesetzt und vollendete Tatsachen geschaffen. Plötzlich ein heftiger Ruck. Ich werde gegen die gegenüber liegende Wand geschleudert, kann mich gerade noch fangen, bevor ich falle. Der Aufzug bleibt stehen, aber die Tür öffnet sich nicht. Der Graue hat sich festhalten können.
Mir wird ganz mulmig im Magen. Vergeblich versuche ich, die Tür zu öffnen. Der einzige Erfolg ist ein abgebrochener Fingernagel. Auch das noch! Panik kriecht in mir hoch und schüttelt mich. Die Angst macht mich wütend.
„Jetzt tun Sie doch endlich was! Wir stecken fest. Hiiilfe! Hiiilfe!“
„Mit Geschrei geht es auch nicht schneller. Beruhigen Sie sich, ich habe längst den Notfallknopf gedrückt.“
Wie kann der Mann in dieser Lage so unverschämt gelassen bleiben? Jetzt kramt er auch noch in seinen Taschen rum, sucht anscheinend was. Fast triumphierend zückt er schließlich einen schmalen Notizblock und beginnt zu kritzeln. Zwischendurch schaut er nachdenklich an die holzverkleidete Decke. Dem ist die Lage völlig egal! Ich fasse es nicht.
Verzweifelt trommle ich abwechselnd mit den Fäusten gegen die Tür und blitze mein Gegenüber fuchsteufelswild, hilfesuchend und panisch zugleich an.
„In spätestens einer halben Stunde wird ein Techniker hier sein und die Panne reparieren.“
„Eine halbe Stunde?! Das halte ich nicht aus. Ich habe Platzangst. Holen Sie uns hier raus! BITTE!““ Ich merke selbst, wie meine Stimme immer hysterischer wird. Mein Atem geht stoßweise. „Ich … kriege … keine Luft … mehr“, und sinke kraftlos zu Boden.
Der Mann, der bisher seelenruhig weiter Notizen aufs Papier geschmiert hat, schaut mich merklich verärgert an. „Seien Sie doch endlich still. Sie sehen doch, ich bin beschäftigt.“
Doch mir geht es immer schlechter. „Hiiiilfe! Hiiiilfe! Holt uns raus! Ich kann nicht mehr.“
„Ihnen passiert schon nichts!“ Achselzuckend und ungeduldig stöhnend stellt mein ‚Mitgefangener‘ im edlen Zwirn fest, dass es wohl zwecklos ist, die Lage mit Worten verbessern zu wollen. Missgelaunt drückt er den Knopf für die Weiterfahrt.
„Sie, Sie … Sie haben absichtlich … Wollten Sie mich …!“ Nein, das Wort bringe ich nicht über die Lippen, mag es nicht mal denken. Mein Magen rebelliert weiter und die Übelkeit steigt immer höher.
„Das wird Sie teuer zu stehen kommen. Das ist Körperverletzung.“ Mit letzter Kraft ziehe ich mich an der Seitenstange hoch. Jetzt fange ich auch noch an zu heulen! Ausgerechnet vor dem Kerl! Ob aus Empörung oder Erleichterung, keine Ahnung.
„Es tut mir leid. Ich wusste ja nicht, dass es für Sie so …“ , stottert der Alte hinter mir her.
Im Foyer stürze ich – ziemlich derangiert – zur Rezeption und beschwere mich lautstark über den Mistkerl.
Die Rezeptionistin versucht, mich zu beschwichtigen. „Es tut mir sehr leid. Entschuldigen Sie bitte, dass ich einen Moment nicht aufgepasst habe.“
„Ich hatte Todesangst! Aber wieso haben Sie nicht aufgepasst? Sie waren doch gar nicht dabei.“
„Nein, natürlich nicht. Sie müssen wissen, Herr Zingel kommt regelmäßig mehrmals die Woche her und fährt allein im Aufzug ein Stück hinauf und hält diesen dann zwischen zwei Stockwerken an. Nach etwa einer halben Stunde steigt er unten wieder aus.“
„Was macht er denn um Himmels willen da drin?!“
„Keine Ahnung. Ich bin neu hier. Die Hotelleitung hat uns Order gegeben, ihn gewähren zu lassen. Wir haben dafür zu sorgen, dass niemand mit ihm einsteigt und erleben muss, was Ihnen heute widerfahren ist. Da wir zwei Aufzüge haben, ist das in der Regel auch kein Problem. Er scheint ein harmloser Sonderling zu sein, dem man einiges nachsehen muss. Leider bin ich heute abgelenkt gewesen. Ein Gast brauchte dringend einen Arzt.“
„Na, harmlos würde ich das ja nicht nennen! Mein Bewerbungsgespräch kann ich dann ja wohl auch vergessen.“
„Ach, Sie wollten sich auf die ausgeschriebene Stelle bewerben? Bleiben Sie ganz entspannt, ich werde das mit der Personalabteilung regeln und Ihnen einen neuen Termin besorgen. Inzwischen schlage ich vor, Sie gehen in die Bar und bestellen sich zur Beruhigung etwas zu trinken, natürlich auf unsere Kosten.“
Das Angebot nehme ich dankend an und bestelle mir gegen meine Gewohnheit einen Weinbrand in der Hoffnung, dass das Gespräch nicht mehr heute stattfinden wird. Normalerweise trinke ich ja keinen Alkohol, aber jetzt braucht mein Nervenkostüm dringend etwas Stärkeres als einen Saft oder ein Wasser.
Unerwartet kommt in dem Augenblick dieser Herr Zingel herein und besitzt die Frechheit, sich auf den Barhocker neben mir zu schwingen.
„Sie haben mir gerade noch gefehlt. Setzen Sie sich woanders hin! Oder wollen Sie mich ganz um den Verstand bringen?“
„Nein, ich möchte nur um Vergebung bitten, das hätte ich nicht tun dürfen. Da ich sonst den Fahrstuhl immer für mich allein habe, bin ich leider außer Fassung geraten und habe etwas konfus reagiert. Ich fühlte mich, ja …, irgendwie bedrängt.“
„Bedrängt? Ich wollte doch nur mitfahren. Was kritzelten Sie überhaupt die ganze Zeit auf Ihrem Block herum?“
„Mir ist diese kurze Zeit allein im Fahrstuhl wirklich sehr wertvoll. Wissen Sie, ich war hier mal Liftboy. Ich war so stolz auf meine rote Pagenuniform mit den goldenen Litzen und Knöpfen. Die runde Kopfbedeckung habe ich immer ein bisschen schräger aufgesetzt als erlaubt. Sie glauben nicht, was das für einen Eindruck auf die Mädels machte! Und das Trinkgeld! Jeder in meiner Klasse hätte alles für diese Stelle im berühmten Grand Hotel getan.“
„Ich glaube, ich verstehe. Sie fühlen sich immer noch mit diesem Hotel und ‚Ihrem‘ Aufzug verbunden. Aber trotzdem hätten Sie mir das nicht antun dürfen. Ich dachte wirklich, dass die Luft knapp wird und ich sterben muss. Und Sie standen nur da mit dem kleinen Heft, haben vor sich hin gemurmelt und Notizen gemacht.“
„Dafür entschuldige ich mich ja auch. Ich war nicht ganz ich selbst. In dieser Kabine schweifen meine Gedanken tief in die Vergangenheit zurück. Ihre Gegenwart wirkte da wie ein Eimer kaltes Wasser auf mich. Ich wollte meine Erinnerungen festhalten, aber Sie rissen mich immer wieder heraus.
Sie glauben gar nicht, was Sie als Liftboy alles zu sehen und zu hören bekommen. Einmal hat sogar eine Frau darin ein Baby zur Welt gebracht!“
„Nein! Erzählen Sie.“
„Der Fahrstuhl ist wie ein Kaleidoskop alles Menschlichen. Da wird gestritten, geliebt, geflirtet, Probleme gewälzt. Ich fuhr Hochzeitspaare ebenso wie Trauernde, die einen Verstorbenen beweinten. Sogar Morde habe ich erlebt. Brutale Leute wechseln sich ab mit Heiligen, Scheinheiligen, ewig Geschäftigen, Casanovas.
Sie würden staunen, welch berühmte Leute aus Politik, Gesellschaft und Film ich schon befördert habe.“
„Das klingt alles sehr spannend. Vielleicht sollten Sie ein Buch darüber schreiben.“
„Das mache ich tatsächlich! Im Fahrstuhl bin ich den Ereignissen von früher ganz nah. Hier überfällt mich das Erlebte geradezu und ich muss es sofort aufschreiben. Hier habe ich jedes Gefühl von himmelhoch jauchzend bis zur tiefsten Verzweiflung, die jemanden in den obersten Stock führt, kennengelernt. Nahm die unstillbare Gier, die sofort befriedigt sein wollte, ebenso wahr wie die Panik des Eingeschlossenseins. – Nur bei Ihnen habe ich unverzeihlicherweise völlig versagt. – Ich war nur der Page, anwesend, aber unsichtbar. Ich fühle mich hier, lachen Sie nicht über den Vergleich, wie eine Gebärende im Kreißsaal. Etwas rührt sich in meinem Kopf, in meiner Erinnerung und will unbedingt heraus. Das notiere ich ganz schnell, bevor es mir wieder entgleitet.“
„Neulich habe ich ein Buch über einen Mord im Paternoster gelesen. Das spielte auch in einem eleganten Hotel. In England, glaube ich. Sie haben das aber nicht geschrieben, oder?“
„Doch, meine Liebe. Ich gestehe! Ich schreibe unter dem Pseudonym Ingo Bucking. Aber verraten Sie mich bitte nicht. Sonst bin ich hier nie mehr allein in meiner Kabine!“
„Nein! Ihr Name, versprochen, bleibt ein Geheimnis zwischen uns beiden! Ich fasse es nicht, ich bin ein großer Fan Ihrer Romane! Ich habe sie alle gelesen. Sie verstehen es fantastisch, Charaktere so wirklichkeitsnah und psychologisch ausgefeilt darzustellen. Jetzt weiß ich, woher Sie so viel über die Menschen wissen. Ich hatte mir vorgestellt, der Autor dieser Bücher müsse Psychologie studiert oder selbst ein traumatisches Leben gehabt haben. Aber nein, er war Liftboy!“
„Enttäuscht?“
„Nein, natürlich nicht! Erlauben Sie mir noch eine einzige Frage, wenn ich nie mehr in Ihren Aufzug steige? Wie kommt es, dass das Hotel Ihnen diesen Freiraum gibt, obwohl dadurch zahlende Gäste beeinträchtigt werden?“
„Ich bin jenes Baby, das im Fahrstuhl zur Welt kam. Das Hotelpersonal hat die ganze Aufregung miterlebt und war sehr erleichtert, als alles gutgegangen ist. Selbst nach so vielen Jahren ist es stolz auf sein Kind und sieht ihm ein paar Eigenheiten gerne nach.“
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