von Marianne Apfelstedt

 

„Schau mal!“ Frieda hüpft auf einem Bein die Stufen zur Eingangstüre hoch. Auf jeder neuen Treppenstufe balanciert sie kurz mit der Hand an der Wand. Verena folgt ihrer Tochter durch die knarzende Eichentüre in das Ärztehaus.
„Ich will alleine mit dem Aufzug fahren.“
„Soll ich nicht lieber mitkommen?“
„Nein, ich will sehen, ob ich schneller bin.“ Die Türen schließen sich und Verena läuft eilig die ausgetretene Holztreppe hinauf, der Zahnarzt ist im dritten Stock. Strahlend steigt Frieda aus dem Lift. Erleichterung macht sich bei Verena breit, enge Räume rauben ihr den Atem. Nach dem Arztbesuch fährt Frieda alleine mit dem Aufzug hinunter. Verena biegt im Erdgeschoß um die Ecke, in Erwartung, ihre Tochter schon wartend vorzufinden.
„Frieda, wo bist du?“ Ihre Stimme hallt in der Weite des Eingangsbereiches. Suchend schaut sie sich um. Die Anzeige am Fahrstuhl blinkt kurz unterhalb des 3. Stockwerkes. Sie rüttelt an der Aufzugtüre, die sich kein bisschen bewegt. Ihr Herz schlägt schnell und hart in der Brust. Ängstlich ruft sie: „Frieda, hörst du mich? Der Aufzug steckt fest.“ Sie legt ein Ohr an die Tür, doch der dicke Stahl scheint ihre Worte zu schlucken.
„Ich laufe rauf zur Praxis und hole Hilfe, bin gleich wieder da.“ Noch nie sind ihr diese alten Mauern so kalt vorgekommen. Die Beklemmung fließt wie Kleister ihren Rücken hinab, gehetzt rennt sie nach oben.

„Mami, ich habe Angst. Warum fährt der Aufzug nicht?“ Frieda kaut auf der Unterlippe. Sie schluckt den Teigkloß in ihrem Hals, bemüht sich, tapfer zu sein, kämpft gegen die Tränen, die sich Tropfen für Tropfen einen Weg aus den Augenwinkeln bahnen.
„Weine nicht, du bist nicht alleine.“ Argwöhnisch sieht Frieda sich in ihrem Gefängnis um. Da ist der Spiegel am Bedienpult und die metallglänzenden Wände. Außer ihrem ängstlichen Gesicht kann sie niemanden sehen. Ein kalter Hauch streift ihre Wangen, wischt eine Träne fort. Frieda weicht zurück zur Wand.
„Du kannst mich nicht sehen, weil ich ein Geist bin, der in diesem Haus geboren wurde. Mir gefällt deine blaue Haarschleife. Auch meine Schwestern hatten blaue Schleifen im Haar.“ Die Stimme spricht freundlich und sanft, wie Papa beim Vorlesen der Gutenachtgeschichte. Friedas Tränen versiegen.
„Das ist unfair. Ich kann dich nicht sehen.“
„Es gibt da eine Möglichkeit, aber du als Mädchen traust dich das niemals.“
„Quatsch! Ich will dich sehen.“
„Dann sprich mir nach. Durch Jahrzehnte vom Schleier getrennt, lade ich dich ein, mein Gefährte zu sein, ligatus. Das letzte Wort musst du dreimal wiederholen.“ Trotzig reckt Frieda das Kinn vor und wiederholt den Spruch. Ein zweites Mal stolpert das fremde Wort über ihre Zunge. Der Aufzug ruckelt, das Licht erlischt und Frieda landet auf dem Boden, wo sie etwas in die Hand piekst.
„Los sag es!“, verlangt Kai und sie zitiert das Wort ein letztes Mal. Die Lampe flackert und taucht den Innenraum in grelles Licht. Der Aufzug fährt mit einem Ruck weiter und sie sieht den Jungen in einem blauen Pulli und mit schwarzen Haaren, der sie angrinst.

„Frieda, geht es dir gut? An deiner Hand ist Blut.“ Schon spürt sie Mamas Arme, die sie an sich drücken. Verena umarmt Frieda nochmal fest und gibt ihr einen Kuss auf den Haarschopf.
„Ich bin hingefallen, als der Aufzug weiter gefahren ist.“ Auf dem Heimweg erzählt Frieda vom Jungen mit den schwarzen Haaren. Verena wuschelt ihr durch die dunklen Locken.
„Dann hat dein neuer Freund ja die gleiche Haarfarbe wie du. Sicher hast du nur dein Abbild im Wandspiegel gesehen.“

 

Nach dem Abendbrot erzählt Frieda ihrem Papa vom heutigen Abenteuer.
„Ich hatte keine Angst, weil ich nicht alleine im Aufzug war. Ein Geisterjunge war bei mir. Kai ist acht Jahre alt, nur ein bisschen älter als ich. Er wurde vor dem Ärztehaus überfahren.“
„Komm mal her, mein Spatz.“ Frieda kuschelt sich auf Papas Schoß. Er erzählt ihr, dass Kinder manchmal einen unsichtbaren Freund haben, den die Erwachsenen nicht sehen können. Vor allem Kinder mit viel Fantasie, so wie Frieda.
„Im Kindergarten hattest du auch lange Zeit einen Geisterfreund.“
„Das war kein Geist. Das war mein Zwillingsbruder, der ist immer bei mir. Auch wenn ihr sagt, dass er Tod ist.“ Papa drückt sie an sich und gibt ihr ein Kuss.

 

Sie geht in ihr Zimmer, wo Kai auf ihrem Schreibtischstuhl sitzt und sich im Kreis dreht. Zweimal nach rechts und zweimal nach links.
„Toller Karussell-Stuhl“
„Warum glauben sie mir nicht?“ Frieda sitzt im Schneidersitz auf ihrem Bett, eine große Kegelrobbe als Kuscheltier auf dem Schoß.
„Sie sehen mich nicht. Nur du siehst mich. Es ist unser Geheimnis.“ Frieda zeigt Kai das Spiel Tic-Tac-Toe.
„Mach dich bitte fertig. Ich komme in zehn Minuten, dann lese ich dir eine Gutenachtgeschichte vor“, ruft Verena zur Zimmertüre herein.

 

Am nächsten Tag nach wartet Kai schon vor der Schule auf Frieda. Als sie die Treppen herunterkommt, winkt er mit beiden Händen, um sie auf sich aufmerksam zu machen.
„Ich habe schon auf dich gewartet. Wie ist die Schule so?“ Kai reicht Frieda die Hand und hält ihre zur Begrüßung einen Moment fest. Seine Finger fühlen sich so kalt an wie das Eis aus dem Gefrierfach. Frieda steckt ihre Rechte zum Aufwärmen in die Hosentasche.
„Unsere Lehrerin ist nett, nur meine Banknachbarin Lea ist gemein zu mir. Ich habe meine Stifte vergessen. Sie wollte mir ihre nicht ausleihen, jetzt muss ich zu Hause das Arbeitsblatt ausmalen.“ Selbstverständlich begleitet er Frieda nach Hause. Kai erzählt, dass er von einem Hauslehrer unterrichtet wurde und nie eine Schule von innen gesehen hat. Also beschließen sie, dass Kai morgen mit in den Unterricht kommt.

„Erinnerst du dich an den Unfall?“
„Ein Auto erfasste mich. Dann kann ich mich nur noch an die Beerdigung erinnern, nur Mama und Papa waren am Grab, meine Schwestern nicht.“
Am Nachmittag geht Frieda mit Kai in die Bücherei. Als hinter ihnen zwei Bücher polternd zu Boden fallen, kommt Frieda ein Verdacht. Eilig verlässt sie die Bibliothek.
„Kai, warum schmeißt du Bücher aus den Regalen?“
„Weil ich es kann. Ich tue immer, was ich will.“

In der Turnhalle teilen sich die Schüler für ein Fußballspiel auf. Lea verfolgt Frieda mit wütendem Blick, weil sie von Tim in sein Team gewählt wird. Beim Spiel lässt Lea keine Gelegenheit aus, Frieda zu schubsen, sie stellt sie ihr sogar ein Bein. Kai hüpft vor Freude auf und ab, als Friedas Mannschaft gewinnt. Nach dem Spiel setzen sich alle auf die Bank, um etwas zu trinken. Mit einem Schrei springt Lea von der Sitzbank auf. Ein nasser Fleck färbt das Hinterteil in den Leggings dunkel.
„He, Lea hat Pippi gemacht“, frotzelt Klaus. Frieda wird rot, nur sie kann Kai sehen. Er steht direkt hinter Leas Bank und rollt grinsend eine Wasserflasche zur Seite.

 

 

Am nächsten Tag begleitet sie Kai in den Park.
„Du kannst doch nicht einfach der Frau ein Bein stellen. Sie hat sich wehgetan.“
„Ihr Köter hat mich angebellt, ich kann Hunde nicht leiden. Am liebsten hätte ich ihm den Hals umgedreht.“
„Spinnst du, ich will nicht mehr deine Freundin sein. Verschwinde.“ Frieda läuft weiter. Zu Hause schmeißt sie die Türe zu. Zornig stapft Kai zum Gartentor.
„Das wirst du büßen. Mir einfach die Türe vor der Nase zuzuschlagen. Wenn du nicht tust, was ich sage, wirst du es bereuen.“ Seine Augen sprühen Funken, das hübsche Jungengesicht hat sich in eine Fratze verwandelt. Frieda steht am Fenster immer noch wütend, da bleibt er stehen und sieht über die Schulter zurück zum Haus. Sie sucht Schutz hinter dem dicken Vorhang, fühlt sich getroffen vom giftigen Blick. Mechanisch kratzt sie an der Nagelhaut des Daumens, den Körper wie ein Brett an die Wand gepresst.

 

Ab jetzt heftet sich Kai an Friedas Fersen, wann immer sie das Haus verlässt.
„Hau ab!“, ruft sie. Sie will die Stimme nicht hören, die sich in ihre Ohren bohrt, tief bis in den Bauch. Ein Mann mit Stock und Hut ist empört, als Frieda rücksichtslos an ihm vorbeirennt, diese jungen Menschen haben keinen Anstand mehr. Frieda schüttelt immer wieder den Kopf, hält sich die Ohren zu. Doch seine Stimme lässt sich nicht aussperren. Spinnt sie ein mit eisigen Fäden.
„Hau ab!“ Achtlos putzt sie die Nase am Ärmel ab, die fliest wie ihre Tränen. Die Augen fixieren den Asphalt aus Furcht vor seinem Blick.

 

„Du entkommst mir nicht, da kannst du laufen, solange du willst.“ Etwas packt ihre Jacke, Arme halten sie fest.
„Vorsicht! Die Ampel ist rot!“ Verwirrt schaut sich Frieda um, erkennt die Kreuzung an der Bundesstraße. Die junge Frau im grauen Mantel lässt Frieda los.
„Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Ja.“ Frieda dreht sich von der Fremden weg.

 

„Du hast versprochen, mit mir auf den Spielplatz zu gehen.“ Kai steht vor ihr, versperrt ihr den Weg.
„Das war, bevor du so gemein gewesen bist.“ Frieda dreht sich um, läuft den Weg zurück. Mit jedem ihrer Schritte hofft sie, Kai loszuwerden. Wieder begrenzt eine rote Ampel ihren Weg. In der Tiefe der Jackentaschen bohren sich ihre Fingernägel in die Handteller. Tränen verschleiern ihren Blick. Etwas Kaltes trifft sie am Rücken. Vom Schwung mitgerissen, machen ihre Beine einen großen Schritt vorwärts. Sie wird geblendet vom grellen Licht und mit Wucht auf den Asphalt geschleudert.

 

„Du hast es so gewollt.“ Kai hält ihre Hand ganz fest. Er zieht sie mit sich.
„Da liegt ein Mädchen mit schwarzen Locken. Wieso steht sie nicht auf? Wo sind ihre Eltern?“ Niemand antwortet ihr.

„Jetzt zeige ich dir dein neues Zuhause.“ Kais Stimme holt sie in die Gegenwart zurück. Sie stehen direkt vor der Tür zum Ärztehaus. Es ist dunkel. Kai hält immer noch ihre Hand. Sie treten durch die dicke Holztüre. In der Eingangshalle führt er sie in den Fahrstuhl und drück den Knopf für den Keller. Unten angekommen läuft Kai auf eine Metalltüre zu, die in einen großen Lagerraum führt. Am Ende des Raumes schwebt er mit ihr durch die Wand in eine kleine Kammer.
„Komm, ich stelle dir den Rest unserer Familie vor.“
Hier steht ein Holztisch mit Stühlen darum herum. Darauf sitzen drei fremde Mädchen. Alle haben dunkle Locken und blaue Haarschleifen.

 

 

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