Von Maria Lehner

 

 

Stromstörung, erzählt von mir

Warum bin ich so? Warum kann weder der Hautarzt noch einer der Therapeuten helfen? Warum, warum…  sitzen wir jetzt auch noch im Lift fest?

 

Wir sind zu fünft. Ich bin im sechsten Stockwerk, bei der Arztpraxis, zugestiegen. Die vier, drei Erwachsene und ein Kind, kommen wohl aus dem Dachgeschoß, dort gibt es einen Empfang.

 

 

Der ältere Herr drückt den Notfall-Knopf; wir bekommen sofort Sprechverbindung und erfahren, dass es „nicht länger als dreißig Minuten“ dauern wird. Zuerst war da nur das Knacken, dann die Stille, jetzt flackert eine Notbeleuchtung. Zumindest ist der Lift groß genug, sogar gepolsterte Sitzbänkchen gibt es; auf einem rollt das Kind sich gleich ein und ist blitzartig eingeschlafen. Mein Herz hämmert. Ich mit vier Fremden hier!

Die attraktive Frau schaut freundlich in die Runde und schlägt vor: „Lasst uns die Zeit zum Geschichten-Erzählen nutzen“. Ich bin verblüfft. Andere würden hysterisch sein, kurzatmig werden oder wer-weiß-was. Diese Dame, ungefähr in meinem Alter, zieht einen Lippenstift aus der Tasche und sagt zu mir: „Drehen Sie ihn. Er zeigt auf den ersten. Wenn der Anfang gemacht ist, erzählt sich die Geschichte von allein“.

 

Fein, der Stift zeigt nicht auf mich, sondern auf den außergewöhnlich gut aussehenden Mann. Er stellt die Anwesenden vor: „Herr Friedrich“ (der noble Herr, der sich artig verneigt), „meine Frau Drágana und unsere Tochter, die Schlafmütze Drágica. Und ich bin Drágo.“ Ich bin Linda“, sage ich und ziehe in einer über Jahrzehnte eingeübten Bewegung meinen Poncho zurecht, nicht dass jemand noch bemerkt, dass…

 

Was ich in den nächsten fünfundzwanzig Minuten höre, ist bizarr, berauschend, schön, traurig, herzerwärmend, macht Hoffnung: Warum sollte es das alles NICHT geben? Warum glaube immer nur ich, dass es nirgendwo solche wie mich gibt?

 

 

Einsamkeit, erzählt von Drágo

Na gut, dann fange ich an. Wir kommen von einem Empfang, bei dem unsere feinste Confiserieware gereicht wurde. Aber ich muss einige Jahre zurückblenden:

Ich, Drágo, war ein Heimkind. Man hat mich meiner Mama weggenommen, weil wir keinen festen Wohnsitz hatten. Dabei hatte ich es schön mit ihr. Es gab keine Winternacht, in der ich frieren musste. Sie wärmte mich mit ihrem Mantel, der sich wie Flügel anfühlte. Sie sang Lieder – eines davon kann ich noch; und meine ersten Geruchserinnerungen: ihre Haut roch nach Schokolade.

 

„Das hat Spuren im Gehirn hinterlassen“, sagte der Anstaltsarzt, dem ich im Kinderheim vorgeführt worden war. Gerüche, erklärte er, würden mit Gefühlen zusammen ganz tief in mir abgespeichert sein. Und dass mein „süchtiger Charakter“ sich „durch den Mutterverlust“ entwickelt habe.

 

Das waren freudlose einsame Jahre gewesen. „Die letzte Chance“, sagte die Frau vom Arbeitsamt und ich stellte mich in der kleinen Schokoladenmanufaktur vor, in der ich für ein paar Wochen Hilfsarbeiten erledigen sollte, bevor sie geschlossen wurde.

 

 

Der Wandel, erzählt von Friedrich

Jetzt ergreift dieser sympathische seriöse Mann, er muss um die Siebzig sein, das Wort. Dabei legt er Drágo die Hand auf die Schulter. Die beiden wirken einander sehr nahe.

 

Die ersten Tage hatte er sich den Bauch mit Schokolade vollgeschlagen. Er sah sich alles genau an, probierte an den kaputten Heizschlangen herum. Schließlich fragte er mich, ob er versuchen solle, etwas zu reparieren. Aber es war ohnehin klar, dass ich nach dem Banktermin den Konkurs anmelden würde. „Ach, lassen Sie“, ich winkte ab und ging schlafen. Alles, was danach passiert ist, weiß ich, weil er es mir am Morgen erzählt hat.

 

Als ich erwachte, duftete es nach warmer Schokoladenmasse. Er hatte experimentiert und seine „besonderen Fähigkeiten“ eingesetzt (ich war damals sicher, er würde mir eines Tages erzählen, was er damit meinte). Vorsichtig hatte er die einzelnen Kessel exakt aufgeheizt und gekühlt. So ersetzte er mir Flambierbrenner, Heizschlange, Schokodispenser und Temperiergeräte. Perfekt gelangen ihm die komplizierten Fertigungsverfahren. Drágo konnte die Zuckerkonzentration exakt ermitteln. Wir stellten Sirup vom Granatapfel und von Bitterorange her, unser erstes Geschäftsmodell, eine Überbrückung. Die Bank gewährte einen Kredit. Dragós Hände wurden immer geschickter, so als ob alte Erstarrung abgefallen wäre und darunter elastische Haut hervorkäme.

 

Sehnsucht, erzählt von Drágo

Der junge Mann erzählt jetzt. Man müsste all das eigentlich aufschreiben:

 

Alles wäre nun perfekt gewesen. In einer Novembernacht, als ich im Laden herumwerkelte, kam Friedrich die Treppe herunter. Hatte ich ihn geweckt? „Du, ich hörte dich ein wehmütiges Lied singen“. Ach, habe ich gesungen? Es war das uralte Lied von Mama: „Mit meiner Liebe Atem wärm ich dich. In meinen starken Armen liegst du weich…“

 

Friedrich sah mich an und verstand. Während ich die Werkstätte aufräumte, holte er den Laptop. Er machte ein Video von mir. Auch das Lied („Mit meiner Liebe Atem wärm ich dich“, ein kitschiger Text, aber die Melodie ein Ohrwurm) ließ er mich singen. Er legte für mich auf mehreren Singlebörsen einen Account an. Mit dem Kurzvideo und drei ungeschönten Fotos. Sollten sie ruhig wissen, wie ich aussehe. Die Wahrheit kommt sowieso raus. 

 

Happy End, erzählt von Friedrich

Es ist deutlich zu spüren, dass die Geschichte auf einen Höhepunkt zusteuert. Wird den Damen das Lied gefallen haben? Insgeheim hoffe ich, dass die Stromstörung im Lift noch anhält. Das Kind rudert im Schlaf mit den kleinen Armen, als würde es vom Fliegen träumen.

 

Noch während Drágo räumte, wischte, polierte und alles für den nächsten Tag vorbereitete, ploppte und piepste es unaufhörlich. Wir setzten uns und scrollten.

Es war banal. „Ich bin´s, die Schokoherzen schmelzen lässt“ oder „Leckermäulchen – nasch an mir“. Aber – da, plötzlich: „Drágana & Drágo. Wir haben viel mehr gemeinsam.“ Sparsam im Text. Nur ein Foto. Das sprach dafür Bände. Ich tippte eine Antwort an Drágana. Das wollte Drágo nicht selbst machen. Er erzählte mir später, dass er Drágana gefragt habe, was genau es gewesen sei und sie gemeint habe „Das Lied und dein Aussehen“. Unsere kleine Manufaktur hatte sie im Übrigen sofort begeistert. Ich wusste: Nun habe ich den Nachwuchs, den ich mir immer gewünscht hatte. Den beiden kündigte ich an, dass ich mich langsam aus dem Geschäft zurückziehen wolle. „Bleib noch ein paar Monate“ bat Drágana. Warum errötete sie dabei? Warum lächelte Drágo so geheimnisvoll?

 

Wir vier an einem Sommerabend, erzählt von Drágana

Nun endlich kommt auch die Frau an die Reihe. Liebevoll sieht sie sich nach dem Kind um:

 

Jetzt schläft sie, aber: Wie lebendig unsere Drágica ist, wie glücklich! Wie gut es uns allen geht. Das Geschäft floriert, Drágo ist Teilhaber. Wir wohnen in Friedrichs Haus und wir vier sind eine Familie. An Sommerabenden, wie zum Beispiel gestern, grillen wir im Garten. Draußen gehen Leute vorbei und sagen: „Seht euch diese Idylle an!“ Und ich habe ein neues Geschäftsmodell – es würde mich freuen, wenn Sie mich weiterempfehlen!

 

Sie hält mir eine Visitenkarte hin: Schlammbad, Haut- und Nagelpflege. Das ist zwar am anderen Ende der Stadt, aber ich werde sicher hingehen.

 

Klopfgeräusche sind zu hören. Geht es Ihnen gut? ruft jemand von draußen. Im Nu sind wir befreit. Eigentlich schade, sagt Drágo, jetzt haben wir so viel geschwatzt und gar nichts von Ihnen gehört!

 

Befreit, ein Schlusswort von mir

Was hätte ich erzählen sollen? Mir war auch nicht bewusst, dass es viele wie mich gibt. Bisher habe ich noch niemanden getroffen, obwohl mein Hautarzt so etwas angedeutet hatte: Sie sollten eine Gruppentherapie probieren; vielleicht lernen Sie unter Ihresgleichen, Ihr Schicksal anzunehmen. Unter meinesgleichen?

 

In dem Moment finde ich das erste Mal meinesgleichen wunderschön: Elegant und gleichmäßig sind unsere Schuppen, grüner Grundton in Regenbogenfarben;  glänzend, gesund und kräftig wirken die spitz zulaufenden Nägel – und wie verführerisch wir mit unseren Drachenschwanz posieren können, unsere wohlgeformten Zähne und die prächtige Zunge beim Lachen zeigen…

 

Ich trete hinaus in die Nacht und fühle, dass gerade etwas ganz Aufregendes, Neues beginnt.

 

 

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