Von Brigitte Noelle
Müde. Ach, wie bin ich müde. Meine Arme und Beine – so schwer. So, als ob die Last eines tiefen, schwarzen Ozeans der Mühsal auf mir lastet. Und es ist dunkel.
Wo bin ich eigentlich? Ja, ich erinnere mich: Ich habe mich von Lina verabschiedet und bin in den Aufzug gestiegen, habe den Knopf für das Stockwerk gedrückt, wo die Anwaltskanzlei liegt, und dann ist es finster geworden und ich muss irgendwie gefallen sein. Der Aufzug wird wohl stecken geblieben sein. Nur keine Panik, bestimmt kommt bald Hilfe und man holt mich hier heraus.
Lina, die Gute, meine große Schwester, die auch jetzt wieder für mich da war! „Bring es hinter dich“, sagte sie. „Danach bist du den Kerl los und wir werden eine schöne Reise unternehmen, nur wir beide.“ Ach, Lina, das alles ist leichter gesagt als getan. Es ist so, als ob sie neben mir säße, als ob ich ihre Stimme höre. Bestimmt hat sie gemerkt, dass ich hier festsitze und sucht die Techniker.
Horst wird mit seinen Unterlagen jetzt wohl eine Weile beim Anwalt warten müssen, dieses Miststück, dieses miese Schwein. Was war ich doch für ein dummes Schaf, ein dummes, gutgläubiges Schaf! Wochenlang kam er erst spätabends nach Hause, Überstunden wegen des neuen Großkundens, sagte er, und dass ihm, wenn aus dem Geschäft etwas wird, eine Beförderung winkt. Und ich bin wach geblieben und habe ihm frisches Essen gekocht, ihn getröstet und ihm Mut zugespochen.
Und dann letzten Freitag rückte er mit der Wahrheit heraus: Es war nicht der Großkunde, der ihn bis nach Mitternacht beschäftigt hatte, sondern dessen Sekretärin! Und da sie bald zu ihm ziehen möchte, möge ich doch bitte baldigstmöglich verschwinden, die Scheidungspapiere hätte er schon vorbereitet. Ich müsse nur noch unterschreiben.
Ich glaube, ich höre ihn gerade schreien. Nun ja, es geht eben nicht alles so, wie er es sich vorstellt!
Himmel, wie ist es hier dunkel! Einzig ein schwaches, diffuses Licht, mehr zu ahnen als zu sehen. Wie lange bin ich denn schon hier? Warum kommt denn niemand?
Die Panik kriecht an mir hoch und würgt mich mit ihren kalten, feuchten Klauen. „Hilfe!“ möchte ich rufen, doch ich bin wie gelähmt…
***
Guten Tag, ich bin die behandelnde Ärztin. Sie sind…? Die Schwester, gut. Wir konnten die Patientin stabilisieren, es besteht nun keine unmittelbare Lebensgefahr. Wann sie wieder zu sich kommt? Das können wir nicht sagen, vielleicht ist sie ja schon bei Bewusstsein.
Allerdings zeigt die Untersuchung durch die Computertomographie, dass durch den Schlaganfall der Hirnstamm stark beschädigt wurde, das heißt, sie kann weder sprechen noch sich bewegen, mit anderen Worten, weitestgehend gelähmt. Wir werden sie eine Weile hier behalten und beobachten. Wenn es möglich ist, werden wir versuchen, sie teilweise zu mobilisieren, vielleicht kann sich dadurch ihr Zustand ein wenig bessern, aber ich möchte Ihnen keine großen Hoffnungen machen.
Viel können Sie für sie nicht tun. Setzen Sie sich zu ihr, nehmen Sie ihre Hand, reden Sie mit ihr.
Hatte sie in der letzten Zeit vielleicht besonderen Stress? … Ach so, ihr Mann hat die Scheidung eingereicht, das ist natürlich eine sehr schlimme Belastung. Sie waren wohl lange verheiratet? … Fast 30 Jahre, das erklärt ja alles.
Guten Tag! Sie sind…? Der Gatte, ach so. Hat Ihre Schwägerin schon mit Ihnen gesprochen? Dann wissen Sie ja, wie die Lage ist. … Wie lange das dauert? Das können wir nicht sagen, manche Patienten bekommen ein paar Tage nach der Einlieferung einen weiteren, tödlichen Schlaganfall, manche können noch jahrelang weiterleben. … Hat sie irgendwelche Verfügungen hinterlassen? Nein? Dann können und dürfen wir nichts tun, was fällt Ihnen ein? … Jetzt schreien Sie doch nicht so, Sie sind in einem Krankenhaus! Und bedenken Sie, dass die Patientin Sie wahrscheinlich hören kann. … Sie bleibt nun eine Weile bei uns und wird auf die Normalstation verlegt. Wenn wir sehen, dass keine Änderung ihres Zustands zu erwarten ist, werden wir sie entlassen können. Sie sollten beizeiten einen Termin mit unserer Sozialarbeiterin vereinbaren, sie wird Ihnen beim Ausfüllen des Antrags für das Pflegegeld helfen und sie dabei beraten, was vor der Entlassung zu tun ist. … Natürlich zu ihrer Familie, also zu Ihnen als ihr Ehemann. … Das kommt nicht in Frage? Es gibt auch eine Reihe guter Pflegeheime, die auf derartig schwere Fälle spezialisiert sind. In unserem Büro liegt eine Liste auf. Die Kosten dafür liegen zwar über denen der Hauskrankenpflege, aber dafür ist jederzeit medizinisches Personal vor Ort … Nein, das Pflegegeld alleine wird dafür nicht ausreichen, in diesem Fall muss der nächste Angehörige, also Sie, dafür aufkommen. …
Entschuldigen Sie mich, die Patientin öffnet gerade die Augen, sie wird mich brauchen!
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