von Thomas Diller

 

Wie jeden Tag betritt Lukas früh um 8:00 Uhr die Lobby. Wie jeden Tag stellt er sich vor die drei Aufzüge, begutachtet die Anzeigen und wählt dann den linken. Wie jeden Tag steigt er ein und drückt auf die Fünf. Die Türen schließen sich, der Aufzug setzt sich in Bewegung. Wie jeden Tag starrt Lukas auf die rot leuchtende Anzeige, die langsam aufwärts zählt. Und wie jeden Tag verlässt Lukas den Aufzug in der Fünften. Er geht den Korridor entlang, betritt Büro Nummer 5.13 und setzt sich an seinen Schreibtisch. Wie jeden Tag langweilt sich Lukas den ganzen Tag. Er nimmt Anrufe entgegen, deren Inhalt er schon kennt. Es sind immer dieselben Anrufe. Kunden, die sich über dies, das oder jenes beschweren. Höflich, aber doch monoton beantwortet er alle Fragen, wie er sie schon tausendmal zuvor beantwortet hat. Wird einer aggressiv, legt Lukas auf und drückt einmal auf die Taste des mechanischen Zählers, der neben dem Telefon steht. Wofür der mal gut war, weiß Lukas nicht. Er stand schon da, als Lukas vor 17 Jahren in das Büro einzog. 1492 lautet der aktuelle Zählerstand. Christoph Kolumbus denkt er und versinkt in Gedanken. Hört das Rauschen des Wassers, die Matrosen, wie sie johlen und krakeelen. „Land in Sicht“, brüllt einer.

Das Telefon klingelt, Lukas hebt ab und hilft dem nächsten Kunden. Zwischendurch lenkt er sich mit einem einfachen Computerspiel ab, während er zuhört. Mit wenigen Mausklicks steuert er die Lemminge durch die Landschaft, lässt sie Brücken über Hindernisse bauen und sieht zu, wie sie in Reih und Glied hintereinander herlaufen, bis sie im Ziel eintreffen. Wie willenlose Sklaven denkt er. Zur Mittagszeit schlendert er in die Kantine, bestellt Grünkernküchle mit Kartoffelbrei. Das mag er gerne. Anschließend begibt er sich zurück an seinen Arbeitsplatz und langweilt sich weiter. Pünktlich um 17:00 Uhr verlässt er sein Büro und geht zum Fahrstuhl. Wiederum begutachtet er zunächst die Anzeige und wählt dann die linke Kabine. Und wie jeden Tag steigt er in den Fahrstuhl ein und starrt auf die Anzeige, die von fünf runterzählt. Fast wie in Trance sieht er den Zahlen zu, ohne zu bemerken, dass seine rechte Hand die Zwei und die Drei gedrückt hält, bis 2,5 vor seinem Auge auftaucht. Abrupt bleibt die Kabine stehen.

Ein Runzeln breitet sich auf seiner Stirn aus, während Lukas den Kopf erst leicht nach links und dann nach rechts legt. 2,5? Was soll das sein? Ein halbes Stockwerk? Für Liliputaner? Gar die Helfer des Weihnachtsmannes?

Tatsächlich, die Tür öffnet sich und Lukas sieht einen beleuchteten Gang, halb so hoch wie normal. Auch die Türen auf dem Gang sind nur etwa halb so hoch wie üblich. Mit einer nervösen Geste rückt Lukas seine Brille etwas zurecht und geht gebückt hinein. Die Fahrstuhltüren schließen sich. An der ersten Tür steht die Zahl 17. Eine Tür weiter steht Casting. Neugierig klopft Lukas an und als keine Antwort kommt, öffnet er sie. Hitze strahlt ihm entgegen, sofort hebt er eine Hand schützend vor die Augen. Nach einigen Momenten erkennt er Sand. Ganz viel Sand. Irritiert geht er hinein, richtet sich auf und stellt fest: „Ich bin in einer Wüste.“ Er dreht sich um, will die kleine Türklinke auf halber Höhe greifen, doch da ist nichts. Nur Sand, Hitze und Sonnenschein. „Mist, ausgerechnet heute habe ich meine Flipflops nicht dabei.“

Eine Hand an der Stirn geht Lukas in Richtung einer Düne, kämpft sich nach oben und erstaunt.

Ein Raumhafen erstreckt sich vor ihm so weit das Auge reicht. Mos Eisley denkt er. Wie geil. Ob der Falcon hier steht? Schnellentschlossen macht sich Lukas auf und streift durch den Raumhafen. Außerirdische Figuren sind in Gespräche vertieft oder werkeln emsig vor sich hin. Wie skurril denkt er. Fast wie in Star Wars. Und gerade, als er sich fragt, was er hier soll, spricht ihn eine der Figuren an.

„Lukas, gut dass du da bist. Kanns losgehen?“

„Kann was?“

„Losgehen?“

„Was gehen?“

„Was ist mit dir, hast du die lila Pille nicht genommen?“

„Lila was?“

„Oh mein Gott. George, Lukas hat seine Pille nicht genommen!“, plärrt der Fremde.

„Oh nein, oh nein, oh nein, ich komme, ich komme, ich komme.“ Ein kleines Wesen, vielleicht 65 cm groß, eilt heran und kramt in seiner Tasche. Es hat grüne Haut, gelbe Augen, spitze Ohren und erinnert irgendwie an ein Reptil. „Lukas, Mund auf!“, befiehlt es in ruppigem Ton.

„Wieso auf, was denn? Was ist das?“

„Deine Pille, hier.“ Das Wesen reicht Lukas eine lila Pille und er schluckt sie. Warum auch nicht? Ist ja nicht wie jeden Tag. Es dauert etwa zehn Sekunden, da schläft Lukas ein und fällt wie ein Stein.

„Was für ein Trottel“, sagt das reptilienähnlich aussehende Wesen und zwinkert dem anderen zu.

„Ja, wieder einer mehr für die Sklavensammlung. Die Idee, das Spiel mit unterschwelligen Befehlen zu versehen und unter die Menschen zu bringen, war genial.“ Beide lachen lauthals und das andere Wesen ergänzt: „Sagte ich dir doch damals, diese Sprungtore zwischen den Welten sind was Feines. Egal wo wir sie verstecken, wir müssen nur warten.“

„Und die Spieler von Lemmings werden selbst zu Lemmingen, hahaha.“

 

 

Version 2

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