Von Ingo Pietsch

Jack erwischte die Fahrstuhltür gerade noch mit dem Fuß.
Er war so auf sein Smartphone fixiert, dass er zunächst gar nicht bemerkte, dass er nicht allein war.
Nach einem Druck auf die Taste „Erdgeschoss“ ging die Fahrt los.
Jack wohnte in einem Apartment in der 14.Etage eines New Yorker Altbaus, der vor ein paar Jahren saniert worden war.
Der Aufzug war sehr geräumig und wirkte durch seine vielen Spiegel sogar noch größer.
Jetzt entdeckte er auch sein Gegenüber: Die junge Frau aus der Wohnung 10.
Sie lehnte an der gegenüberliegenden Fahrstuhlwand und tippte ebenfalls auf ihrem Handy herum, schaute kurz auf, nickte ihm zu und schrieb weiter.
M. Christmas stand auf ihrem Briefkasten, erinnerte sich Jack.
Sie wohnte schon ein halbes Jahr auf der selben Etage wie Jack.
Sie hatten sich mal flüchtig auf dem Flur getroffen und er ihr gelegentlich die Tür aufgehalten, wenn sie Einkäufe nach Hause brachte. Aber sonst kannten sie sich nicht näher.
Er betrachte sie genauer und versuchte so zu tun, als blicke er auch auf sein Handy. Sie mochte Mitte Ende Zwanzig sein, war durchschnittlich groß und hatte schwarze Haare, die so geschnitten waren, dass sie im Gesicht länger waren, als am Hinterkopf. Die Haare reichten ihr bis zum Kinn, sodass sie sie immer wieder von den vollen Lippen streichen musste, da sie diese anscheinend kitzelten.
M. biss sich auf die Unterlippe, als sie eine Nachricht las.
Dann drehte sie schnell ihren Kopf in Jacks Richtung und ertappte ihn dabei, wie er sie musterte.
„Ist was?“, fragte sie mit rauer Stimme und räusperte sich. Sie hatte leuchtend blaue Augen, mit einer Narbe in der linken Braue, Stupsnase und einen Überbiss.
In Jacks Augen war sie eine Zehn. Eine Zehn aus der Zehn.
„Äh, ich bin Jack aus der Wohnung 2. Wie wohnen im selben Flur.“ Er hob grüßend eine Hand.
„Ich weiß“, sagte sie gedehnt. „Hallo Jack aus der Wohnung 2. Ich bin Mary.“ Sie schrieb wieder weiter.
Jack kicherte.
Sie blickte ihn Stirn runzelnd an. „Was ist so lustig?“
„Dein Name. Mary Christmas. Ist das dein echter Name? Oder ein Synonym?“
„Das ist mein echter Name“, meinte sie ernst. „Und du glaubst gar nicht, wie viele Mary Christmas es alleine in New York gibt.“
„Ach, so viele.“ Jack kratzte sich am Kinn.
„Und wie ist dein Name: Jack Nicholson, Jack Ryan, Jack Jacker?“
„Jack Pott.“
Mary lachte laut auf und zeigte ein strahlendes Lächeln. „Und ich dachte, meine Eltern hätten mich mit meinem Namen betraft.“
Jack lachte ebenfalls.
Jetzt nahm Mary auch Jack genauer unter die Lupe: Er war groß gewachsen, durchtrainiert, was man unter seinem eine Nummer zu großen Hemd, nicht unbedingt erkannte. Er hatte blonde Locken und seine Nase war möglicherweise schon mehrfach gebrochen gewesen. Und er schielte furchtbar mit dem rechten Auge. Insgesamt wirkte er auf Mary sehr attraktiv, auch wenn das Schielen etwas ablenkte.
Ihre Augen wanderten hin und her, als sie sein Gesicht betrachtete.
Er schaute nach oben. „Habe ich da was?“
„Sorry, ich weiß nur nicht, wie ich dich ansehen soll“, sagte sie direkt.
„Nimm das Heile Auge.“ Er zeigte auf das Schielende. „Geht vielen so. War ein Reitunfall.“
„Aha.“ Mary lächelte für sich und schaute aufs Display.
Sie fand ihn irgendwie süß.
Der Fahrstuhl war nicht der schnellste und war gerade an der 2. Etage vorbei, als er abrupt stehen blieb.
Es wackelte kurz und die beiden stützten sich an den Wänden ab, damit sie nicht hinfielen.
Jack drückte auf der Aufzugstastatur den Notfallknopf, doch niemand antwortete.
„Jetzt sitzen wir erst einmal fest. Und das kurz vorm Erdgeschoss“, meinte Jack nach einer Weile, um die Stimmung zu heben.
„Och, nö. Ich habe einen wichtigen Termin. Jetzt ist auch noch der Empfang weg.“
„Das ist ja merkwürdig, bei mir auch.“
„Was machst du denn beruflich, wenn ich fragen darf?“, wollte Jack wissen.
„Ich arbeite als freier Headhunter für eine große Softwarefirma“, erklärte sie, während sie noch mal den Notruf betätigte. „Und was machst du so?“
Mary war wieder in ihre Ecke gegangen.
„Ich bin in einem Entsorgungsunternehmen als Außendienstmitarbeiter tätig. Komme viel rum.“
Mary hob die Braue mit der Narbe: „Entsorgungsunternehmen?“
„Ja, ist nicht einfach.“
Beide schwiegen eine Weile, dann durchbrach Jack die Stille: „Hast du mal Lust, einen Kaffee trinken zu gehen?“
Mary zog ihren beigen, knöchellangen Cardigen zur Seite. Darunter trug sie eine Jeggins, die ziemlich eng saß und unter dem eigentlich lockeren Shirt zeichnete sich ein Babybauch ab.
„Können wir gerne machen. Wenn es dich nicht stört. War nichts Ernstes.“
Jack überlegte. „Na klar“, antwortete er unsicher.
Plötzlich rumpelte es auf dem Dach der Fahrstuhlkabine und lenkte von der etwas peinlichen Situation ab.
Dann erklangen Schritte über ihnen.
Eine, durch die Decke gedämpfte, Stimme rief: „Wir kommen jetzt rein. Waffen auf den Boden, Hände hoch und an die Wand gehen!“
Die Wartungsklappe in der Kabinendecke wurde aufgerissen und eine Granate hineingeworfen, die sofort zu rauchen begann.
Schneller, als Jack es der Schwangeren zugetraut hätte, hechtete Mary zu der Granate und warf sie zurück durch die Luke.
Fluchend und keuchend versuchten die Angreifer Herr der Lage zu werden.
Mary, in der Hocke und Jack stehend an die Wand gedrückt riefen sie sich gleichzeitig zu: „Die sind wegen mir hier!“
Und dann wieder synchron: „Was?!?“
„Ihr wollt es nicht anders!“, schrie einer der Typen und lud ein Gewehr durch.
Ein Schuss ertönte, riss ein Loch in die Decke und zersplitterte das Spiegelglas neben Jack.
Jack blickte empört neben sich und hielt wie durch Zauberhand plötzlich eine Halbautomatik in der Hand.
Auch Mary zog eine Waffe hinter ihrem Rücken hervor und schoss drei Mal hintereinander in das Loch in der Decke.
„Au, mein Fuß!“, kam es von oben und dann polterte es.
Wieder ein Schuss und diesmal wurde Mary zu Boden geworfen, da es ihre Brust erwischt hatte,
Jack zögerte keinen Moment, zog Mary in eine andere Ecke und zerschoss dabei die Oberlichter mit gezielten Schüssen.
Jetzt war es stockfinster in der Kabine.
Es gab eine Feuerpause. Die Angreifer berieten sich anscheinend.
Mary hustete.
„Alles OK? Du hast ja eine volle Ladung abbekommen.“
„Es tut höllisch weh, ich glaube, ich werde sterben“, entgegnete Mary theatralisch.
„Irgendwie klingt das nicht sehr überzeugend. Du scheinst mehr einstecken zu können, als du vorgibst. Ist mit dem Baby alles in Ordnung?“
„Weiß ich noch nicht. Die haben mich mit einem Gummigeschoss erwischt. Die wollen uns nicht töten. Aber dafür habe ich einen ziemlichen Druck auf der Brust.“, flüsterte sie.
„Wir kommen jetzt runter und verhaften euch!“
„Gut, wir warten!“, rief Jack nach oben. Und dann zu Mary gewandt: „Ich weiß weswegen die mich wollen, aber dich?“
„Wahrscheinlich aus dem gleich Grund, Mister Entsorger.“
„Headhunter ist also wörtlich zu nehmen?“
„Touche.“
Es drang ein Schimmern von der Notbeleuchtung durch die offene Luke und Jack konnte einen der Typen erkennen, der sich langsam herunterließ.
Er hatte kaum den Boden berührt, als Jack ihm die Füße wegtrat und mit seiner Waffe KO schlug.
„Und hast du sie überwältigt?“, fragte der andere.
„Nö“, antwortete Jack und zog den zweiten ebenfalls in die Kabine, wo er ihn mit mehreren Schlägen kampfunfähig machte.
„Kannst du aufstehen?“
„Ja, es geht.“
Jack half Mary auf und sie kletterten gemeinsam durch die Luke. Der Aufzug hing zwischen zwei Etagen fest. Oben hatten die Typen die Aufzugstür blockiert, damit sie nicht zuging.
Über eine Leiter gelangten die beiden nach oben, durch die Tür und legten sich erschöpft nebeneinander in den Flur.
„Was ist mit deinem Baby?“, wollte Jack wissen.
Mary griff hinter ihren Rücken und löste den Klettverschluss für ihre Babybauchatrappe und zog dann ihre kugelsichere Weste aus: „In meinem Beruf unverzichtbar. Außerdem hält man sich so aufdringliche Kerle fern. Was ist mit deinem Auge? Du schielst nicht mehr.“
„Kontaktlinse, dann wird man leichter unterschätzt. Darf ich dich …“ weiter kam Jack nicht, da Mary ihn schon geküsst hatte.
„Wir kriegen euch noch!“ kam es schimpfend aus dem Schacht.
„Könntet ihr mal aufhören zu stören. Ich lerne gerade eine Frau kennen!“ Jack zog eine Blendgranate aus seiner Tasche, die er einem der Typen abgenommen hatte, entsicherte sie und ließ sie fallen.
Es gab einen Lichtblitz.
Ein furchtbares Fluchen hallte durch den Fahrstuhlschacht.
„Wir sehen uns! Kommst du Mary? Ist das wirklich dein richtiger Name? Ach, für mich bist du einfach die Zehn aus der Zehn. Wir sollten verschwinden!“
„Ich kann dir zwar nicht ganz folgen, aber das ist wirklich mein richtiger Name. Und du heißt allen ernstes Jack Pott?“
„Lange Geschichte.“ Er nahm Mary bei der Hand und zerrte sie zum Treppenhaus.

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