Von Lauretta Hickman 

 

Ich werde wach. Blick auf die Uhr. 4:10. Inzwischen passiert es von selbst.
Die Zirbeldrüse ist jetzt am aktivsten, also beste Reisezeit.

Ich vermeide zu starke Gedankenaktivität und lege mir Brown Noise über den Mp3-Miniplayer aufs Ohr. Handystrahlung stört zu sehr. Inzwischen ist es erprobt: Hemi-Sync-Sounds, wie sie am Monroe-Institut verwendet werden, sind suboptimal für mich. Schlichter Brown Noise ist besser. Ok, rauscht. Augen wieder zu. Körper entspannen. Fokus gleichzeitig dezentral und aufs dritte Auge gerichtet.

Die vertraute Vibration setzt ein. Dann das elektrische blaue Ringlicht – kosmischen Scanner nenne ich es inzwischen. Sich elektrisch anfühlende Impulse fahren von oben nach unten durch meinen Körper. Und raus bin ich.
Das war zu schnell – ich hänge mit der Nase direkt an der Decke.

Drehe mich um – da liege ich. Wie immer scheint mein Körper zu lächeln und zu „denken“: endlich ist sie raus, ein paar Minuten Ruhe! Ich kanns verstehen. Unter Tags neige ich dazu, mich heiß zu denken.

Ich sinke nach unten, durch den Boden, durch Tobis Zimmerdecke. Da sehe ihn schon. Zusammengerollt in Embryostellung. Jähe intensive sexuelle Energie flutet mich. Ah, mal wieder. Das hatte ich lange nicht mehr. Das war in den Anfangsaustritten oft der Fall. Ich widerstehe der Versuchung, mich an ihn zu schmiegen.

„Wehe, du wagst es, dich astral, ätherisch, telepathisch oder sowas neben mich zu legen! Ich mags echt und real. Ich will was zum Anfassen! Dich.“

Ich habs versprochen. Und mich daran gehalten. Bis auf dieses eine Mal, als… nein, da geh ich jetzt nicht hin.
Verspüre kurze, intensive Dankbarkeit, dass wir es so gelöst haben. So schlafen wir beide ungestörter. Vor allem, dass er mich damit annimmt. Und wir immer noch zusammen sind. Wer weiß, wo ich ohne ihn wäre.

Ich nutze die sexuelle Energie als Schubkraft. Schon bin ich in der Nachtluft. Sternenklar.

Ich schwebe über unserer Kleinstadt mit ihrem spärlichen Glitzerlicht. Also in Dimension 1. Auch wenn hier alles irgendwie verzerrt aussieht. Wie wenn man Google-Street-View zu schnell bewegt. Ich sehe ja nicht mit den physischen Augen. Muss das immer noch justieren.
Stelle den Fokus ein: Reiterweg 25, Stuttgart.

Die Probe aufs Exempel.

Während ich beschleunigt durch die Nacht segle, wird es links von mir kurz hell. Da sitzt wieder die Gestalt. Das Licht kommt von hinten, ich sehe sie wie im Scherenschnitt. Aber lebendig, schillernd, sich bewegend. Samurai-Haarknoten, wilde freie Haare darum herum. Auch das Gewand wie von einem Samurai. Die Gestalt hat kein Geschlecht. Oder beide. Und sie ist mir so… urvertraut. Sitzt in der Luft, als würde sie dort seit Äonen meditieren. Gleichzeitig ist die Vibration um sie hellwach. Als würden ihre Zellen in Wellen atmen.

Nur nicht ablenken lassen. Ein unbewusster Minigedanke und ich lande irgendwo. Person-Zielpunkt. Nur das. Ich schwebe weiter und bin über einer Stadt. Stuttgart nehme ich an.

Ich werde hineingesogen in ein Viertel mit kleinen Häusern. Hübsch, alle mit Garten. Im letzten sinke ich durchs Dach. Ist das ihr Haus?

Im Speicher sieht es etwas chaotisch aus. Ein alter Puppenwagen aus dem frühen letzten Jahrhundert. Darin, ich erschrecke kurz, eine Porzellanpuppe ohne Augen, die mich aber trotzdem „ansieht“.
Staub. Seekisten. Ein Spiegelschrank.
Ich sinke darunter.

Mischung, soweit ich das im Dunklen erkennen kann, aus Antiquitäten und Ikea. Geschmackvoll. Gelungen.

Etwas peinlich ist es mir, ihr Schlafzimmer zu betreten. Ist für unser sonstiges Verhältnis ja doch recht – intim.
Sie schläft auf der linken Seite. Beigegrünkarierte Bettwäsche. Nachttisch quillt über von Taschentüchern. Oh je – ist sie erkältet?

Neben ihr liegt… ihr Mann? Partner? Nein, zu klein. Ihr Sohn! Das könnte sein. Auf die andere Seite gedreht. Mit Schal um den Hals.

Ich suche nach dem Hinweis. Hier sehe ich keinen.
Ich will in den nächsten Raum gleiten, da fixiert mich vom Sessel aus eine plüschige Siamkatze. Und faucht mich an, mit Buckel und Flaschenbürstenschwanz. Ich bedeute ihr, leise zu sein, dass ich in friedlicher Absicht da bin. Mal wieder ein Beweis, dass Katzen tatsächlich mehr von unserer Dimension sehen.

In der Küche werde ich fündig. Auf einer buntgefleckten Marmorplatte in der Mitte des Raumes, die wohl als großzügige Arbeitsfläche dient, steht eine flackernde Glaskerze. Daneben ein weißes DIN A 4-Blatt. Darauf steht, handschriftlich mit schwarzem Textmarker: ICH LIEBE BLAUE BLUMEN.

Mein Hinweis, nehme ich an.
Die Kerze – wie liebenswert von ihr.

Plötzlich werde ich müde. Der Sex-Turboantrieb ist aufgebraucht.
Ich will zurück. Aber fühle mich träge. Batterie leer.
Etwas hebt mich unter den Schultern nach oben, durchs Dach, hinein in die Nachtluft. Ich erhalte einen Schubser.
Mit dem Gedanken „nach Hause“ reise ich wie durch einen Tunnel. Als würde sich der Nachthimmel mit den Sternen wie ein Torus um mich legen. Und mich hindurchsaugen.
Und peng – ich bin im Körper. Mache die Augen auf. Sehe im Halbdunkel meine Zimmerdecke.

Blick auf die Uhr: 4:43. Gut. Ich mache das Licht an, nehme mein Journal und schreibe stichpunktartig auf, was ich gesehen und erlebt habe. Was ich noch vom Interieur weiß, das Bett, Taschentücher, Sohn? Katze. Küche. Der Hinweis.

Gegen Viertel nach fünf drehe ich mich um. Noch ein bisschen schlafen.

Um 10:00 werde ich wach. Es ist sehr hell, die Sonne scheint. Vögel zwitschern. Ich fühle mich ausgeruht. Und unglaublich wohl.
Es riecht fantastisch. Nach Kaffee und… Waffeln? Pfannkuchen?

Ich putze mir schnell die Zähne, schlüpfe in den Bademantel und gehe nach unten.
Küchentüre zum Garten ist offen. Im Ofen sehe ich wirklich geschichtete Pancakes. Ich liebe diesen  Mann.

Ich schaue in den Garten und sehe ihn den Apfelbaum beschneiden.
Er sieht mich an, lächelt und sagt: „Hey! Auch schon wach? Ich hab mal um 9 bei dir reingeschaut, da lagst du noch im Koma.“ Und lacht.
Er steigt von der Leiter, kommt auf mich zu. Wir umarmen uns. Das ist Zuhause.
Arm in Arm quetschen wir uns durch die Küchentüre.

Er fragt: „Na? Hats geklappt?“

„Jaa! Also – ich glaube. Wirklich verifizieren kann ich das erst in der nächsten Sitzung.“

„Erzähl ruhig. Ich mach uns derweil unser Fr… unseren Brunch.“ Er grinst frech.

„Haben wir eigentlich derzeit blaue Blumen im Garten?“

„Noch nicht. Leberblümchen und Lein wären die nächsten, in der Bienenbank hinten. Warum?“

 

Am Montag fahre ich nach Stuttgart.

Dieses Mal halte ich endlich an dem Blumen- und Deko-Geschäft, das mich seit fünfzehn Fahrten anlacht. Jetzt habe ich ja einen guten Grund.
Veilchen? Oder was bringe ich ihr mit?
Mein Blick fällt sofort auf einen ovalen Handschmeichler aus Glas oder Harz. Darin eine blaue Blütenmischung aus Hortensien, Vergiss-mein-nicht und Orchidee. Wunderschön. Der wird es.

Als ich vor ihrer Praxistüre stehe, kommt mir, dass das eine unserer letzten Sitzungen ist. Kurzzeittherapie, 20 Sitzungen. Bezahlt vom Chef. Weil ich mich der falschen Person gegenüber verplappert hatte. Falsch. Es war die richtige Person, Rita ist immer noch meine Freundin. Mit ihr habe ich auch mal „getestet“. Nur hat sie der falschen Person gegenüber eine Bemerkung gemacht. Da ich in der Redaktion als fast Einzige unge„impft“ geblieben war, bekam ich ziemlichen Druck. Nicht vom Chef – für ihn bin ich in unserem Lokalblatt inzwischen unersetzlich. Aus der Truppe. Es hieß dann, ich sei jetzt ja wohl auch noch bissle übergeschnappt. Und so hat er, kluger Mann, mir diese Frau besorgt.

„Fürs Protokoll, fürs Team. Nimms als Incentive von mir. Glaub, die tut dir gut.“

Tore ist ein toller Chef.

Sie ist Ausbilderin am Adler-Institut. Gastdozentin an der Uni Mainz. Nüchtern, humorvoll, ressourcenorientiert, und vor allem wissenschaftlich denkend, hat sie mich ermutigt.

„Untersuchen Sie es. Forschen Sie. Führen sie Tagebuch. Sammeln Sie Daten.“
Vor zwei Wochen haben wir dann den Test ausgemacht.

Meine Bitte war, dass wir das einige Tage hintereinander versuchen. Wegen der vielen möglichen Interferenzen. Die den „Beweis“ ja immer so schwierig machen.

Jetzt hab ich Herzklopfen. Ich freu mich auf die Sitzung. Nervös bin ich auch. Ich läute.

 

„Na?“

„Es hat geklappt! Stell dir vor. Ich hab genau ihr Haus gefunden. Alle ungewöhnlichen Sachen darin hat sie bestätigt. Und ihren Hinweis. Weißt du, was es war? Ich liebe blaue Blumen. Ich hab ihr einen Handschmeichler aus Harz mit blauen Blumen drin mitgebracht, als Erinnerung. Sie hat sich sehr gefreut. Und schreibt mir einen Bericht: Ausgeprägte, ungewöhnliche kognitive Fähigkeiten. Stabile, ausgewogene Persönlichkeit.
Die letzten Sessions kann ich nutzen, wann ich mag. Ist das nicht toll?“

„Ich freu mich sehr für dich, mein Schatz! Beruhigt mich selbst noch mehr. Vor allem, weil du auf der Arbeit jetzt Ruhe hast. Lass uns essen. Ist fast fertig.“

Während des Abendessens, italienisches Spargel-Weißwein-Risotto, ich hab so Glück mit diesem Mann, sagt Tobi:

„Übrigens ist da eine Einladung vom Basler PSI-Kongress gekommen. Sieht irgendwie edel aus.“

„Was?“ Ich springe auf. „Wo?“

Er reicht sie mir rüber. Und steht auf, um Espresso zu machen.
Ungeduldig reiße ich das Kuvert auf. Oh, mein Gott. Das ist mein Glückstag heute.

„Tobi, ich habe einen Platz bekommen! In den Test-Workshops der neuen Forschungsgruppe Fernwahrnehmung/ außergewöhnliche kognitive Fähigkeiten. Stellt der Bund gerade mit der Helmut-Schmidt-Uni zusammen. Das ist ein Langzeitprojekt! Wenn das klappt, habe ich ein bestbezahltes zweites Standbein. Boah. Ich fass es nicht.“

Ich springe auf und falle ihm um den Hals.

„Ich freu mich sehr für dich. Habs mir schon gedacht. Aber erwarte bitte nicht, dass ich mit dir da hinfahre. Da sind so viele Irre unterwegs, ich würde Amok laufen, glaube ich. Dafür habe ich dann endlich mal ein ungestörtes Wochenende im Garten. Ohne diesen ganzen spooky Psi-Quatsch, der in diesem Haus inzwischen Einzug gehalten hat“.

Grinst wieder. Ich haue ihn. Er rennt weg.
Wir vergessen den Espresso.

 

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