Von Volker Liebelt

In der düsteren Welt des Jahres 2150, wo Freiheit nur ein flüchtiger Traum war, bewegte sich Alex mit entschlossenem Schritt durch einen verlassenen Korridor. In seiner rechten Hand trug er einen schweren Koffer mit einem metallischen Griff. Vereinzelte Neonröhren, deren schwaches Licht unregelmäßig von der Decke fiel, erhellten die Dunkelheit. Sie erzeugten lange, gespenstische Schatten. 

Als er die Tür des einzigen Zimmers auf dieser Etage erreichte, betrat er es und schaltete das Licht ein. Der Raum wirkte kühl und nüchtern, umgeben von grauem Metall und einem glatten Kunststoffboden. In der Mitte stand ein Glastisch, ausgestattet mit zahlreichen Datenanschlüssen, deren Lichter geheimnisvoll blinkten. Er wirkte wie das Herz eines rätselhaften Organismus.

Alex stellte seinen Koffer ab und holte einen Laptop mit transparentem Bildschirm heraus, der ein holografisches Display in der Luft erzeugte. Der Laptop funktionierte über neuronale Schnittstellen, die direkt an Alex‘ Gehirn gekoppelt waren.

Unvermittelt schwang die Tür auf. Ein schwarz gekleideter Mann betrat den Raum, eine junge Frau mit verbundenen Augen an seiner Seite. Mit einer schnellen Bewegung entfernte Alex ihre Augenbinde und gab dem Mann ein zustimmendes Nicken.

„In Ordnung. Warte unten. Ich rufe dich, wenn wir fertig sind.“ Nachdem der Mann gegangen war, wandte sich Alex der jungen Frau zu. 

„Immerhin durfte ich meine Handtasche behalten“, sagte sie mit ironischem Unterton. 

„Wir dürfen kein Risiko eingehen“, erklärte Alex. „Zephyrs Agenten sind überall. Aber wir haben unsere Verstecke, wie dieses hier.“

„Schon gut. Ich wusste, worauf ich mich einlasse“, erwiderte Elena und trat näher an den Tisch heran. Ihre Finger strichen über die glatte Oberfläche des Laptops. „Ist das Ihre Wundermaschine?“

Alex nickte. „Ich habe alles vorbereitet. Haben Sie den Chip?“

Elena lächelte und zog eine Parfümflasche aus ihrer Handtasche. „Sind Sie empfänglich für überraschende Düfte?

Alex hob eine Augenbraue. „Ich bin nicht hier für Smalltalk, Elena. Wir sollten uns besser beeilen.“

„Nur ein kleiner Test“, erwiderte Elena und sprühte geschickt in seine Richtung. Kaum hatte sie das getan, umhüllten ihn süße Noten von Honig und Karamell. Der Duft war angenehm, doch fast sofort folgte ein stechendes Gefühl in seinem Kopf. Seine Sicht verschwamm, und ein schwindelerregender Taumel ergriff ihn. Mit einem schwankenden Schritt nach hinten verlor er das Bewusstsein und stürzte schwer auf den kalten Kunststoffboden.

Elena beobachtete ihn. „Manchmal sind es die einfachen Tricks, die selbst den hartnäckigsten Widerstandskämpfer zu Fall bringen.“ Sie setzte sich an den Glastisch und aktivierte den Laptop. Um Zugang zu erhalten, benutzte sie einen Neuro-Adapter, der die biometrische Sicherheit des Laptops überlistete. Das holografische Display flackerte, bevor es sich stabilisierte, und Elena starrte auf die schwebenden Datenvisualisierungen, während ihre Finger über virtuelle Schaltflächen tanzten.

Nachdem sie Zugriff auf das System erlangt hatte, kopierte sie die Daten auf einen Nano-Chip, trennte die Verbindung zum Laptop und steckte den Chip in ihre Handtasche. Sie warf einen Blick auf Alex’ regungslosen Körper, bevor sie den Raum verließ.

Elena stieg vorsichtig die knarrenden, alten Holztreppen des Hotels hinunter. In der verwaisten Lobby hingen vergilbte Tapeten in Fetzen von den Wänden herab, und der Empfangstresen war unter einer dicken Staubschicht kaum zu erkennen. Es roch nach Moder und Verfall. Sie steuerte auf den Ausgang zu. Plötzlich trat eine Gestalt aus den Schatten. Es war der Mann, der sie an diesen verlassenen Ort gebracht hatte. 

„Wohin gehen Sie denn?“, fragte er.  

„Das sollten Sie doch wissen“, erwiderte Elena kühl. „Können wir jetzt fahren?“ Der Mann, überrascht von ihrer Entschlossenheit, zögerte kurz.

„Wo ist Alex?“

„In irgendeiner virtuellen Welt verloren“, lächelte Elena dünn. „Er sagte, ich würde allein nach unten finden. Können Sie mich jetzt endlich zurückbringen? Ich habe Kopfschmerzen.“ 

„Das vergeht“, sagte der Mann und verband ihr wieder die Augen. Er führte sie zu einem Auto, das neben dem verfallenen Gebäude parkte, und half ihr hinein.

„Sind Sie sicher, dass die Erinnerungen nicht zurückkommen?“, fragte Elena nach einer Weile.

„Absolut sicher“, bestätigte der Mann. „Darauf können Sie sich verlassen. Es ist erstaunlich, was Alex entwickelt hat. Er verdient ein Vermögen damit, mit den Erinnerungen der Menschen zu spielen, sie zu löschen, zu verstärken oder sogar nach Wunsch zu verändern.“

Einige Minuten später hielt das autonome Fahrsystem des Autos an. 

„Wir sind da“, verkündete der Mann. Elena entfernte die Augenbinde und reichte sie ihm. 

„Danke. Die U-Bahn-Station ist da drüben. Passen Sie auf sich auf.“  

Am Hauptquartier der Zephyr Corporation stieg Elena aus, überquerte die Straße und betrat das Gebäude. Es ragte über seine Umgebung hinaus und symbolisierte die immense Macht und den Einfluss des Megakonzerns. Der Portier nickte Elena respektvoll zu, als sie vorbeiging.

Elena näherte sich dem Hochgeschwindigkeitsaufzug, dessen Türen sich mit einem sanften Zischen öffneten. Sie fuhr in den achten Stock, wo Korridore von Glas gesäumt waren, das dynamische, sich ständig ändernde Ansichten einer digitalen Welt anzeigte.

Elena betrat das hell erleuchtete Büro. Das Herzstück war ein großer, polierter Schreibtisch, der das schwache Licht reflektierte. Dahinter saß ein Mann, der sie erwartungsvoll ansah. 

„Auftrag erledigt“, sagte Elena und reichte ihm den Nano-Chip. „Hier sind die Daten, die Sie angefordert haben.“

„Danke. Mein Team wird sich darum kümmern. Gab es Schwierigkeiten am Einsatzort?“

Elena schüttelte den Kopf. „Sie hatten recht. Die Lobby sah genau aus, wie auf den Fotos, die uns vorlagen.“

„Ausgezeichnet“, sagte der Mann. „Dann ist es Zeit, zur nächsten Phase überzugehen. Ich möchte, dass Sie dabei sind, wenn wir mit ihm sprechen.“

Als Alex allmählich zu sich kam, erhob er sich unsicher und näherte sich dem Tisch. Der Laptop, der seine Lebensader zu einer geheimen Welt der Daten gewesen war, stand vor ihm, geschlossen und leblos. Er öffnete ihn hastig und sah es – die Daten waren kopiert worden. Jede digitale Spur, die er akribisch gesammelt hatte, war verschwunden. 

Alex wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Zephyrs Agenten ihn fanden. Sie würden nicht ruhen, bis er ausgelöscht war, nur ein kleiner Punkt im weiten Meer ihrer Kontrolle. Die Erkenntnis, dass sein Kampf um Freiheit und Wahrheit vielleicht vergebens war, überwältigte ihn. Er taumelte zur Tür und verließ das Hotel. Draußen erwartete ihn eine dunkle und gefährliche Nacht.

Die Stadt wirkte wie ein düsteres Labyrinth. Ihre hohen Wolkenkratzer warfen lange, bedrohliche Schatten, die nach ihm zu greifen schienen. Die flackernden Neonlichter über ihm schufen eine gespenstische, ständig wechselnde Landschaft und tauchten die verlassenen Straßen in surreale Farbtöne. Der anhaltende Regen fiel in einem feinen Nebel und verbarg ihn vor den wachsamen Augen der allgegenwärtigen Überwachungskameras. Jeder Tropfen, der seine Haut berührte, ließ ihn erschaudern, eine Erinnerung an die kalte, erbarmungslose Realität. Das Pochen seines Herzens hallte in seinen Ohren wider und übertönte das ferne Summen der Maschinen, das nie aufhörte. Alex rannte durch die Gassen und schlüpfte durch die engen Lücken zwischen den monolithischen Gebäuden. Die Einwohner der Stadt, bloße Silhouetten im regennassen Dunkel, beachteten ihn kaum. Sie verbargen ihre Gesichter unter Kapuzenmänteln und kybernetischen Masken.

Ein schneller Blick nach oben enthüllte ihm die unheilvollen Schattenrisse von Zephyrs Überwachungsdrohnen, die geräuschlos durch den trüben Abendhimmel glitten. Ihre roten Lichter blinkten bedrohlich, als sie sich näherten. Sie richteten ihre kalten, gefühllosen Augen, wie Kameraobjektive, mit tödlicher Präzision auf ihn. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz seinen Rücken. Es fühlte sich an, als würden sich tausend elektrische Tentakel durch seine Nerven bohren. Sein Bewusstsein schwand, und er fiel auf den Asphalt, während die Agenten von Zephyr auf ihn zustürmten, die kalten Vollstrecker eines Systems, das keine Abweichung duldete.

In einem verborgenen Keller der Zephyr Corporation, geschützt vor neugierigen Blicken, wurde die Prozedur durchgeführt. Alex‘ bewusstloser Körper lag auf einem sterilen Operationstisch, umgeben von einem Team erfahrener Chirurgen und Technikern. Unter dem kalten Licht implantierten sie einen neuen Chip in sein Gehirn – einen Chip, der seine Identität und seine rebellischen Erinnerungen vollständig auslöschte und ihn zu einem gehorsamen Instrument der Zephyr Corporation machte.

Alex erwachte langsam aus der Narkose. Er öffnete die Augen und sah eine Gestalt vor sich stehen. Es war Elena. Sie trug eine weiße Uniform mit dem Zephyr-Logo auf der Brust, lächelte ihn freundlich an und streckte ihre Hand aus.

„Hallo, Alex“, flüsterte sie sanft. „Willkommen bei Zephyr.“

Seine Erinnerungen an seine wahre Identität schienen in einem Nebel zu verschwinden, und seine Gedanken wurden trüb und verwirrt. Elena half ihm aufzustehen und führte ihn zu einem Spiegel. Eine Narbe verlief über seinem linken Auge, ein sichtbares Zeichen der Operation. Seine Haare waren kurz geschnitten und seine Augen hatten einen metallischen Glanz. An einem Kleiderständer neben dem Bett hing ein makelloser schwarzer Anzug, an dessen Revers das Zephyr-Abzeichen prangte.

„Das ist jetzt dein neues Ich“, sagte Elena mit einem stolzen Unterton. „Du bist einer von uns.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. 

Er fühlte keine Emotionen, kein Zögern, kein Bedauern. Nur tiefe Loyalität, unerschütterliche Treue und absolute Hingabe an die Organisation, die einst sein Feind war. 

„Ja“, erwiderte er mit fester Stimme. „Ich bin Zephyr.“

 

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