Von Michael Voß

 

Kritisch betrachte ich mein sorgsam geschminktes Gesicht im Spiegel, entferne einen winzigen Krümel Wimperntusche und zupfe eine eigenwillige Augenbraue heraus, bevor ich mir selbst das okay gebe. Dann gehe ich in den Flur, wo ich mich zwischen den beiden mannshohen Spiegeln drehe. Das harte LED-Licht enthüllt schonungslos jeden Makel. Dieses Mal ist es eine Fluse auf meinem Minikleid zwischen den Schulterblättern, die ich mit der Fusselbürste erwische. Ein kleiner Spritzer Chloé Lumineuse auf die Handgelenke, fertig. Ich greife mir die Handtasche und verlasse die Wohnung. Im Treppenhaus wuchten zwei Männer ein Sofa um die Kehre des Treppenabsatzes. Offenbar gibt es in der Wohnung unter mir einen Mieterwechsel. Endlich verschwindet das Sofa in der Wohnung. Ich schiebe mich durch Männerschweiß und Geraune, vorbei an mit Umzugskartons beladenen Helfern. Überhöre eine noch anzügliche Bemerkung, dann bin ich draußen und gehe zum Auto. Mein Ziel ist ein Fünf-Sterne-Hotel in der Nachbarstadt, wo ein Ärztekongress stattfindet. Ich stelle den Mini Cooper in der Tiefgarage ab, ziehe die Slipper aus und schlüpfe in die schwarzen High Heels mit den goldschimmernden Stiftabsätzen.

 

An der Rezeption frage ich nach dem Tagungsraum, nehme den Lift in die zweite Etage und setze mich in eine nett gestaltete Nische mit Blick auf die Tür, hinter der der Kongress seinem Ende entgegengeht. Ein letzter Blick auf die Fotoserie im Handy, dann heißt es warten. Endlich wird der Raum geöffnet. Ich stehe auf und bewege mich in Richtung der Tür, aus der mir nun die Kongressteilnehmer entgegenkommen.

Albert sieht genauso aus wie auf den Fotos. Seine Augen kleben an mir, ich dagegen schaue artig zur Seite. Wir sind noch knapp drei Meter entfernt, da verlangsame ich meine Schritte und schenke ihm einen Augenaufschlag der allerfeinsten Sorte.

Erfreut und verwirrt zugleich, stolpert er kurz, fängt sich, bleibt beinahe stehen. Ich blicke wieder nach vorn und gehe weiter. Kleine Schritte, die Füße voreinander gesetzt, so kommt die Hüfte noch besser zur Geltung. Bevor ich am Ende des Ganges um die Ecke biege, halte ich an, drehe mich halb um. Wie erwartet, ist er stehengeblieben, um mir nachzustarren. Ich werfe ihm einen weiteren tiefen Blick zu, um die entscheidende Sekunde zu lang. Dann verschwinde ich, nehme den Lift nach unten zur Hotelbar. Wenn er zwei und zwei zusammenzählen kann, wird er gleich hier auftauchen. Ansonsten muss ich eine weniger feinsinnige Methode wählen.

Doch nach nicht einmal zehn Minuten betritt der gut erhaltene Endvierziger den schummrig beleuchteten Raum. Schnurstracks steuert er auf mich zu.

„Ist hier noch frei?“, fragt er und deutet auf den Barhocker neben mir.

„Ja.“

„Wir sind uns doch eben im Gang begegnet. Sind sie – bist du – öfters hier?“

„Nein, ich bin beruflich hier.“

„Dann haben wir etwas gemeinsam! Dr. Dr. Albert Kutscher, Herzchirurg. Ich war den ganzen Tag auf dem Kongress hier im Haus. Tolle Veranstaltung, international, nur Koryphäen, ungeheurer Input. Jetzt brauche ich was zum Runterkommen. Darf ich dich einladen? Ich darf doch du sagen, oder?“

Ich setze mein Ich-fühle-mich-geschmeichelt-Lächeln auf und rücke die Handtasche auf dem Tresen zurecht.

„Ein Mojito wäre wunderbar.“

Er bestellt mir den Cocktail sowie für sich einen Bourbon und legt los. Erzählt von seinen Heldentaten im OP, seiner Villa, seinem Ferienhaus, seinem Boot, seinem Cabrio, seiner Cessna, seinem Fitnessraum und Pool – den üblichen Kram halt.

„Wie war noch mal dein Name?“, fragt er, als er einmal einen Schluck Bourbon genommen hat.

„Prinzessin Chantal Claire vom Rosensteig.“

„Äh …“

Ich genieße diesen Moment. Albert der Wichtige ist ganz still. Das Rehlein entpuppt sich als Wesen mit Status und wird zur begehrenswerten Trophäe. Aber er kriegt keinen Ton mehr raus.

„Chantal reicht“, baue ich ihm eine Brücke.

Sofort ist er wieder der Großartige, nur dass er jetzt noch schwerere Geschütze auffährt und mir erzählt, dass seine Professur nur noch eine Frage der Zeit ist. Aber zur Sache kommt er nicht – vermutlich eingeschüchtert durch die Prinzessin. Also hole ich den Lippenstift aus der Handtasche, wobei ich ein paar Kondome mitziehe, die zu Boden fallen. Leider stockt er nun wieder, anstatt den Wink zu nutzen.

„Wärst du so freundlich?“, frage ich ihn mit warmer Stimme. „Selbst wenn ich was drunter anhätte, würde ich mich in diesem Kleid in der Öffentlichkeit nur ungern bücken.“

Schweißperlen erscheinen auf seiner Stirn und der daran angrenzenden Halbglatze. Aber er klettert vom Barhocker und liest die kleinen Päckchen auf. Seine feuchtwarme Hand will mir die Gummis überreichen.

„Behalte eins davon für gleich. Übrigens: Ich stehe drauf, wenn der Mann gerade aus der Dusche kommt“, sage ich.

 

Wir gehen auf sein Zimmer, wo er sofort in der Nasszelle verschwindet. Als ich das Wasser rauschen höre, verschwinde ich.

 

Am nächsten Morgen gehe ich wie gewohnt zur Uni. Nachmittags hole ich die Speicherkarte aus der in meine Handtasche eingeklebten Minikamera und lade das Video des gestrigen Abends auf den Laptop. Mit einem Software-Tool verpixele ich mein Gesicht. Dann maile ich den kleinen Film mit dem Betreff „Nicht bestanden“ an Alberts Gattin.

Bei der Gelegenheit schreibe ich auch gleich die Rechnungen für die Jobs der letzten Tage.

Alberts Frau: Vierhundert Euro für den Express-Live-Treuetest binnen zweier Tage mit Beweisunterlagen.

Emily reichte der SMS-Flirt mit ihrem Ivan, dreissig Euro.

Hannah hatte die Tinder-Variante gebucht, achtzig.

Carmen, ein heikler Fall. Die feurige Latina mit dem Ruf einer Hobbyhure macht sämtliche Kerle verrückt. Verlangt aber von ihrem Ramon, dass er sich einen Knoten reinmacht, bevor er das Haus verlässt. Fünfhundert, die akribische Dokumentation und Beweisführung waren sehr aufwändig. Nebenbei: Ramon war einer der acht Prozent, die bestanden haben.

 

Und da sind wir bei meinem Problem. Mein Nebenjob hat mir klargemacht, dass der überwiegende Teil der Männer und Frauen fremdgeht. Seit ich als Treuetesterin arbeite, habe ich keine Illusionen, aber auch keine Beziehung mehr. Eine Kombi, die meinen Konsum von romantischen Netflix-Serien und Schokolade deutlich gesteigert hat. Um die Schoki-Folgen zu kompensieren, habe ich ein Jahres-Abo im Fitness-Studio. (Eigentlich Betriebskosten, aber das Finanzamt erkennt meine Argumentation nicht an.)

 

Zum Abendessen öffne ich den Umschlag, den jemand unter meiner Wohnungstür durchgeschoben hat. Darin finde ich eine nette Einladung. Jens, der Neue im ersten Stock, lädt die Hausnachbarn zu einer Party am kommenden Samstag ein.

Ich kritzele ein „Bin gern dabei. Klara“ auf einen Zettel, den ich in seinen Briefkasten werfe.

 

Der Samstag beginnt mit Wohnungsputz, dann gehe ich shoppen und gönne mir ein weiteres Paar High Heels – mit Riemchen, Straß und roter Sohle. Kein schlechtes Gewissen gegenüber meinem Haushaltsplan – schließlich fördert der Schuhtick den Erfolg meiner Nebentätigkeit. (Leider ebenfalls nicht steuerlich absetzbar, seufz.)

 

Am Abend schlüpfe ich in Leggins und Sweatshirt, mache mir Smokey Eyes und einen Pferdeschwanz. Mehr nicht, bloß kein verführerischer Look. Geschenk einpacken (Brot, Salz und Kühlschrankmagnete), Treppe runter, Klingel drücken, schon geht die Tür auf. Gelächter und Musik schallen mir entgegen.

„Hallo! Du musst Klara sein!“, sagt der Mann vor mir.

 

Es ist ein Schock.

 

Der breitschultrige, gutmütige Typ ist jener Jens, den ich vor gut drei Monaten gecheckt habe. Der mit Abstand krasseste Live-Test meiner Laufbahn, denn Jens deckt über neunzig Prozent meines Beuteschemas ab. Ich musste höllisch achtgeben, und doch wusste ich zeitweise nicht mehr, was von mir gespielt und was echt war. Am Ende war es ohnehin egal, denn Jens bestand bravourös und ich habe ihn nie wiedergesehen.

Jetzt stehe ich als Nachbarin vor ihm und kriege keinen Ton raus. Stumm reiche ich ihm das Geschenk.

„Oh, danke. Komm rein. Prosecco?“

Ich nicke und nehme ein Glas entgegen.

Er runzelt die Stirn. „Sag, kennen wir uns nicht von irgendwoher?“

Meine Gedanken rotieren fieberhaft, suchen einen Ausweg. Keine Chance, in wenigen Sekunden wird er sich erinn … .

„Chantal Claire? Die heiße Braut, die genau an dem Abend im Tanzkurs auftauchte, als meine Frau nicht konnte? Die mich zu einem Absacker in diese kleine Bar geschleppt hat?“

Wieder nicke ich, diesmal niedergeschlagen.

Er lacht.

„Ist nicht wahr! Hab dich erst nicht erkannt, so schlicht in Shirt und Sneakern. Dass wir uns hier begegnen! Weißt du, meine Frau hat mir seinerzeit das Video gezeigt. Als Beweis, dass ich ihr untreu gewesen sei! Dabei war ja nix, außer dass ich zurückgelächelt habe. Erst da habe ich gecheckt, wie krankhaft eifersüchtig sie ist. Dank dir bin ich jetzt glücklich geschieden und habe ein Reset gemacht. Neue Stadt, neuer Job, neue Nachbarn. Prost Chantal, äh, Klara! Klara ist doch dein richtiger Name, oder?“

Ich nicke ein drittes Mal.

 

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