Von Anna-Lisa Winter
Der Vorhang geht auf, der Lichtkegel ist auf sie gerichtet. Für einen Moment genießt sie einfach nur das Licht, die Wärme und das tobende Publikum. Sie schließt die Augen und spürt die geballte Energie, die ihr entgegen schwappt. Dann hebt sie die linke Hand. Das Getöse ebbt ab, mal abgesehen von einzelnen Schreien der Verzückung. Ihre rot bemalten Lippen formen sich zu einem breiten Lächeln, zu dem sie nun das Mikrofon führt und ein „Hallo.“ hinein haucht. Abermals beginnt die Menge zu toben. Sie wirft ihren Kopf in den Nacken, sodass ihre roten Locken wie ein Wasserfall an ihren Schultern herunter tanzen und hebt die aneinandergelegten Hände, wie zum Gebet, weit nach oben. Ganz langsam nimmt sie wieder Haltung an und stimmt mit kräftiger Stimme das erste Lied an. Das Publikum stimmt mit ein, noch bevor das Schlagzeug den Takt aufnimmt und die Band die ganze Breite und Tiefe des Songs zum Ausdruck bringt. Das Glück breitet sich in ihr aus. Sie fühlt sich wie ein, gerade noch an der Luft zappelnder, Fisch der zurück ins Wasser geworfen wurde.
Nach dem Auftritt in der Kabine setzt die Erschöpfung ein und die Zweifel und die Einsamkeit. Sie wäscht sich die Schminke aus dem Gesicht, nimmt die Perücke ab und die Frau im Spiegel hat keine Ähnlichkeit mehr, mit der Frau die draußen auf der Bühne stand. Sie streift die Highheels ab und genießt die Freiheit ihrer Füße, aber gleichzeitig kommt sie sich klein und unbedeutend vor.
Als sie fertig ist in der Garderobe, schlüpft sie in ihren langen schwarzen Wollmantel, wickelt sich einen Schal um den Hals und macht sich auf den Nachhauseweg.
Der Wecker klingelt am nächsten Morgen um 7 Uhr. Unpünktlichkeit kann sie sich nicht leisten. Um 8:30 Uhr steht sie vor der großen Villa und tritt ihren Dienst an.
„Frau Sabrowski, bitte stauben sie doch auch die Cremedöschen ab, wenn sie das Bad putzen!“
„Entschuldigen sie, Frau Emanuel, das muss ich in der Eile vergessen haben.“
„Papperlapapp, geben sie mir mal den Lappen! Sehen sie, so macht man das. Und sie haben jede Menge Zeit! Denken sie das nächste Mal einfach dran.“
„Aber sicher, Frau Emanuel.“
Sie ringt nach Luft. Kiemenatmung. Ihre Lunge weigert sich. Sie will zurück ins Wasser!
„Frau Sabrowski, was ist los? Ein wenig zu sensibel?“
Sie lenkt ihre Gedanken auf das kommende Wochenende. An den kleinen Jazz-Keller, der sie gebucht hat.
„Geht gleich wieder, Entschuldigung.“
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