Von Susanne Sachs und Désirée Kander

Theresa ließ ihren Blick durch die bodentiefen Fenster auf den Ozean fallen und versuchte, die Schwimmer zu zählen, wie sie es immer tat, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Zwar war es ein unmögliches Unterfangen, bewegten sie sich doch zwischen den Wellen, über und unter der Wasseroberfläche dieser blauen Welt, dennoch beruhigte sie das friedliche Schauspiel. Sie hatte mindestens zehn unterschiedliche Köpfe ausgemacht, die immer wieder auf- und abtauchten, ehe sie nach dem flachen ovalen Kommunikationsgerät griff. Die glatte Oberfläche fühlte sich angenehm kühl an. Drei weitere Wasserratten kamen so nah, dass Theresa die waagerechten Pupillen ausmachen konnte. Lächelnd führte sie die freie linke Hand zum Herzen. 

Die Grußgeste war ihr noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen, noch immer absolvierte sie diese ungelenk, wie sie fand. Bei ihrer Mutter sah es jedenfalls anders aus, richtig flüssig. Theresa bewunderte deren Energie, die sie neuerdings auch als Diplomatin an den Tag legte. 

Plötzlich vibrierte der Gegenstand in ihrer Hand und sie presste zwei Finger darauf. 

 

Die Tränen waren versiegt, doch die Augen leer, als Paula ihre Tochter kontaktierte. Meist ließ sie Theresa in Ruhe, weil sie genug privaten Trouble um die Ohren hatte. 

Ausgerechnet jetzt hatte Paula einen Auftrag abgefasst, der zeitlich nicht verschiebbar war. Erstmals würde sie ohne Rückhalt auskommen müssen. Allein. 

Das Schicksal machte keinen Bogen um ihre Belange und hatte mit aller Macht zugeschlagen, sie in einen dunkel wabernden Abgrund gestürzt. Leben konnte so mühsam sein. Und nun? 

Tagelang hatte sie sich gesträubt, in eigener Regie öffentlich tätig zu werden. Wie vielen Überredungsversuchen sie widerstanden hatte, wusste sie nicht mehr. Schließlich war es einem Freund gelungen, sie umzustimmen. Sie konnte selbst kaum glauben, dass er sie aufgerüttelt hatte. 

Und er hatte recht, den Bitten der Bewohner von mehreren potenziell und einem unmittelbar bedrohten Planeten hatte sie auf Dauer nichts entgegenzusetzen. 

Ihre Gedanken folgten diesem Weg und schlagartig fuhr ein feuriges Schwert in ihre Eingeweide. Vielleicht hing die Existenz von Milliarden Wesen davon ab, wie sie zwischen den Welten vermittelte. 

„Theresa, stell dir vor, ich muss alleine mit den Vertretern dreier Planeten verhandeln, damit eine universelle Kommunikation zustande kommt.“ 

 

„Ich bin rund um die Uhr erreichbar.“ Theresa erinnerte sich an ein unerklärliches Gebilde im All, das Asteroiden verschlang. „Wir helfen dir gern.“ 

Dass es ihre eigene Mutter war, die jetzt daran mitarbeitete, dieses Problem zu lösen, wunderte sie nicht. Beteiligt war Paula längst, allerdings mehr in der Art einer tragenden Nebenrolle. 

Wie würde es ihr jetzt ergehen? Der bisherige Verhandlungsführer kämpfte ja derzeit einen anderen Kampf, im Krankenhaus, um sein Leben. 

Manchmal sah Theresa noch die überarbeitete Ärztin vor sich, die mit einem Bein in der Burn-out-Reha stand. Nicht, dass ihre Mutter den Beruf aufgegeben hätte. Paula war weiterhin medizinisch tätig, nicht überarbeitet, dafür mit Nebenverdienst. War überhaupt noch etwas wie gewohnt?  

„Weißt du schon, wie du vorgehst? Hast du einen Plan?“ Ihre Neugier war echt und musste auf ein tolerables Niveau gepresst werden, damit sie die Fragen nicht wie ein wilder Hund herausbellte. Vielleicht erfuhr sie endlich ein paar Details. Rein technisch gesehen, war sie involviert. 

 

„Eure beschleunigten Signale sind eine Meisterleistung und werden in der Konferenz erstmals genutzt.“ Paulas Stimme versagte beinahe, weil sie sich voll konzentrieren musste, um nicht an den Felsen auf ihren Schultern zu denken. „Ich soll unbedingt dieses Dreiertreffen leiten. Jemand wird mir zwar zur Seite stehen, doch derjenige war nie unmittelbar dabei gewesen.“ Sie schniefte leise. Die ganze Sache war nicht ihre Idee gewesen, doch sie hatte die Umsetzung von Anfang an mit ausgearbeitet. Nun musste sie dem Pfad allein folgen, weil sie das bekannte Gesicht für die Völker war. Zudem wusste sie genau, worauf es ankam. 

Auf einmal erstarrte sie. Musste sie sich vorbereiten? Und wenn ja, wie? Hingehen und vor dem Gerät reden wäre eine Sache, doch sie würde die Verhandlungen leiten müssen. Auf der anderen Seite hatte sie stets an den Einzelgesprächen teilgenommen. Ein Update auf dem Hinweg würde genügen, beschloss sie. Obwohl niemand bei ihr war, nickte Paula kräftig und wischte sich mit beiden Hände übers Gesicht. 

 

„Ich werde mich verfügbar halten“, antwortete Theresa lächelnd, um ihrer Stimme eine Extraportion Zuversicht zu verleihen. Ihre Mutter schlug sich gerade mit irrsinnig vielen Sorgen herum. Das hörte und wusste Theresa. Zeit, um ihre Gefühle zu verarbeiten, dürfte Paula jedoch kaum haben, da sie immer häufiger einspringen sollte, bisher bei weniger brisanten Angelegenheiten. Ob sie sich mit der Arbeit ablenken konnte oder dieselbe es nur schlimmer machte, wusste Theresa nicht genau. 

Grundsätzlich lohnte es sich, relevante Aufgaben zu übernehmen. Vor sich hinleben ging immer. Nein, dass war blöd ausgedrückt, man lebte gut. Stress endete in der Regel mit einer vorübergehenden Situation, schmerzhafter Verzicht weder möglich noch notwendig. Doch wuchsen Anerkennung und Einfluss, früher hätte Theresa es Macht genannt.   

Momentan wünschte sie sich bloß, dass der Erfolg ihrer Bemühungen Paula wenigstens ein kleines Lächeln abringen würde. So etwas musste doch zu schaffen sein. 

„Möchtest du vielleicht etwas mit mir gemeinsam unternehmen, wenn das Treffen durch ist?“ 

 

„Puh.“ Was mochte Theresa vorhaben? Paula wehrte sich gegen fast alles, was Unterhaltungswert hatte. Ein Gedanke blitzte wie eine Fackel auf. „Ich kümmere mich um einen Konsens zwischen den Welten und komme nach meinem Krankenbesuch für den restlichen Abend zu dir. Einfach im Sessel kauern und über ganz alltägliche Dinge schwatzen ─ das würde mir am ehesten helfen.“ In dem Trubel übermorgen wäre diese Aussicht tröstlich. Bestimmt nistete sie sich deshalb als lichter Schein in ihrer umwölkten Seele ein. Außerdem konnte sie nicht vorhersehen, wie sich ihr sehr spezieller Nebenjob in Zukunft auswirken würde. Auf irgendeine Weise könnte er sich auszahlen, eigentlich sogar sicher. 

Zunächst unbewusst gingen ihre Gedanken wieder neue Wege und sie hoffte, dass nicht ausgerechnet die Erde eine Zusammenarbeit verweigern würde. 

 

Theresa konnte in der Fensterscheibe das Strahlen ihres Spiegelbilds ausmachen. „Ich habe Bescheid gesagt. Du wirst abgeholt.“ 

Sie verbrachte den gesamten Nachmittag zu zweit, mit dem Kommunikator. Letzterer war immer bei ihr, im Bad und während des Essens. Und blieb stumm. Jede weitere Stunde atmete sie freier, weil keine Hiobsbotschaft aus dem Krankenhaus eintraf, weil Paula keinen außerplanmäßigen Ruf absetzte. Allem Anschein nach war ihrer beider Mikrokosmos stabil. 

Die selbstkreierten Snacks aus regionalen Gewächsen und einer Art Makrele hatte sie soweit fertig und arrangierte sie liebevoll auf den flachen Tellern, als Paula im Eingang stand. Endlich konnte Theresa ihre Mutter drücken, bevor sie in den Sesseln versanken. 

 

Gut, dass sie sich hier gehenlassen konnte. Paula stierte ins Leere, zurzeit war sie etwas empfindlich und dadurch geschlaucht. Trotzdem kehrten allererste Anzeichen eines frühlingshaften Erwachens zurück, die ihren Blick nun belebten und ihren Augen neuen Glanz verleihen würden. 

Der Besuch auf der Intensivstation war weniger deprimierend gewesen als die letzten Tage zusammengenommen und sie konnte von dem erzielten Konsens berichten. 

Ein wärmendes Gefühl breitete sich aus, das sie wie eine Decke festhalten wollte. Ihre Hände griffen ins Leere, noch. Hoffentlich. 

„Ach übrigens.“ Paula stützte sich auf die Ellbogen. „Die interplanetare Konferenz hat hervorragend funktioniert. Falls ihr jedoch eine Eingebung habt, wie die Signale noch schneller durch die Raumzeit reisen können, her damit. Ohne die Zwangspausen wären die Gespräche genial gewesen und die Absprachen einen halben Tag früher erledigt.“ Seufzend rappelte sie sich etwas hoch, begleitet von einem zittrigen Schauer, der ihr jedes Mal über den Rücken kroch, wenn sie an die rotgrimassigen Gesichter der Bewohner von der am ehesten bedrohten Welt dachte, ein sehr subjektives Empfinden. Als Verhandlungspartner waren sie auf eine besondere Weise entgegenkommend, wobei sie sich fragte, warum sie ausgerechnet auf ihre Vermittlung bestanden. Jedenfalls hatte sie selbst in die Wege geleitet, was für die interplanetare Mission notwendig war. „Ich bin überzeugt, dass das Unterfangen Früchte zur Verständigung trägt.“

 

Theresa schielte zu Paula, wobei ihre konzentrierten Züge verrieten, dass sie bereits über eine Verbesserung nachdachte. Sie ließ sich nach hinten fallen, froh über die gelöste Stimmung. 

Bei ihnen beiden begannen die Flügel im Geiste langsam wieder zu wachsen. Sie würden jede Bedrohung abwenden, ganz sicher, eng vereint. Und Paulas Engagement würde sich lohnen, auf alle Fälle für die Völker. 

Was persönlich dabei herauskäme, war Paula im Augenblick wahrscheinlich egal und doch umschlossen ihre Finger gerade die Daumen. „Vielleicht …“, wisperte sie. 

Unbewusst spiegelte Theresa das Verhalten ihrer Mutter und nahezu gleichzeitig erhellte ein Schmunzeln beide Gesichter. 

In diesem Augenblick schurrte das Kommunikationsgerät. Die Nachbarn hatten erneut gerufen. 

„Die seltsame Struktur nähert sich.“  

 

Version II 

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