Von Helmut Blepp

Freitagabend. Prokop hat noch Dienst und ist gefrustet. Michler hat Sonderurlaub gekriegt, weil seine anspruchsvolle Erbtante nach einer schwierigen Gallenoperation auf Pflege und menschliche Wärme angewiesen ist. Ein anderes Streifenteam wird den Kiez sichern, und er hat, völlig ungeplant, ein freies Wochenende. 

Olsen, der Revierleiter, ist einfach zu nachgiebig.

„Klar, Michler“, hat er gesagt. „kümmere dich um die Olle. Soll ich schuld sein, wenn sie dich enterbt?“ 

Prokop grübelt wegen der drohenden dienstfreien Tage. Seine Fußballmannschaft spielt auswärts. Der Bus ist schon lange ausgebucht. Da kann er nicht mehr aufspringen. Bleiben ein paar Biere im „Freistoß“ und vielleicht eine Skatrunde mit Dauergästen. Als eingefleischter Junggeselle hat er nun mal keine Gattin, die ihn zu Frondiensten im Garten oder zu fragwürdigen Vernissagen in Nobelvierteln vergattern könnte. Er rechnet mit Verlusten in zehntel Euro bei den Karten und ungleich mehr an Gehirnzellen durch die Schnäpse nach jedem Null-Ouvert. 

Aus solch düsteren Gedanken reißt ihn das Geräusch der aufschwingenden Reviertür. Leder-Ede tänzelt herein, einen farbenfrohen länglichen Karton unterm Arm.

Wie immer ist er eine Augenpracht, die knappe Lederweste über dem nackten Oberkörper mit den flächendeckenden Tattoos. Und seit neuestem ziert ihn ein üppiger Nasenring, der ihm über die Oberlippe hängt. 

„Der Notarzt tagt drei Straßen weiter“, sagt Prokop voller Empathie. „Kannst du mit dem Gebammel überhaupt noch essen?“ 

„Letzter Schrei“, entgegnet Ede. „Echt Gold natürlich.“ Er klappt den Ring auf den Nasenrücken. „Und voll beweglich.“

„Was liegt denn an?“, wechselt Prokop das Thema. „Haben sie dir wieder die Schaufensterpuppen geklaut?“ 

„Weit gefehlt, Herr Chefwachtmeister! Das passiert mir nie wieder. Ich habe die Püppchen ans Gitter des Kellerfensters gekettet. Ich bin eigentlich nur hier, um Ihnen ein kleines Dankeschön vorbei zu bringen, weil Sie doch meine Latex-Ständerinnen zurückermittelt haben.“ 

Er stellt das Päckchen auf den Tresen.

„Ein Zaubertrank, fünfzehn Jahre in schottischen Kellern gereift. Labsal für die gestresste Polizistenseele.“ 

„Also Beamtenbestechung“, konstatiert Prokop brummig. Aber er deponiert den Whisky in Bereiche außerhalb der öffentlichen Sicht. 

„Und, Ede“, fragt er dann, „was machen die Geschäfte?“ 

„Ich kann echt nicht klagen“, sprudelt es aus dem heraus. „Die Leute reißen mir die Sex-Spielzeuge nur so aus dem Regal. Und meine Latex-Kollektion ist ein Selbstläufer. Morgen habe ich sogar einen Termin in Quickborn. Das muss man sich vorstellen! Der Typ will Glitzerdessous, die sich seine Girls beim Tanz an der Stange vom Leib schälen können. Und der Laden ist groß! Viele Girls!“ 

„Table Dance“, wirft Prokop skeptisch ein. „Ist das nicht schon lange out?“

„Nicht in Quickborn“, winkt Ede ab. „Da passiert grundsätzlich alles zehn Jahre später.“ 

Einen Moment spielt er verträumt mit dem Piercing an seiner rechten Brustwarze. Dann teilt er das Ergebnis seiner Überlegungen in Form einer Frage mit.

„Haben Sie morgen schon was vor? Ich nehme Sie gerne mit in den Club. Kleine Zeitreise, Sie verstehen?“ 

„Ich könnte es vielleicht einrichten“, tut Prokop zögerlich. „Wann soll es denn losgehen?“ 

„Ich schließe den Laden um sieben. Seien Sie pünktlich!“

 

Das Etablissement mit dem schönen Namen Paradise entpuppt sich als ziemlich retro. Schummrige Nischen mit viel rotem Plüsch, eine lange Bar aus imitiertem Mahagoni und protzig glänzendem Messing, alle Wände mit Flitterkram verziert, der wohl orientalisch wirken soll. Inmitten dieses schwülstigen Ambientes thront die kleine Bühne mit der obligatorischen Stange. Also Dance ohne Table. 

Gleich als sie angekommen sind, hat Leder-Ede seinen Begleiter auf einem Barhocker platziert und ist mit den Worten „Das Geschäft geht vor“ hinter einer gepolsterten Tür neben dem Tresen verschwunden. 

Prokop fühlt sich in dem gutbesuchten Club recht verloren. Ihm fällt auf, dass ungewöhnlich viele Frauen im Publikum sind, manche in Herrenbegleitung, einige aber auch in kichernden Mädels-Grüppchen. Auf die Rückkehr Edes wartend, nippt er ab und zu an seinem Zwanzig-Euro-Bier und verfolgt das Programm. Die Tänzerinnen sind alle hübsch, tanzen zu den unterschiedlichsten Beats und winden sich dabei in Posen, die die Rundungen ihrer Körper besonders vorteilhaft zur Schau stellen sollen, aber nur eine der Künstlerinnen zeigt tatsächlich einige artistische Einlagen an der Stange. 

Alles ganz nett, denkt sich Prokop. Nach der vierten Nummer wird es ihm jedoch langsam fade. Gerade hüpft die schwarzhaarige Suleika unter freundlichem Applaus mit wippenden Brüsten von der Bühne, da taucht auch schon wieder der Conférencier auf, ein kleines Dickerchen mit Fistelstimme, kostümiert als Haremswächter. 

„Kommen wir zum Höhepunkt des Abends“, flötet er im Falsett, und die Zuschauerinnen toben vor Begeisterung. 

Das muss ja etwas ganz Besonderes sein, vermutet Prokop. 

„Wir haben weder Kosten noch Mühe gescheut, um auch der Damenwelt glückliche Momente zu verschaffen“, quietscht der Dicke jetzt. „Meine Damen – und natürlich auch die geneigten Herren: Erleben Sie jetzt die deutsche Premiere einer Weltsensation!“ 

Er macht eine gekonnte Kunstpause. Die Frauen sind außer Rand und Band, pfeifen, brüllen und stampfen mit den Füßen. Dann fährt er süffisant lächelnd fort: 

„Wir wissen nicht, was der Faun am Nachmittag macht, aber am Abend, das versichere ich Ihnen, ist er HIER!“ 

Aus den Lautsprechern erklingt ein blecherner Tusch. Die Lampions an der Decke werden gedimmt. Nur die Bühne ist jetzt noch in rotschimmerndes Licht getaucht. Ein Moment der absoluten Stille folgt. Und dann springt eine unfassbare Gestalt ins Scheinwerferlicht, ein mystisches Wesen, nicht von dieser Welt. Das Publikum, ja, tatsächlich auch viele der anwesenden Männer, verfällt in hysterisches Geschrei. 

Auch Prokop muss sich eingestehen, dass er beeindruckt ist. Dieser Auftritt schlägt alles, was er vom Kiez her kennt. Aufmerksam mustert er den Burschen auf der Bühne. Ein Modellathlet im goldenen Paillettenslip, kein Gramm zu viel auf den Rippen. Aber was für eine Fresse, Himmel noch mal! 

Dieses Fabelwesen trägt einen glatten schwarzen Kinnbart. Die Haut seines Gesichts ist blutrot gefärbt, Augen und Mund fett mit Mascara konturiert. Aus seiner gefurchten Stirn vor dem zurückgegelten Haaransatz ragen zwei angriffslustig vorgereckte Hörner. 

Brüllend wirft der Unhold seinen Kopf hin und her, zischt dann feucht in die Menge, die sich nun stehend um das Podest geschart hat. Wohliges Kreischen einer Dame erschallt ein ums andere Mal.

Und dann setzt die Musik ein.

Ravels Bolero, erkennt Prokop. Aber eine gekürzte Fassung, denn die Holzbläser senden ihre hypnotische Melodie bereits über dem treibenden Rhythmus aus.

Der Faun beruhigt sich. Langsam schwingt er seine Arme im Takt, dreht eine verspielte Pirouette und pendelt breitbeinig seinen Oberkörper aus. 

Die Zuschauerinnen und Zuschauer nehmen den Takt auf. Alle klatschen. Eine Frauenstimme ertönt. 

„Ausziehen!“ 

„Ja, ausziehen“, nimmt eine andere die Forderung auf.

Dann skandieren plötzlich alle: „Ausziehen! Ausziehen! Ausziehen!“ 

Der Saal wird zum Tollhaus.

Der Faun tanzt weiter wie in Trance, aber ein sardonisches Lächeln spielt um seine Lippen. Langsam lässt er seine Rechte sinken bis unter seinen Nabel, verweilt einen Augenblick am Bund seines Slips und lässt mit einer lasziven Bewegung seine Hand darin verschwinden. 

Stöhnen aus der Menge. Eine Dame im grünen Abendkleid versucht, die Bühne zu stürmen, wird aber geistesgegenwärtig von zwei Herren reiferen Alters zurückgehalten. 

Die Musik schwillt an. 

„Zieh blank“, wird jetzt verlangt. „Verdammt, zieh endlich blank!“ 

Und in der Tat reißt sich der Faun plötzlich mit einer entschlossenen Bewegung sein einziges Kleidungsstück vom Leib.

Jubel brandet auf. Schrille, sich überschlagende Stimmen. 

Der teuflische Tänzer fasst sich ans Gemächt und lässt die Muskeln seines Hintern spielen, so dass sein Becken rhythmisch vor und zurück zuckt. Langsam und graziös dreht er sich dabei, damit alle seine Pracht bewundern können. 

Da bemerkt Prokop, dass dieser Halbgott doch tatsächlich eine Tätowierung auf der linken Arschbacke hat. Ihm schwant Böses. Er schiebt sich durch die Menge näher zur Bühne. Als der Faun ihm den Rücken zuwendet, schaut er genau hin. Das Tattoo zeigt eine Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen. Fassungslos dreht sich Prokop um und schleppt sich zurück an den Tresen.

„Na, der kann was erleben am Montag“, murmelt er vor sich hin. „Von wegen, kranke Erbtante.“

 

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