Von Matthias Hermann

 

Carsten kam aus Frankfurt an der Oder und trug eine dunkelblaue Jeans, Schnürstiefel, eine grüne Bomberjacke und eine graue Wollmütze und wohnte in einem besetzten Haus in Berlin-Lichtenberg.

„Ist er ein Skinhead?“ fragte sich René. Er schwitzte. Hatte Carsten seine Zeitung nicht wie einen Baseballschläger zusammengerollt. Bereit loszuschlagen auf die acht schwarzen Männer aus Benin mit dem weichen Händedruck. Klar war: Er musste dazwischen gehen, wenn Carsten auf die Kollegen aus Benin losgehen sollte. Er musste Zivilcourage zeigen, denn sonst war niemand hier, der ihnen helfen konnte. Auf dem Platz vor dem Palast der Republik an diesem grauen Montagmorgen in Berlin-Mitte.

Endlich hörte René hinter sich ein: „Guten Morgen!“

Carsten, die acht Männer aus Benin und René drehten sich um. Vor ihnen stand ein kleiner Schnauzbart in einer violetten Windjacke.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin! Ihr seid die Kollegen von der studentischen Arbeitsvermittlung?“

„Ja, die sind wir!“ antwortete René.

„Die Wartezeit muss auch bezahlt werden!“ sagte Carsten.

„Klar! Klar! Ich bin Mike! Aus Rostock!“ erklärte Mike und schüttelte allen die Hände.

„Na, dann wollen wir mal!“ sagte er dann und führte die Männer in den Keller der Hochschule für Musik Hanns Eisler, von der ein unterirdischer Gang hinüber in den Keller des Palastes der Republik führte.

„Und ihr reißt Euch jetzt die Anlage unter den Nagel! Schöne Bescherung!“ schimpfte der Hausmeister der Musikhochschule und geleitete sie durch die Sicherheitsschleusen, wo er jedes Mal Zahlencodes in kleine Tastaturen neben den Stahltüren eintippte. René versuchte sich die Nummern zu merken, denn er dachte: „Verdammt! Wie komme ich da wieder raus, wenn ich mir ein Mittagessen holen will!“

Doch nach 1408, 2003 und 7779 machte sein Kurzzeitgedächtnis nicht mehr mit und er musste kapitulieren.

Carsten lief jetzt neben Mike knapp hinter dem Hauswart. Dann kam René und hinter ihm die Männer aus Benin.

„Flapp! Flapp! Flapp!“ klopfte Carsten die zusammengerollte Zeitung in seine geöffnete Linke, während sie durch die Gänge liefen. Wie so der Einpeitscher auf einer Galeere, dachte René.

Ihn überkam große Lust, sich in den Rhythmus des Klopfens hineinfallen zu lassen.

„Flapp! Flapp! Flapp!“ stapfte er hinter Carsten her.  

Doch da endete der Beat und Carsten fragte Mike: „Wie ist das mit dem Asbest hier? Bekommen wir wenigstens Masken?“

„Ist doch alles Kokolores!“ mischte sich der Hausmeister ein. „Bin hier seit Jahren drinne, und nüscht ist passiert!“

Mike kratzte sich am Kopf und sagte: „Ich werde mich mal erkundigen.“

„So, da wären wir!“ verkündete der Hauswart jetzt. Vor ihnen lagen im grauen Novemberlicht acht Holzkegelbahnen. Durch verschmierte Scheiben konnte man auf die träge Spree blicken.

„Dit war die beste Bowling-Bahn der Republik!“

„Wow!“ rief Carsten, rannte los, sprang auf die Bahn und schlitterte darüber.

„Ha! Ha!“ lachte Mike. „Dann mal los, Leute! Die Bahn muss übermorgen in Rostock sein! Ich schraub sie los, und ihr tragt die Platten darüber, stapelt sie auf und heute Nachmittag kommt der Lkw und holt sie ab!“

Und schon hatte Mike seinen Akkuschrauber gezückt und legte los. Carsten klopfte weiter mit der Zeitung sein „Flapp! Flapp! Flapp!“, die Männer aus Benin zogen ihre wattierten Anoraks aus, und René dachte daran, wie er vor zwölf Jahren als 14-Jähriger auf Klassenfahrt hier mit Kerstin gesessen hatte.

 

Sie hatten Zigarillos mit gelben Kunststoffmundstücken geraucht und Wodka getrunken. Der Kellner war für sie gesprungen und hatte sie gesiezt. Die 25 Ostmark Zwangsumtausch machten es möglich, dass sie hier den dicken Max markieren konnten, denn alles kostete nur Pfennige.

Kerstin hatte ihren ersten Kaffee getrunken und dann ganz plötzlich aufs Klo gemusst. Mann, war ihr schlecht gewesen. René hatte ihr über die zerfetzte Kutte mit dem No-Future-Button gestrichen, während sie Soljanka, Eisbein mit Leipziger Allerlei und Grütze erbrochen hatte. Danach hatten sie sich zum ersten Mal geküsst, und René hatte ihre Galle zartbitter auf seiner Zunge geschmeckt, und die Sicherheitsnadel in ihrer Wange hatte über seine Pickel geschabt. Irgendwann hatte die Toilettenfrau gegen die Tür gehämmert: „Kommen Se raus, sonst ruf ick die Volkspolizei!“

„Los“, hatte Kerstin geflüstert, ihren Springerstiefel auf den Toilettenkasten gesetzt und sich die Trennwand hinaufgestemmt. Dann waren sie und René zwei Kloabteile weitergeklettert und hatten auf ihrer Flucht noch den Teller mit den Klo-Münzen abgeräumt. Danach waren sie ein Stück flussabwärts Richtung Deutscher Dom gelaufen und schließlich eine kleine Treppe runter zum Wasser gestiegen.

Unten angekommen hatte Kerstin plötzlich eine Flasche aus ihrer Jacke gezogen und gelacht: „Hast Du gar nicht mitbekommen? Die gehört der Klofrau, der alten Schnapsdrossel! He! He!“ Und schon hatte sie den Verschluss abgeschraubt und in großen Schlucken aus der Flasche mit dem Etikett „Kristall Wodka“ getrunken.

„Hier probier mal?“

René hatte drei Schlucke getrunken. Dann war die Flasche leer. Pures Feuerwasser. Sein Kopf wurde ganz weich und er hatte sich plötzlich sehr leicht gefühlt.

„Und was machen wir jetzt?“ hatte Kerstin gefragt und ihren Kopf auf sein Knie gelegt. René wollte ihre struppigen, orangen Haare streicheln, aber er hatte plötzlich vier Kniee, und auf jedem hatte eine Kerstin gelegen, und immer griff seine Hand ins Leere. Dann hatte er gesagt: „Wir machen mit der leeren Flasche eine Flaschenpost!“

„Geile Aktion! Und wem schicken wir die?“

„Keine Ahnung! Das weiß man vorher doch nie!“

Kerstin lachte. „Stimmt! Los, ich weiß was! Ich schreib was!“

„Ich schreib auch was, aber Du darfst es nicht lesen!“

„Du darfst meins auch nicht lesen!“

Dann hatten sie auf die Rückseiten ihrer DDR-Tagesvisa ihre Botschaften notiert.

„Los, schieb sie rein!“

„Mit den Kaugummis verkleben wir den Verschluss!“

Dann war ihre Flaschenpost fertig gewesen.

„Ich werfe sie!“ hatte Kerstin gerufen.

„Und ich finde sie!“ hatte René verkündet.

„Du spinnst ja!“ hatte Kerstin gerufen und die Flasche in hohem Bogen in die Spree geworfen. Sie war mit einem „Plopp“ in der Mitte des Flusses gelandet.

„Für ein Mädchen kannst du echt gut werfen“, hatte René gesagt, woraufhin ihn Kerstin in die Seite geboxt hatte.

Dann hatten sie die Flasche noch ziemlich lange beobachtet, denn sie schien fast im Wasser stillzustehen.

„Die kommt nirgendwo an!“ hatte Kerstin erklärt.

„Komm! Wir müssen los! Sonst kriegen wir Ärger mit Herrn Lehmann“, hatte René gesagt und  sie an der Hand genommen.

 

Das war 12 Jahre her. Und jetzt saß René mit den acht Männern aus Benin und Carsten wieder an dem Fluss und machte Mittagspause. Mike hatte Pizzen bestellt und sie mampften alle drauflos.

„Ah, hab ich einen Hunger!“ sagte Carsten und griff sich seinen zweiten Pizzakarton.

„He, Du! Das ist meine!“ sagte einer der Männer aus Benin.

„Nun mach mal halblang! Ihr habt die ganze Zeit nur faul rumgestanden und uns arbeiten lassen! So geht’s nicht!“

„Du, das ist meine Pizza!“

„Leck mich am Arsch!“

Damit schien für Carsten die Sache klar. Er klappte den Deckel auf und fischte eine lange Peperoni von der Pizza.

„He, Du! Das ist meine Pizza!“

Fünf Männer aus Benin standen jetzt um Carsten, der ungerührt seine zweite Pizza futterte.

„Leck mich am Arsch!“

Einer der Männer aus Benin versuchte sich den Karton zu schnappen. Doch Carsten zog ihn rechtzeitig zur Seite. Dann hatte ein anderer plötzlich eine Flasche in der Hand, die am Ufer gelegen hatte und zog sie Carsten über den Schädel. Die Flasche zerbarst, Carsten stöhnte und blutete und war seine Pizza los. Und aus der zerbrochenen Flasche segelten zwei

Zettel vor Renés Füße. Er hob sie auf. Er las: „Ich finde Kerstin toll und möchte mit ihr gehen!“ Und auf dem anderen Zettel stand: „Krieg den Palästen! Friede den Hüten!“

René musste lachen.

„Mann, was lachst du so blöde?“, schimpfte Carsten. „Wir müssen die Typen klatschen!“

„Hier, komm! Nimm meine Pizza. Und gut ist“, sagte René.

 

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